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Bereits verlegte Stolpersteine



Anna Lehmann * 1878

Heilwigstraße 46 (Eimsbüttel, Harvestehude)


gedemütigt / entrechtet
Flucht in den Tod
06.01.1942

Weitere Stolpersteine in Heilwigstraße 46:
Dr. Berthold Jungmann, Clara Lehmann

Anna Lehmann, geb. 8. 9.1878 in Linden/Hannover, Suizid am 6.1.1942 in Hamburg
Cläre (Clara) Lehmann, geb. 22. 9.1874 in Linden/Hannover, Suizid am 6.1.1942 in Hamburg

Heilwigstraße 46

Die Vorschule von Cläre Lehmann in der Heilwigstraße war in Hamburg eine Institution. In der Zeitschrift für jüdische Familienforschung "Maajan – Die Quelle" ist bereits 2005 ein Artikel von Ursula Randt darüber erschienen. Dieser wird hier mit freundlicher Genehmigung des leitenden Redakteurs Daniel Teichman leicht gekürzt wiedergegeben.

Zuvor noch einige Ergänzungen:
Cläre und Annas Eltern, der Pferdehändler Gottschalk Lehmann und seine Frau Käthe, geb. Davis, hatten nicht nur die im Text angegebenen drei Töchter, sondern auch einen Sohn, den am 18. September 1867 ebenfalls in Linden geborenen Richard. Auf seiner Kultussteuerkartei ist als Beruf "Agent" angegeben, d. h. er führte eine Handelsvertretung. Wahrscheinlich betrieb er diese gemeinsam mit der 1877 geborenen Grete, denn für sie lautet die Berufsbezeichnung "Agentin". Womit die Geschwister handelten, ist unbekannt. Alle vier Lehmann-Kinder waren ledig und wohnten zusammen in der Heilwigstraße. Richard starb im März 1940.

Innerhalb der Hamburger Jüdischen Gemeinde hatten sich ein orthodoxer, ein neoliberaler und ein liberaler Kultusverein konstituiert. Cläre Lehmann gehörte dem letzteren an und beteiligte sich aktiv an dessen Gemeindearbeit, wie dem Protokoll der Mitgliederversammlung vom 14. Dezember 1937 zu entnehmen ist. Im Mai 1939 musste sich die 61-jährige Anna Lehmann einem Verhör der Zollfahndung unterziehen. Der Vorwurf lautete "Devisenvergehen". Im Ermittlungsbericht hieß es: "Aufgrund einer Mitteilung der Gestapo Hamburg, wonach von der jüdischen Privatschule Lehmann, Heilwigstr. 46 aus Brillanten verschoben werden sollten, wurde die genannte Wohnung durchsucht. Ein Beweis für die ... Beschuldigung wurde nicht gefunden. ... Bei der Durchsuchung wurden lediglich 110 Tschechische Kronen gefunden, die Frl. Lehmann von ihrer letzten Reise zu Freunden in die Tschechoslowakei im Jahre 1936 oder 37 mitgebracht haben will. Diese Kronen will Frl. Lehmann vollständig vergessen haben. Frl. L. wurde zu der Angelegenheit gehört und ist bereit, sich einer durch die Devisenstelle festzusetzenden Geldstrafe hinsichtlich der Nichtanbietung zu unterwerfen."

Anna Lehmann kam "wegen ihres hohen Alters und wegen des geringen Betrages" mit einer Verwarnung und einer Geldstrafe in Höhe von 11 RM (dem Gegenwert der Tschechischen Kronen) davon.

Denunziation, Hausdurchsuchung, Verhör, Strafe – die Erinnerung an diese verstörenden Ereignisse hat bestimmt dazu beigetragen, dass sich die Schwestern, als Anna Lehmann im Januar 1942 eine Vorladung zur Gestapo erhielt, einer weiteren Demütigung entzogen und sich das Leben nahmen.

Mehrere der in diesem und anderen "Stolpersteinbüchern" beschriebenen Menschen hatten Verbindung zu Anna und Cläre Lehmann: Annemarie Deutschländer und die Leser-Söhne waren ihre Schüler, Paul und Anna Mendel verbrachten die letzten Monate vor der Deportation als Untermieter in ihrem Haus.

Das Leben ihrer Kollegin Thekla Bernau, auch im Artikel von Ursula Randt erwähnt, wird in "Stolpersteine in Hamburg-Winterhude" beschrieben, ebenso wie das ihrer Mieterin Anna Levy. Die Lehrerin Antonie Schär, Ehefrau des Widerstandskämpfers Alfred Schär, unterrichtete von 1930 bis 1934 bei Cläre Lehmann. Sie und ihr Mann hatten 1934 für einige Zeit jüdische Kinder aus der Vorschule in Pension. Unter anderem deswegen wurde dem Ehepaar "staatsfeindliche Haltung" vorgeworfen. Das Schicksal der Familie Schär ist im Band "Stolpersteine in Hamburg-Wandsbek mit den Walddörfern" nachzulesen. Im selben Band findet sich eine Tagebuchnotiz von Theodor Tuch über den Umzug des Ehepaars Mendel in die Pension der Lehmanns.

Ursula Randt erwähnte die Vorschule in "Die Talmud Tora Schule in Hamburg", und Werner Skrentny schrieb in "Das Eppendorf-Buch" über das Haus Heilwigstraße 46.

Nach und nach kamen so etliche Puzzlestücke über die Lehmann-Schwestern zusammen, die über ihr Leben Zeugnis ablegen und sie so vor dem Vergessen bewahren.

© Sabine Brunotte

Quellen: 1; StaH Polizeibehörde Unnatürliche Sterbefälle, 1942/158; StaH 522-1 Jüdische Gemeinden, 838 Jüd.-Lib. Gemeindeverein e. V.; StaH OFP 314 – 15 R 1939/1027; Hamburgische Biografie, Bd. 2, Franklin Kopitzsch (Hrsg.) 2001; Weidlich/Skrentny, (Hrsg.), Das Eppendorf-Buch, 1991, S. 83f.; Randt, Die Talmud Tora Schule, 2005.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".


Die Cläre Lehmann-Schule von Ursula Randt

In Linden bei Hannover war Cläre Lehmann 1874 zur Welt gekommen, und dort war sie mit ihren Schwestern Anna und Grete aufgewachsen. Sie besuchte eine "Höhere Töchterschule" und danach das Lehrerinnenseminar, an dem sie das Examen für mittlere und höhere Mädchenschulen bestand. Bald zog die ganze Familie nach Hamburg, wo Cläre an mehreren "Höheren Töchterschulen" pädagogische Erfahrungen sammelte. Dann lockte eine besondere Aufgabe Cläre und Anna Lehmann nach England: In Manchester übernahm Cläre die Leitung einer "Preparatory School", die auf die "Manchester High School for Girls and the Manchester Grammar School" vorbereitete. Zur Schule gehörte ein Pensionat für deutsche Mädchen, und dort arbeitete Anna. Die glückliche Zeit nahm beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein jähes Ende. Überstürzt mussten die Schwestern mit ihren deutschen Schülerinnen nach Deutschland flüchten.

Cläre stellte sich der Hamburger Schulbehörde zur Verfügung, die Lehrkräfte dringend brauchte, da zahlreiche junge Lehrer eingezogen worden waren. An den Oberrealschulen Eppendorf und Uhlenhorst sprang sie für männliche Kollegen ein und hatte offenbar Freude an der pädagogischen Arbeit mit Jungen. 1918 beschloss sie, sich selbstständig zu machen. Ihre schöne Stadtvilla in der Heilwigstraße 46 bot genug Platz für mehrere kleinere Klassen, und die Schulbehörde erteilte die Genehmigung zur Einrichtung einer privaten Grundschule. Ein Schulrat urteilte über Cläre Lehmann: "Sie ist eine erfahrene und lebhafte Lehrerin, die den Ton für die recht muntere Kinderschar gut zu treffen weiß und die Kinder zu beschäftigen versteht."

Die neue Cläre Lehmann-Schule gewann rasch an Beliebtheit. Mit nur 14 Kindern hatte Cläre 1918 angefangen, doch dann stieg die Zahl von Jahr zu Jahr, betrug 1924 schon 90 und war 1930 auf 110 angewachsen, obwohl höchstens 95 zugelassen waren. Mehrere Kolleginnen und Kollegen arbeiteten mit der Schulleiterin zusammen. Sechs- bis zehnjährige Jungen und Mädchen, christliche und jüdische Kinder, lernten und spielten miteinander und sorgten in der vornehmen Wohngegend für fröhlichen Lärm. Der Anteil evangelischer Schüler und Schülerinnen überwog bei Weitem. Nach 1933 gab es einen verstärkten Zustrom "nichtarischer" Kinder, deren Eltern froh waren, sie einer von einer Jüdin geleiteten Schule anvertrauen zu können und sie vor Diskriminierung geschützt zu wissen. Im Juli 1937 vermerkte die Schulbehörde, die Cläre Lehmann-Schule sei in der Um­wandlung zu einer rein jüdischen Grundschule begriffen, zu einer "Filiale der Talmud Tora Schule". Noch wurden in vier Klassen 70 Kinder unterrichtet; im Mai 1938 waren es nur noch 52. Zu dem kleinen Kollegium gehörte Thekla Bernau. Sie war Jüdin im Sinne der "Nürnberger Gesetze", jedoch der Konfession nach evangelische Christin. Dieses Schicksal teilte sie mit mehreren ihrer Schülerinnen und Schüler.

Mitte Dezember 1939 erhielt Cläre Lehmann ein Schreiben aus Berlin. Die Schulabteilung der "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland", einer jüdischen Zwangsorganisation, musste ihr mitteilen, dass ihre Schule zum 1. Januar 1940 aufzulösen sei. Die Kinder seien der "Volks- und Oberschule für Juden" in der Carolinenstr. 35 zuzuführen. Vergeblich wies sie darauf hin, dass die meisten Kinder ihrer Schule ihrer christlichen Konfession wegen ungeeignet für die Eingliederung in die orthodox geführte jüdische Schule seien. Außerdem waren mehrere ihrer Schützlinge behindert und brauchten individuelle Zuwendung und Förderung in kleinen Gruppen. Nichts half. Nach mehr als 20 Jahren erfolgreicher Arbeit musste die Cläre Lehmann-Schule schließen.

Wohl schweren Herzens entschlossen sich Cläre und Anna Lehmann, in ihrem Haus eine Pension für jüdische Mieter einzurichten, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Nur ein Zimmer im oberen Stockwerk behielten die Schwestern für sich selbst. Ihrer Schwester Grete blieb das Schlimmste erspart: sie war im Sommer 1939 gestorben. Unter ständig wachsenden Schikanen und Repressalien wurde das Leben jüdischer Bürger, die Deutschland nicht rechtzeitig verlassen konnten, von Tag zu Tag unerträglicher. Seit dem 15. September 1941 mussten auch Cläre und Anna den gelben Stern tragen. Dann brach das Entsetzen der Deportationen nach dem Osten über die jüdischen Hamburgerinnen und Hamburger herein: Im Spätherbst 1941 wurden Tausende mit vier großen Transporten in Elend und Tod geschickt, unter ihnen Mitbewohner des Hauses in der Heilwigstraße. Auch Thekla Bernau, die langjährige Kollegin und Freundin, erhielt den "Evakuierungsbefehl". Das Ziel ihrer letzten Reise hieß Riga.

Im Staatsarchiv gibt es eine weitere Akte, die über die letzten Tage im Leben der Schwestern und über ihr Sterben Aufschluss gibt. In großen Buchstaben steht auf dem Aktendeckel zu lesen: Staatliche Kriminalpolizei. Leichensachen! Ein Kriminalkommissar hat in einem genauen Protokoll festgehalten, was er am 6. Januar 1942 im Haus Heilwigstraße 46 fand.

An diesem Tag um ca. 14.00 Uhr hatte ein Mitbewohner des Hauses, der jüdische Arzt Dr. Jungmann, Cläre und Anna Lehmann leblos in ihrem Zimmer liegend entdeckt. Sie lagen nebeneinander in ihren Betten, bekleidet mit Nachthemden. Auf den Nachttischen standen eine Tasse und ein Glas mit einer bräunlicher Flüssigkeit. Auf Cläre Lehmanns Nachttisch lag ein Schreiben mit nur einem Satz:
"Wir bitten darum, verbrannt zu werden. 5. Januar 1942."

Beide Schwestern hatten unterschrieben. Ferner lag auf dem Nachttisch ein geöffneter Briefumschlag, der eine Vorladung zur Gestapo enthielt, datiert vom 4. Januar 1942. Hiernach sollte Anna Lehmann am 6. Januar 1942 zwischen 8.25 Uhr und 8.35 Uhr bei der Geheimen Staatspolizei erscheinen, Staatspolizeileitstelle Hamburg, Düsternstr. 52, I. Stock, Zimmer 1.

Jungmann sagte bei einem kurzen Verhör aus, dass die Schwestern geäußert hätten, dass sie, wenn sie einen Evakuierungsbefehl bekämen, aus dem Leben scheiden würden. Ein klarer Fall für den Kommissar. Er fasste zusammen:

"Anscheinend haben die Schwestern Selbstmord durch Schlafmitteleinnahme begangen. Die Vorladung der Gestapo wird die Abschiebung der Juden zum Gegenstande gehabt haben, so daß sie sich entschlossen, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Im vorliegenden Falle handelt es sich um einen einwandfreien Selbstmord der Jüdinnen, die anscheinend nicht ins Ghetto wollten." Und: "Angehörige sollen angeblich in Deutschland nicht aufhältig sein."

Weiter: "Bei der Durchsicht der Papiere der Verstorbenen wurden 2 Testamente, eine Geburtsurkunde der Anna Lehmann, die bereits erwähnten Abschiedszeilen, die Vorladung der Gestapo und in einer Lebensmittelkartentasche und einer ledernen Geldbörse 438,07 RM gefunden. Außerdem ein Sparbuch der Deutschen Bank mit einem Guthaben von 1348,57 RM. Sämtliche Sachen sind dem Bericht beigefügt."
Der sauber aufgeschnittene Umschlag mit dem Schreiben der Geheimen Staatspolizei liegt noch heute in der Akte. Unerheblich, dass die Vorladung der Gestapo sicher einen anderen Grund hatte als die "Abschiebung der Juden". Im Januar 1942 gab es keine Deportationen von Hamburg aus. Doch zu einem etwas späteren Zeitpunkt wäre der "Evakuierungsbefehl" zweifellos eingetroffen, und so hatten die Schwestern den Ereignissen nur ein wenig vorgegriffen.

© "Maajan – Die Quelle", Heft 76, 2005

Quellen: 4; StaH Oberschulbehörde (OSB) II, B 192 Nr. 3, Vorsteher-Akte Cläre Lehmann; StaH Oberschulbehörde II B 192 Nr. 7, Revisionsvermerk vom 18.12.1918; StaH OSB, B 192 Nr. 5, Statistik; StaH OSB II, B 192 Nr. 1, Cläre Lehmann, Allgemeine Schulakte. Schreiben von Oberschulrat Köhne an Husfeldt vom 27.7.1937; StaH, Talmud Tora 73. Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Berlin, Schulabteilung, Paula Sara Fürst an Cläre Sara Lehmann vom 11.12.1939. Die "Volks- und Oberschule für Juden" war die letzte jüdische Schule Hamburgs; StaH, Talmud Tora 73. Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Berlin, Schulabteilung, Aktennotiz undatiert, betr. TTS-Parallelklassen Lehmann; StaH Polizeibehörde-Unnatürliche Sterbefälle, 1942/158.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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