Namen, Orte und Biografien suchen


Bereits verlegte Stolpersteine



Lina Wehl (geborene Bleiweiss) * 1876

Grindelberg 45 (Eimsbüttel, Harvestehude)


HIER WOHNTE
LINA WEHL
GEB. BLEIWEISS
JG. 1876
EINGEWIESEN 1940
HEILANSTALT LANGENHORN
"VERLEGT" 23.9.1940
BRANDENBURG
ERMORDET 23.9.1940
"AKTION T4"

Weitere Stolpersteine in Grindelberg 45:
Jonas Abraham Wehl, Klara Wolfsohn

Line (genannt Lina) Wehl, geb. Bleiweiss, geb. am 24.9.1876 in Lübeck, ermordet am 23.9.1940 in der Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel
Jonas Abraham Wehl, geb. am 24.1.1878 in Hamburg, interniert in Westerbork am 18.3.1943, nach Sobibor deportiert am 23.3.1943, dort am 26.3.1943 ermordet

Grindelberg 45, Hamburg-Rotherbaum

Lina Bleiweiss war eines von vier Kindern von Hirsch Hermann und Hannchen Bleiweiss, geborene Cohn. Obwohl ihr Vorname laut Geburtsregistereintrag eindeutig Line lautet, findet sich auf späteren Urkunden immer wieder die Abwandlung "Lina". Offenbar wurde sie immer Lina genannt, so auch in den folgenden Ausführungen.

Ihr Vater, Hirsch Hermann Bleiweiss, am 30. März 1841 in Gehaus im damaligen Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach (heute Thüringen) geboren, ließ sich 1866 in Lübeck nieder und heiratete bald darauf Hannchen Cohn, geboren am 1. Oktober 1834 in Moisling. Er verdiente den Lebensunterhalt in den Jahren bis 1879/1880 als Schuhmacher und Sattler. Außerdem handelte er mit Lumpen.

Das jüdische Ehepaar Hirsch Hermann und Hannchen Bleiweiss bekam seine vier Kinder in Lübeck: Siegmund Bleiweiss, geboren am 11. Februar 1869, Selig Bleiweiss, geboren am 27. Dezember 1870, Martin Bleiweiss, geboren am 24. März 1873, und Lina Bleiweiss, geboren am 24. September 1876.

Die Familie übersiedelte Anfang des 20. Jahrhunderts nach Hamburg.

Über Lina Bleiweiss’ Kindheit und Jugend ist uns nichts bekannt. Sie heiratete den Lotteriehändler Jonas Abraham Wehl, geboren am 24. Januar 1878 in Hamburg. Vor seiner Ehe mit Lina Bleiweiss war er mit Martha Brager, geboren am 24. September 1877, verheiratet gewesen. Auf der Kultussteuerkarte von Jonas Abraham Wehl ist als erstes Kind der Sohn Siegfried aufgeführt, der möglicherweise aus der Ehe mit Martha Brager stammte.

Das Ehepaar Wehl bekam einen Sohn, Siegbert Salomon (genannt Salo), geboren am 24. Mai 1905, und eine Tochter, Hanna (genannt Hannchen), geboren am 15. Januar 1910.

Jonas Abraham Wehl gehörte die Firma L. Isenberg & Co., Lotteriegeschäft, Grindelberg 82, die seit 1910 im Hamburger Adressbuch verzeichnet war. Das Unternehmen entwickelte sich erfolgreich. Später nahm Jonas Abraham Wehl seinen Sohn Siegbert Salomon als Teilhaber in das Unternehmen auf.

1926 fiel ein Schatten auf die wohlsituierte Familie, die am Grindelberg 45 wohnte. Lina Wehl zeigte Erregungszustände und musste in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg behandelt werden. Weitere fünf Krankenhausaufenthalte in Friedrichsberg folgten von 1931 bis 1936. Am 8. Mai 1936 verlegte man sie in die Staatskrankenanstalt Hamburg-Langenhorn. Ihre dortige Krankenakte existiert nicht mehr. Deshalb wissen wir nicht, wie es ihr in Langenhorn erging und ob in dieser Zeit der Kontakt zu ihrer Familie bestehen blieb. Am 9. Mai 1938 wurde Lina Wehl in die Heilanstalt Lübeck-Strecknitz verlegt, die aufgrund eines zwischen Hamburg und Lübeck geschlossenen Vertrages immer wieder Hamburger Patienten aufnahm. Jonas Abraham Wehl bestellte Grüße an "meine liebe Frau". Er war besorgt um Lina, die einen "kleinen Schlaganfall" erlitten hatte, sich aber bald wieder erholte, wie die Anstaltsleitung mitteilte.

Am 26. Mai 1939 teilte Jonas Abraham Wehl der Anstalt in Strecknitz mit, dass er jetzt bei seiner Tochter Hanna in Scheveningen in den Niederlanden lebte, die dort mit dem Kunsthändler Charles van Lier verheiratet war. Jonas Abraham Wehl war unmittelbar nach dem Novemberpogrom im KZ Sachsenhausen inhaftiert und am 2. Dezember 1938 entlassen worden. Ihm wird aufgegeben worden sein, Deutschland umgehend zu verlassen.

Lina Wehl richtete jede Woche einen Brief an ihre Verwandten in den Niederlanden, wahrscheinlich auch an die in Hamburg. Zu Beginn des Jahres 1940 jedoch blieben die regelmäßigen Mitteilungen aus Lübeck-Strecknitz aus. Daraufhin erkundigte sich auch Hanna, "ob meine Mutter so schwer erkrankt ist oder nicht in der Lage, um an uns zu schreiben." Kurz darauf berichtete der Anstaltsdirektor: "In den letzten Tagen ging es Ihrer Mutter nicht sehr gut. Sie lag zu Bett und äußerte auch nicht den Wunsch zu schreiben. Ich habe gestern mit ihr gesprochen. Sie hat gleich den inliegenden Brief geschrieben. Ihr Zustand ist sehr wechselnd, augenblicklich geht es ihr wieder besser."

Im März 1940 hielt Jonas Abraham Wehl eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes seiner Frau für möglich. Wie aus einem Brief an die Heilanstalt in Strecknitz hervorgeht, zog er sogar ihr Ableben in Betracht. "Nun habe ich noch eine Bitte sollte bei meiner Frau was Ernstes eintreten so möchte ich gern außer uns, Herrn Carl Norden Hamburg 13, Beneckestr. 4 sofort benachrichtigen zu wollen. Herr Norden wird sofort alles erledigen betreffs einer Überführung nach Hamburg." (Über die Beziehung zu dem Hausmakler Carl Norden, geb. 10. Oktober 1875, ist Weiteres nicht bekannt. Er wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und kam dort am 1. März 1944 ums Leben.) Martin Bleiweiss, der seine Schwester Lina im März 1940 besuchte, fand sie sehr schwach vor. Die Direktion der Anstalt erklärte, Lina sei wegen geringen Appetits sehr abgemagert. Manche Briefe an die Tochter in den Niederlanden seien wegen darin angesprochener "krankhafter Themen" nicht abgeschickt worden.

Als das Reichsinnenministerium im Rahmen einer von der "Euthanasie"-Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4, im Frühjahr/Sommer 1940 geplanten Aktion Jüdinnen und Juden aus öffentlichen und privaten Heil- und Pflegeanstalten in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg zum 18. September 1940 in der Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn zusammenziehen ließ, traf Lina Wehl am 16. September 1940 in Langenhorn ein. Am 23. September 1940 wurden die Menschen in die sogenannte Landes-Pflegeanstalt in Brandenburg an der Havel transportiert und noch am selben Tag in dem zur Gasmordanstalt umgebauten Teil des ehemaligen Zuchthauses mit Kohlenmonoxid getötet. Zur Verschleierung dieser Mordaktion wurde in Sterbemitteilungen behauptet, dass die Betroffenen in einer Anstalt in Chełm (polnisch) oder Cholm (deutsch) verstorben sei. Auf dem Geburtsregistereintrag von Lina Bleiweiss, verheiratete Wehl, wurde notiert, dass das "Standesamt Chelm II” ihren Tod unter der Nummer 571/1940 registriert hat. Die in Brandenburg Ermordeten waren jedoch nie in Chełm (polnisch) oder Cholm (deutsch), einer Stadt östlich von Lublin.

Auch Lina Wehls Ehemann und weitere Familienangehörige kamen im Holocaust ums Leben.

Von Jonas Abraham Wehl, der seiner Tochter Hanna im Dezember 1938 in die Niederlande gefolgt war, sind in Amsterdam zwei Adressen überliefert, Deltastraat 11 und Kromme Mijdrechtsstraat 56. Er wurde am 18. März 1943 in das Internierungslager Westerbork (Baracke 63) gebracht, wenige Tage später, am 23. März 1943, nach Sobibor deportiert und dort am 26. März 1943 ermordet.

Hanna (Hannchen) van Lier, geborene Wehl, wohnte mit ihrem Ehemann Salomon Samuel van Lier in den Haag, in der Bosschestraat 138. Beide sollen nicht aus Westerbork, sondern aus dem belgischen Mechelen am 28. August 1942 nach Auschwitz deportiert worden sein. Dort wurde Hannchen ermordet, während Salomon am 30. April1943 in Mitteleuropa gestorben sein soll. Näheres dazu ist nicht bekannt.

Lina Wehls Sohn, der Fotograph Siegbert Salomon Wehl, hatte 1932 Margot Meyer geheiratet. Mit ihr bekam er die Söhne Heinz (Günther), geboren am 29. Juli 1933, und Hans-Ulrich, geboren am 17. Februar 1938. Siegbert Salomon Wehl soll im November 1938 im KZ Sachsenhausen inhaftiert gewesen sein. Belegt ist, dass ihm die Flucht nach Shanghai gelang. Seine Ehefrau Margot konnte Deutschland im Februar 1939 mit ihren beiden Söhnen verlassen und reiste nach Uruguay.

Linas ältester Bruder, Siegmund Bleiweiss, hatte Selma Löwenthal geheiratet, geboren am 24. September 1873 in Wöllmarshausen in der Nähe von Göttingen. Das Ehepaar ließ sich in Neumünster nieder und bekam dort sieben Kinder: Selig, genannt Semmy, geboren 19. Juni 1898, Frieda, geboren 9. Juli 1899, Lina Carolina, geboren am 16. Februar 1902, Martin, geboren am 21. Februar 1903, Sella, geboren am 29. Mai 1904, Rudolf, geboren am 31. Oktober 1905, und Hermann, geboren am 5. August 1908.

Siegmund Bleiweiss verlagerte 1919 sein 1897 in Neumünster gegründetes Möbelgeschäft nach Hamburg, Elbstraße 60 (jetzt Neanderstraße). Er starb am 7. Dezember 1937 in seiner Wohnung in der Hamburger Kaiser-Wilhelm-Straße 115. Seine Ehefrau Selma führte das Geschäft bis Mai 1938 fort. Sie wurde am 11. Juli 1942 nach Auschwitz deportiert.

Auch Siegmund und Selma Bleiweiss’ ältester Sohn, der Kaufmann Selig (genannt Semmy), geboren am 19. Juni 1898 in Neumünster, kam wie seine Ehefrau Käthe Bleiweiss, geborene Peine, geboren am 8. Mai 1900 in Hamburg, in Auschwitz ums Leben. Ihr am 29. Januar 1941 geborener Sohn Uri, wurde im Alter von einundeinhalb Jahren mit seinen Eltern nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Siegmund Bleiweiss’ Tochter Frieda Bleiweiss heiratete in erster Ehe Aron (genannt Arno) Bezen, geboren am 5. April 1899 in Targoviste, der ehemaligen Hauptstadt der Walachei. Aus dieser Ehe stammte Hannelore, geboren am 22. Juli 1931. Nach der Scheidung ging Frieda eine zweite Ehe ein, und zwar mit Julius Prag, geboren am 9. Februar 1886 in Königsberg. Frieda Prag wurde zusammen mit ihrem Ehemann Julius Prag und ihrer Tochter aus erster Ehe, Hannelore Bezen, am 8. November 1941 nach Minsk deportiert. Alle drei kamen dort ums Leben. Hannelores leiblicher Vater, Aron (Arno) Bezen wurde mit seiner neuen Familie am 25. Oktober 1941 nach Łódź deportiert. Er starb dort am 10. September 1942.

Die weiteren Kinder von Siegmund und Selma Bleiweiss, Lina Wehls Nichten und Neffen, Lina Caroline, Sella Kanter, geborene Bleiweiss und Hermann Bleiweiss emigrierten mit ihren Angehörigen nach Übersee. Siegmund und Selma Bleiweiss’ Sohn Rudolf Bleiweiss leistete seit Ende 1938 für die Firma Karl Vogt & Söhne in Bergedorf-Lohbrügge "Pflichtarbeit" als Tiefbauarbeiter. Am 4. Juli 1940 suchte seine Arbeitskolonne während schwerer Regenfälle Schutz in einem Bauwagen, der auf dem Bürgersteig stand. Beim Verlassen des Wagens wurde Rudolf Bleiweiss von einem Lastwagenfahrer erfasst, er starb auf dem Weg ins Krankenhaus an den Folgen schwerer Kopfverletzungen. Die Beerdigung fand am 10. Juli auf dem Jüdischen Friedhof an der Ilandkoppel statt.

Linas Wehls zweiter Bruder, Selig Bleiweiss, heiratete Helene (genannt Hermine) Winterberg, geboren am 9. Februar 1872 in Wolfhagen bei Kassel. Dieses Ehepaar hatte drei Kinder, Sitta, geboren am 9. März 1903, Martha, geboren am 1. Oktober 1903, und Hermann Max, geboren am 18. Juni 1910. Selig Bleiweiss betrieb seit Mai 1910 ein Antiquitätengeschäft in der ABC-Straße 2, die zugleich die Wohnadresse war. Nach seinem Tod am 7. Dezember 1933 in seiner Wohnung am Gänsemarkt 31 führte seine Ehefrau Helene (genannt Hermine) das Geschäft bis 1935 fort. Sie emigrierte 1939 in die USA. Auch die drei Kinder Sitta, Martha und Hermann Max flüchteten in die USA.

Martin Bleiweiss, Lina Wehls dritter Bruder, blieb unverheiratet. Er starb am 11. April 1941 im Israelitischen Krankenhaus in der Johnsallee 68, das als Ersatz für das zwangsweise geräumte israelitische Krankenhaus in der heutigen Simon-von-Utrechtstraße genutzt wurde.

Für Selma Bleiweiss, Selig (genannt Semmy), Käthe, Uri und Rudolf Bleiweis liegen Stolpersteine am Enckeplatz 4 in der Hamburger Neustadt. Für Frieda und Julius Prag sowie Hannelore Bezen liegen Stolpersteine in der Wexstraße 42. Für Arno Bezen und seine Familie liegen Stolpersteine am Winterhuder Weg 86. An Line (Lina) und Jonas Abraham Wehl erinnern Stolpersteine in Hamburg-Rotherbaum, Grindelberg 45.


Stand: Juli 2019
© Ingo Wille

Quellen: 1; 3; 4; 5; 7; 9; AB; StaH 133-1 III Staatsarchiv III, 3171-2/4 U.A. 4, Liste psychisch kranker jüdischer Patientinnen und Patienten der psychiatrischen Anstalt Langenhorn, die aufgrund nationalsozialistischer "Euthanasie"-Maßnahmen ermordet wurden, zusammengestellt von Peter von Rönn, Hamburg (Projektgruppe zur Erforschung des Schicksals psychisch Kranker in Langenhorn); 241-1 I Justizverwaltung I 2109 Jonas Wehl; 332-5 Standesämter 1070 Sterberegister Nr. 457/1937 Siegmund Bleiweiss, 1008 Sterberegister Nr. 325/1933 Selig Bleiweiss, 1927 Geburtsregister Nr. 460/1878 Jonas Abraham Wehl, 13274 Geburtsregister Nr. 1038/1900 Käthe Peine, 13802 Heiratsregister Nr. 16/1932 Siegbert Salomon Wehl/Margot Meyer, 14437 Geburtsregister Nr. 1050/1905 Siegbert Salomon Wehl; 351-11 Amt für Wiedergutmachung 1658 Selig Bleiweiss, 1756 Helene Bleiweiss, 2234 Selma Bleiweiss, 2761 Carl Norden, 3533 Jonas Wehl, 21148 Selig Bleiweiss, 21972 Frieda Prag geb. Bleiweiss, 25226 Hermann Kanter, 26015 Carolina Händler, 29231 Sella Kanter geb. Bleiweiss, 30258 Siegbert Salomon Wehl; 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn Abl. 1/1995 Aufnahme-/Abgangsbuch Langenhorn 26.8.1939 bis 27.1.1941; 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn Abl. 1/1995 Nr. 20829 Lina Wehl; IMGWF Lübeck, Archiv, Patientenakte Lina Wehl der Heilanstalt Lübeck-Strecknitz; Stadtarchiv Lübeck, Geburtsregister Nr. 1199/1876 Line Wehl; JSHD Forschungsgruppe "Juden in Schleswig-Holstein", Datenpool Erich Koch, Schleswig; Gedenkstätte Sachsenhausen, Archiv, D 1 A 1020, D 1 A 1022; Joods Monument, email vom 21.12.2016; https://www.joodsmonument.nl/nl/page/515191/about-charles-van-lier (Zugriff 29.10.2016).
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

druckansicht  / Seitenanfang