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Porträtfoto Adelheide Singer, aus einem Ausweis
Adelheide Singer, Pass von 1920
© StaH

Adelheide Singer (geborene Gradenwitz) * 1886

Grindelberg 7 gegenüber Nr. 12 (Eimsbüttel, Harvestehude)


HIER WOHNTE
ADELHEIDE SINGER
GEB. GRADENWITZ
JG. 1886
DEPORTIERT 1941
ERMORDET IN
MINSK

Adelheide Singer, geb. Gradenwitz, geb. 19.9.1886 Hamburg, deportiert am 18.11.1941 nach Minsk

Grindelberg gegenüber Nr. 7 (früher: Grindelberg 12)

Am 23. Dezember 1914 heiratete die gebürtige Hamburgerin Adelheide Gradenwitz den Schuhmacher Mendel Singer, geb. 28. 3.1888, aus Zadowa im Kronland Bukowina (damals Österreich-Ungarn, heute Ukraine). Beide stammten aus jüdischen Familien. Mendel Singer war deutscher Nationalität und besaß die österreichische Staatsangehörigkeit. Durch ihre Heirat wurde Adelheide Singer Deutsch-Österreicherin. Mendel Singer war 1908 als Schuhmachergeselle nach Hamburg gekommen und hatte sich 1913 selbstständig gemacht. Für nur RM 850 hatte er mit Hilfe eines Kredits von einem jüdischen Verein die Kellerwohnung Grindelberg 41 mit einem Schuhgeschäft erworben. Er erweiterte das Geschäft durch eine Werkstatt. Am 10. November 1914 wurde er als Mitglied der Deutsch-Israelitischen Gemeinde aufgenommen.

Adelheide Singers Vater, der Handelsmann und Reisende Oscar Joseph Gradenwitz, war im Jahr zuvor gestorben. Sie hatte ihren ungewöhnlichen Vornamen nach ihrer Großmutter Adelheide Gradenwitz, geb. Guttenberg, erhalten. Die Großeltern, Adelheide und der Kaufmann Marcus Gradenwitz, lebten in Dyhernfurth in Niederschlesien (heute: Brzeg Dolny), einer Stadt mit einer lebendigen jüdischen Gemeinde, als am 30. September 1849 ihr Sohn Oscar zur Welt kam.

Oscar Gradenwitz verließ später seinen Geburtsort und ließ sich in den 1880er Jahren als Händler in der Hamburger Neustadt nieder. Er heiratete Zerline Vogel, geb. 2.12.1856 in Hamburg, die ebenfalls aus einer Händlerfamilie stammte und in der Neustadt lebte. Adelheide, ihr einziges Kind, wurde in der 1. Marienstraße 27 geboren. Als sie schulpflichtig wurde, war die Familie in den neuen Steinweg gezogen, wo der Vater einen Handel mit Herrengarderobe betrieb. Die Großeltern Samuel und Jeanette Vogel, geb. Blättner, sowie der Onkel Nathan Vogel mit seiner Ehefrau Julie, geb. Graff, und ihren Kindern – Hermann, Bertha, Zerline, John, Minna, Sara und Siegmund – lebten in der Nachbarschaft. Nathan Vogel betätigte sich als Handelsmann, Auktionator und Taxator.

Welche Schule Adelheide besuchte und welche Ausbildung sie erhielt, ist uns nicht bekannt. Den Wechsel vieler Juden aus der Neustadt ins Grindelviertel zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollzogen auch Oscar Gradenwitz und Nathan Vogel mit ihren Familien. Oscar Gradenwitz zog in die Rentzelstraße 17, wo er bis zu seinem Tod am 8. Oktober 1913 wohnte. Den Tod zeigte sein Schwager Nathan Vogel als sein nächster männlicher Verwandter beim Standesamt an. Nathan Vogel starb nur drei Jahre später.

Zerline Gradenwitz gab nach dem Tod ihres Mannes die bisherige Wohnung in der Rentzelstraße auf und zog mit ihrer inzwischen 26-jährigen Tochter Adelheide in das Z. H. May und Frau-Stift ("May-Stift") in der Bogenstraße 25, wo sie auch nach der Heirat ihrer Tochter wohnen blieb. Es gab offenbar bei Adelheide und Mendel Singers Heirat keine männlichen Verwandten mehr, die als Trauzeugen hätten auftreten können.

Mendel Singer wurde zum österreichischen Heer eingezogen. Zunächst galt er als nicht waffenfähig, wurde dann aber doch am 13. Februar 1915 bei der Feldartillerie in Leitmeritz/Nordböhmen eingesetzt und kämpfte schließlich in Italien, wo er in Gefangenschaft geriet. Erst im Oktober 1919 kehrte er zu seiner Familie zurück. Am 25. Juli 1916 war die Tochter Elsi Menie geboren worden, die das einzige Kind blieb. Adelheide Singer hatte ihrer Tochter den zweiten Namen, Menie, nach deren Großmutter Mariem Menie Kasswan gegeben. Mendel Singer hieß offiziell Mendel Kasswan, da seine Eltern nur nach jüdischem Ritus getraut waren, hatte sich aber stets Singer genannt. Die Änderung seines Nachnamens war ihm am 22. Januar 1918, bevor er in Gefangenschaft geriet, von der k. u. k. Landesregierung für die Bukowina in Czernowitz bewilligt worden.

Während der Abwesenheit ihres Ehemannes führte Adelheide Singer mit einem Gesellen den Betrieb weiter. Zwar ging das Schuhgeschäft seit Kriegsbeginn aus Materialmangel stetig zurück, doch stieg der Reparaturbetrieb umso stärker.
Nach seiner Rückkehr betrieb Mendel Singer seine Einbürgerung. Da er unbescholten war und ein versteuertes Jahreseinkommen von RM 3000 nachweisen konnte, erhielten er, seine Ehefrau und ihre Tochter am 19. Mai 1920 die Einbürgerungsurkunde. Damit nicht genug. Mendel Singer fand, dass der "Vorname Mendel auf seinem Firmenschild fremdartig klinge und er hierdurch geschäftlich geschädigt werde" und beantragte beim Hamburger Senat eine Änderung seines Vornamens zu Max. Mit Beschluss vom 14. März 1923 wurde ihm gestattet, sich hinfort Max Mendel Singer zu nennen, während Adelheide Singer sich lediglich inoffiziell Alice nannte.

Die wirtschaftliche Lage von Familie Singer besserte sich merklich mit dem Jahr 1925. Max Mendel Singer fiel die finanzielle Unterstützung seiner Schwiegermutter leichter, der auch half, dass sie täglich bei ihrer Tochter aß. Doch schon wenige Jahre später traf die Familie ein schwerer Schicksalsschlag. Max Mendel Singer starb im Alter von nur 40 Jahren am 14. Januar 1928 in Geesthacht in der Heilstätte Edmundsthal-Siemerswalde an Lungentuberkulose, einer Kriegsfolge. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Ohlsdorf beerdigt. Seine Witwe erhielt eine kleine "Militärrente" aus Wien.

Adelheide Singer blieb mit ihrer erst elfjährigen Tochter Elsi in der Wohnung und versuchte, das Geschäft wie zuvor schon einmal, weiter zu führen, doch ging es 1929 in Konkurs. Ihre Kriegerwitwenrente wurde durch eine Zusatzrente und eine Invalidenentschädigung ergänzt, was jedoch nicht ausreichte, um auf Dauer die Wohnung zu halten. Auch ihr Verdienst aus Monogrammstickerei änderte nichts an der grundsätzlichen Not.

Sie erhielt von der Wohlfahrt und der jüdischen Gemeinde Unterstützung, um Mietschulden und andere Verpflichtungen zu begleichen und konnte zunächst noch die beiden nach hinten gelegenen Räume bewohnen. Diese waren nicht nur dunkel und unfreundlich, sondern kosteten so viel Feuerung, dass die Wohlfahrt zu einem Wohnungswechsel drängte, zumal es mehrfach Auseinandersetzungen mit der Vermieterin gab. Die letzte endete in der Pfändung von Adelheide Singers Klavier.

Bei der Wohlfahrt ging eine anonyme Anfrage ein, ob es gerechtfertigt sei, dass Adelheide Singer öffentliche Mittel beanspruche, aber ihre Tochter Elsi die Privatschule Dr. Löwenbergs besuche und Klavierunterricht erhalte, dass eine Reinmachefrau komme und die Gardinen zum Waschen weggegeben würden und dass Frau Singer beste teure Mazzen kaufe. Nach Prüfung dieser Angaben wurden weitere Anträge auf Unterstützung restriktiver als zuvor behandelt. Elsi wurde für die Hallerstiftung vorgeschlagen, die Zuwendungen für die schulische Bildung bzw. Ausbildung vergab, in diesem Fall aber offensichtlich ablehnte. Elsi und wechselte auf die schuldgeldfreie Volksschule Carolinenstraße, die sie Ostern 1932 beendete.

Adelheide Singer wandte sich wegen einer anderen eigenen Wohnung an das Wohnungsamt, das ihren Antrag jedoch als unberechtigt ablehnte. Sie musste sich mit einer Teilwohnung von zwei Zimmern und einer Notküche begnügen und zog in die Rentzelstraße 52. Elsi begann eine Lehre als Schuhverkäuferin. Ihr Lehrlingsgehalt wurde zu den Renten ihrer Mutter hinzu gerechnet, so dass beide von da an monatlich 125 RM zur Verfügung hatten, mit denen sie sich einzurichten hatten. Im Februar 1933 zogen Mutter und Tochter noch einmal um, wieder in eine Zweizimmerwohnung mit Notküche, in der Hansastraße 69. Einmalig erhielt Elsi von der Wohlfahrt noch Unterstützung – für einen Satz Unterwäsche und ein Paar Strümpfe.
Zerline Gradenwitz, Adelheide Singers altersschwache Mutter, erhielt laufende Unterstützung zum Lebensunterhalt von der Jüdischen Gemeinde und der Fürsorge und kam nach wie vor zum Essen zu ihrer Tochter.

Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 wurde die Einbürgerung von Adelheide und Elsi Singer überprüft. Dabei ging es zunächst um die Rechtmäßigkeit der Einbürgerung des Ehemannes und Vaters als eines "Ostjuden", dann auch um ihre. Da nichts Nachteiliges über sie bekannt und sie beide in Hamburg geboren waren, wurde ihre Einbürgerung als Rechtens bestätigt.

Nach dem Abschluss der Schule absolvierte Elsi Singer eine Lehre als Schuhverkäuferin. Noch als Lehrling, 18 Jahre alt, trat sie als selbstständiges Mitglied der jüdischen Gemeinde bei und blieb es auch nach ihrer Heirat und nach der Geburt ihres Kindes. Am 29. Oktober 1935 hatte sie die Ehe mit Erich Marcus geschlossen, am 24. März 1936 kam die Tochter Silvia zur Welt. Erich Marcus stammte aus einer Mecklenburger Familie, deren Mitglieder sich in Hamburg und Harburg niedergelassen hatten (s. Erich Marcus, Stolpersteine in Hamburg-Harburg und Wilhelmsburg).

Adelheide Singer zog im Oktober 1936 in den Grindelberg 12. Sie galt als arbeitsfähig und verdiente mit Adressenschreiben 3,50 Mark für 1000 Adressen, wenn es denn Arbeit gab.
Ihre Adresse Wohnung wurde zum Sammelpunkt für vier Generationen. Zunächst hatten ihr Schwiegersohn mit seiner Familie und sie je eine Teilwohnung aus je zwei Zimmern, dann bewohnten sie gemeinsam eine 4-Zimmer-Wohnung und führten einen gemeinsamen Haushalt, in den auch Erich Marcus’ Gehalt einfloss. Zerline Gradenwitz, 80 Jahre alt, litt unter Rheumatismus und konnte oft nicht das Bett verlassen. Sie blieb im May-Stift, weil es dort eine Zentralheizung gab, und vermietete ein Zimmer, um die Kosten zu decken. Um öffentliche Mittel zu sparen, wurde seitens der Fürsorge Druck auf die Tochter und ihre Familie ausgeübt, die Mutter zu sich zu nehmen. Unter Hinweis auf die fehlende Zentralheizung in der Wohnung und auf die Enge versuchte Adelheide Singer dies den Zuzug ihrer Mutter zu verhindern, doch am Ende des Jahres 1938 stellte die Fürsorge ihre Zahlungen ein, und Zerline Gradenwitz teilte sich ein Zimmer mit ihrer Tochter.

Als Jüdin unterstand Adelheide Singer nun der Sonderfürsorge. Im Oktober 1939 beantragte sie die Kostenübernahme für Zahnersatz. Der Antrag wurde abgelehnt. Als Jüdin sei sie zwar wegen ihres Status als Kriegerwitwe berechtigt, aber es gebe nicht genügend Mittel. Die Kinder wurden erwerbslos, und dadurch wuchs die Not. Erich Marcus wurde zum Jahresende 1940 durch die Gestapo als Erdarbeiter eingesetzt. Offenbar leistete auch Elsi Marcus Zwangsarbeit. Vermutlich betreute Adelheide Singer ihre Enkelin, während die Eltern arbeiteten.

Am 11. März 1941 starb Zerline Gradenwitz im Alter von 84 Jahren und wurde neben ihrem Mann auf dem jüdischen Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf beigesetzt, den sie um 27 Jahre überlebt hatte. Ihre Enkelin Elsi Menie Marcus zeigte den Tod beim Standesamt an.

Als sieben Monate später die Osttransporte von Hamburger Juden begannen, wurden Adelheide Singer und die Familie ihrer Tochter von der ersten Deportation nach Lodz noch verschont. Die beiden folgenden Transporte gingen nach Minsk. Zunächst wurden vor allem kinderlose kräftige Personen abtransportiert, oft nur die Familienväter. Sie mussten das Getto von Minsk für die nachfolgenden Transporte von Reichsjuden herrichten, nachdem die vorherigen Bewohner in einer blutigen Aktion beseitigt worden waren. So erhielten zunächst nur Erich Marcus und seine Eltern den Befehl zur "Aussiedlung". Elsi Menie Marcus, mit der Berufsangabe "Arbeiterin", und ihre fünfjährige Tochter Silvia rückten von der Liste der Ersatzpersonen für diesen Transport nach. Adelheide Singer und Erichs Tante Anna Mayer folgten ihnen mit dem Transport vom 18. November 1941. Es ist anzunehmen, dass sie im Getto von Minsk mit ihren Verwandten zusammen lebten, bevor auch auch sie ermordet wurden.

Stand August 2014
© Hildegard Thevs

Quellen: 1; 4; 5; 7; Hamburger Adressbücher; StaH 332-5 Standesämter, 748-355/1916; 2131-4471/1886; 8015-453/1913; 8173-120/1941; 8698-408/1914; 332-7 Staatsangehörigkeitsaufsicht, B VI 1753; 332-8 Melderegister, K 6146, 7107; 351-14 Fürsorgewesen, 1230, 1848; 552-1 Jüdische Gemeinden, 391 Mitgliederlisten; 992 e 2 Deportationslisten, Bde 1, 2, 3, 5; 351-11 AfW 39704, 39705; Stadtarchiv Geesthacht, Sterberegister 16.1.1928; Fladhammer, Christa, Stolpersteine in der Hamburger Isestraße, S. 194 f.; Möller, Klaus, Stolpersteine in Hamburg-Harburg, S. 165–167; http://www.geesthacht.de/index.phtml?La=1&sNavID=1801.32.1&object=tx%7C17.68.1, Zugriff 6.8.2014; s. auch http://www.stolpersteine-hamburg.de/?&MAIN_ID=7&r_name=&r_strasse=schadesweg&r_bezirk=&r_stteil=&r_sort=Nachname_AUF&recherche=recherche&submitter=suchen&BIO_ID=2779; JFHH O 2 - 67, ZX 11 – 775/776.
Zur Nummerierung häuftig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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