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Bereits verlegte Stolpersteine



Sally Victor * 1888

Große Elbstraße 7 (Altona, Altona-Altstadt)


HIER WOHNTE
SALLY VICTOR
JG. 1888
EINGEWIESEN 1940
HEILANSTALT LANGENHORN
"VERLEGT" 23.9.1940
BRANDENBURG
ERMORDET 23.9.1940
"AKTION T4"

Weitere Stolpersteine in Große Elbstraße 7:
Regine Victor

Sally Victor, geb. 11.5.1889 in Hamburg, ermordet am 23.9.1940 in der "Landes-Pflegeanstalt" Brandenburg an der Havel

Große Elbstraße 7


Rosa Victor, geb. Abrahamson, geb. 7.5.1882 in Prenzlau, deportiert am 11.Juli 1942 nach Auschwitz, ermordet
Louis Ludwig Victor, geb. 14.7.1883 in Hamburg, deportiert am 11.Juli 1942 nach Auschwitz, ermordet

Carsten-Rehder-Straße 50 (ehemals Große Fischerstraße 52/56, von der Hafenstraße links ab)


Sally Victor war das jüngste von fünf Kindern des Ehepaares Perez und Emilie Victor, geborene Freudenthal.

Perez Victor, geboren am 4. Februar 1853 in dem in Osthessen gelegenen Dorf Rhina, war der zwei Jahre jüngere Bruder von Lippmann vulgo Louis Victor (siehe Biographie Regine Victor), der sich etwa 1872 in Hamburg niedergelassen hatte. Perez war seinem Bruder nach Hamburg gefolgt und heiratete dort am 4. September 1882 Emilie Freudenthal, geboren am 29. März 1858 in Peine. Das jüdische Ehepaar wohnte in der Steinstraße 142 in der Hamburger Altstadt und bekam dort am 14. Juli 1883 sein erstes Kind, Louis genannt Ludwig. Ihm folgten Joseph Victor, geboren am 4. Dezember 1884 am Schweinemarkt 142, gestorben am 3. Januar 1885, Sally, geboren am 11. Mai 1889 am Schweinemarkt 28, Martha, geboren am 18. November 1887 am Schweinemarkt 28 und Erna, geboren am 1. April 1894 in Wandsbek, Zollstraße 104.

Perez Victor nannte sich bei seiner Eheschließung Produktenhändler, im Hamburger Adressbuch von 1883 konkretisierte sich sein Tätigkeitsbereich parallel zu dem seines Bruders in "Handel mit Fellen u. Producten". 1890 oder 1891 verlegte die Familie ihren Wohnsitz nach Wandsbek in die Zollstraße 104 und lebte dort bis etwas 1920.

Sally Victor soll unter einer "angeborenen Geistesschwäche" gelitten haben. 1912, zur Zeit seiner ersten Aufnahme in der Provinzial-Irrenanstalt in Neustadt/Holstein, hatte er bereits das Elternhaus verlassen und bei seinem Bruder und Vormund Louis Ludwig Victor in der Straße Am Brunnenhof 33 in St. Pauli gewohnt. Seiner Aufnahme in der Provinzial-Irrenanstalt in Neustadt am 25. Februar 1912 war ein Schriftwechsel zwischen Perez Victor und der Anstalt vorausgegangen, dem sich entnehmen lässt, dass Sallys Vaters den Aufenthalt seines Sohnes dort für notwendig hielt und auch für den Unterhalt aufkommen wollte.

Knapp sechs Monate später, am 11. August 1912, "entwich" Sally Victor aus der Neustädter Anstalt. Der Direktion der Provinzial-Irrenanstalt scheint der "Abgang" ihres Patienten nicht unlieb gewesen zu sein. Sie wandte sich am 27. August 1912 an den Landrat in Cismar und fragte, ob Einwendungen gegen seine Entlassung erhoben würden. Dabei betonte Direktor Dabelstein, "derselbe soll 1911 in Wandsbek Handlungen vorgenommen haben, die ihn mit der Polizei in Konflikt brachten, wegen geistiger Minderwertigkeit aber nicht bestraft sein."

Inzwischen hatte Sally Victor bei einem Pächter auf dem Gutsbetrieb Alt-Glasau im heutigen Landkreis Segeberg Arbeit gefunden. Er wurde dort zunächst in der Gärtnerei beschäftigt und verhielt sich "einigermaßen ruhig". Doch schon bald wollte der Arbeitgeber Sally wieder loswerden. Er setzte sich mit dessen Vater in Verbindung und wartete darauf, dass Perez Victor seinen Sohn abholen würde. Darüber entstand ein Schriftwechsel zwischen dem Amtsvorsteher der Gemeinde Glasau und dem Landrat in Segeberg, in dem der Amtsvorsteher die Sorge äußerte, künftig für Sally Victor aufkommen zu müssen. Der Arbeitgeber, der Amtsvorsteher und die Anstalt in Neustadt erreichten ihr Ziel. Sally Victor wohnte – wenn auch nur kurzfristig – ab Anfang Oktober 1912 wieder bei seinen Eltern in der Zollstraße 104 in Wandsbek. Die Armenverwaltung des Magistrats der Stadt Wandsbek informierte die Provinzial-Irrenanstalt Neustadt am 9. Dezember 1912, dass Sally Victor "in Farmsen sein soll". Damit war das Hamburger Versorgungsheim gemeint.

Es ist nicht überliefert, wo Sally Victor die folgenden Jahre bis 1927 verbrachte. Einem Schreiben des Oberpräsidenten des Provinzialverbandes in Kiel ist zu entnehmen, dass er am 5. November 1925 von Berlin nach Hamburg und von da am 7. Dezember 1925 in die Arbeitsanstalt in Glückstadt kam. Das Gebäude am Jungfernstieg in Glückstadt diente im 19. Jahrhundert als Zuchthaus, später als "Korrektionsanstalt" und ab 1925 als "Landesarbeitsanstalt". Vermutlich blieb Sally Victor dort bis zum 3. November 1927, seiner erneuten Aufnahme in der inzwischen in Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt Neustadt umbenannten Einrichtung, wo er in den folgenden fast dreizehn Jahren lebte. Einer Notiz auf dem Einband seiner Patientenakte zufolge wurde er am 13. September 1940 nach Langenhorn "entlassen", d. h. verlegt.

Die Überführung in die Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn hatte folgenden Hintergrund: Im Frühjahr/Sommer 1940 plante die "Euthanasie"-Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4, eine Sonderaktion gegen Juden in öffentlichen und privaten Heil- und Pflegeanstalten. Sie ließ die in den Anstalten lebenden jüdischen Menschen erfassen und in sogenannten Sammelanstalten zusammenziehen. Die Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn wurde zur norddeutschen Sammelanstalt bestimmt. Alle Einrichtungen in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg wurden angewiesen, die in ihren Anstalten lebenden Juden bis zum 18. September 1940 dorthin zu verlegen.

Sally Victor kam am 13. September 1940 in Langenhorn an. Dort traf er seine Cousine Regine Victor (siehe dort), die Tochter seines Onkels Lippmann vulgo Louis. Sally Victor wurde zusammen mit Regine Victor und weiteren 134 Patientinnen und Patienten aus norddeutschen Anstalten am 23. September 1940 nach Brandenburg an der Havel transportiert. Der Transport erreichte die märkische Stadt noch an demselben Tag. In dem zur Gasmordanstalt umgebauten Teil des ehemaligen Zuchthauses trieb man die Patienten umgehend in die Gaskammer und ermordete sie mit Kohlenmonoxyd. Nur Ilse Herta Zachmann entkam zunächst diesem Schicksal (siehe dort).

Wir wissen nicht, ob und ggf. wann Angehörige Kenntnis von Sally Victors Tod erhielten. In allen dokumentierten Mitteilungen wurde behauptet, dass der oder die Betroffene in Chelm (polnisch) oder Cholm (deutsch) verstorben sei. Die in Brandenburg Ermordeten waren jedoch nie in Chelm/Cholm östlich von Lublin. Die dort früher existierende polnische Heilanstalt bestand nicht mehr, nachdem SS-Einheiten am 12. Januar 1940 fast alle Patienten ermordet hatten. Auch gab es in Chelm kein deutsches Standesamt. Dessen Erfindung und die Verwendung späterer als der tatsächlichen Sterbedaten dienten dazu, die Mordaktion zu verschleiern und zugleich entsprechend länger Verpflegungskosten einfordern zu können.

Aus Sally Victors Familie kamen weitere Mitglieder im Holocaust ums Leben. Sallys Bruder Louis, genannt Ludwig, hatte Rosa Abrahamson, geboren am 7. Mai 1882 in Prenzlau, geheiratet. Die Eheschließung fand wahrscheinlich außerhalb Hamburgs statt – möglicherweise am Familienwohnort von Rosa –, sodass wir Zeitpunkt und Ort nicht kennen. Louis wurde am 21. Dezember 1938 im KZ Sachsenhausen inhaftiert, später aber wieder freigelassen. Die Eheleute wohnten zur Zeit der Volkszählung im Mai 1939 in der Fischerstraße 52/56 in Altona. Louis und Rosa Victor drohte die Deportation am 8. November 1941 nach Minsk. Sie waren in der Deportationsliste der Gestapo mit der Adresse "Alt.[ona], Gr. Fischerstr. 52 I" aufgeführt. Ihre Namen wurden jedoch durchgestrichen, was für sie aber nur einen kurzen Aufschub bedeutete. Sie mussten ihre Unterkunft noch einmal wechseln und die Enge des "Judenhauses" Sonninstraße 16 (heute Biernatzkistraße) in Altona auf sich nehmen. Dort erhielten sie den Deportationsbefehl, aufgrund dessen sie am 11. Juli 1942 nach Auschwitz verschleppt und ermordet wurden.

Erna Victor heiratete einen Mann mit Nachnamen David. Sie konnte rechtzeitig aus Deutschland flüchten und betrieb in den 1950er Jahren ein Wiedergutmachungsverfahren hinsichtlich Louis und Rosa Victor.

Martha Victor heiratete wahrscheinlich außerhalb Hamburgs. Ihr Schicksal und das ihres Ehemannes mit Namen Nowottny sind unbekannt.

Von Perez und Emilie Victor konnten keine Sterberegistereinträge in Hamburg, Altona oder Wandsbek gefunden werden. Es liegt deshalb nahe, dass sie Wandsbek verließen und möglicherweise in einen ihrer Geburtsorte zurückgingen.


Stand: Oktober 2018
© Ingo Wille

Quellen: 1; 4; 5; 9; StaH 133-1 III Staatsarchiv III, 3171-2/4 U.A. 4, Liste psychisch kranker jüdischer Lebenden jüdischen Frauen und Männern der psychiatrischen Anstalt Langenhorn, die aufgrund nationalsozialistischer "Euthanasie"-Maßnahmen ermordet wurden, zusammengestellt von Peter von Rönn, Hamburg (Projektgruppe zur Erforschung des Schicksals psychisch Kranker in Langenhorn); 213-13 Landgericht Hamburg – Wiedergutmachung 9124 Louis (Ludwig) Victor; 232-5 Amtsgericht Hamburg – Vormundschaftswesen 2083 Margot Victor, 2084 Sally Victor; 332-5 Standesämter 169 Sterberegister Nr. 39/1885 Joseph Victor, 2636 Heiratsregister Nr. 949/1882 Perez Victor/Emilie Freudenthal, 2073 Geburtsregister Nr. 4681/1884 Joseph Victor, 2045 Geburtsregister Nr. 3030/1883 Louis Victor, 2073 Geburtsregister Nr. 4681/1884 Joseph Victor, 2146 Geburtsregister Nr. 4181/1887 Martha Victor, 3848 Geburtsregister Nr. 229/1894 Erna Victor; 2189 Geburtsregister Nr. 1450/1889 Sally Victor, 351-11 Amt für Wiedergutmachung 40276 Magot Chow; 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn Abl. 1/1995 Aufnahme-/Abgangsbuch Langenhorn 26. 8. 1939 bis 27. 1. 1941; 424-111 Amtsgericht Altona 6102 Erna David wegen Louis und Rosa Victor, 6107 Todeserklärung Louis und Rosa Victor; 6174 Todeserklärung Sally Victor; 522-1 Jüdische Gemeinden Nr. 992 e 2 Band 2 und 4; Landesarchiv Schleswig (LAS) Abt. 377 Nr. 2771 (Patientenakte Sally Victor); JSHD Forschungsgruppe "Juden in Schleswig-Holstein", Datenpool Erich Koch, Schleswig.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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