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Ernestine Mächtig
Ernestine Mächtig
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Ernestine Mächtig * 1925

Semperstraße 43 (Hamburg-Nord, Winterhude)


HIER WOHNTE
ERNESTINE MÄCHTIG
JG. 1925
EINGEWIESEN 1934
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 16.8.1943
AM STEINHOF WIEN
ERMORDET 13.4.1944

Ernestine Maria Friederike Mächtig, geb. 15.10.1925 in Hamburg, aufgenommen in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) 1934 und 1938, verlegt am 16.8.1943 in die Wagner von Jauregg Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien, dort gestorben am 13.4.1944

Semperstraße 43 (Winterhude)

Ernestine Maria Friederike Mächtig, die stets Erna genannt wurde, war das einzige Kind, das aus der Ehe des Arbeiters Heinrich Hermann Mächtig, geboren am 25.12.1899 in Hamburg, und seiner ersten Ehefrau Martha Käthe, geb. Köster, geboren am 11.5.1898 in Hamburg, hervorgegangen war. Das Ehepaar wohnte in der Schumannstraße 29 im Stadtteil Uhlenhorst. Ob auch Erna je dort gelebt hat, wissen wir nicht, denn sie wurde in den ersten zwei Lebensjahren häufig in wechselnde Pflegefamilien gegeben. Die Ehe, geschlossen am 15. November 1924 in Hamburg, wurde nach gut zwei Jahren, am 13. Januar 1927, geschieden.

Ernas Vater ging am 16. Juli 1927 mit Dora Bertha Maria, geb. Lindemann, geboren am 12.3.1897 in Hamburg, eine neue Ehe ein. Nun lebte das Kind in der Wohnung seines Vaters und seiner Stiefmutter in der Schumannstraße 25, Haus 2. Dora Mächtig nahm ihre Stieftochter – so ist es überliefert - liebevoll an. Am 5. Februar 1928 bekam die kleine Familie Zuwachs, die Tochter Gerda wurde geboren. Ein weiteres Kind aus dieser Beziehung, Hildegard, geboren am 31.8.1929, starb bereits am 24. Dezember 1929 an Bronchitis.

Die Familie lebte bis 1931 in der Schumannstraße 25, Haus 2, im Stadtteil Uhlenhorst in enger Nachbarschaft zu Heinrich Mächtigs Eltern, die in der Schumannstraße 29 wohnten. Anschließend zog die Familie in die Semperstraße 43a in Winterhude.

Erna Mächtig lernte erst mit fünf Jahren sprechen, überwiegend angelernt durch die zwei Jahre jüngere Stiefschwester, wie die Stiefmutter gegenüber dem Jugendamt berichtete. Die Fürsorgerin beurteilte Erna Mächtig Ende 1933 zwar als körperlich altersgemäß entwickelt, in ausgezeichnetem Ernährungs- und Pflegezustand und im Aussehen ganz unauffällig, aber als ein "schwer debiles" Kind. Erna wurde zur Vermeidung einer Anstaltsunterbringung zunächst in ein Tagesheim gegeben und erforderte dort nach den Berichten "viel Aufsicht, weil sie unberechenbare Dummheiten macht".

Im Juli 1934 bat Heinrich Mächtig das Jugendamt um Ernas Unterbringung in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf). Zu Hause sei es mit ihr immer unerträglicher geworden, seine Frau "reibe sich mit dem Kinde auf", und Ernas Schwester Gerda komme nicht zu ihrem Recht. Ernas Vater äußerte die Hoffnung, dass das Kind in der Anstalt diszipliniert würde und auch die Eltern durch die Anstalt lernen könnten, das Kind richtig "anzufassen", so dass es dann wieder nach Hause zurückkehren könne.

Am 22. September 1934 wurde Erna aufgrund eines von zwei Ärzten diagnostizierten "sehr starken geistigen Entwicklungsrückstandes" in den Alsterdorfer Anstalten aufgenommen. Vier Monate später, am 19. Januar 1935, holte Dora Mächtig ihre Stieftochter aus den Alsterdorfer Anstalten jedoch wieder nach Hause, weil Erna dort "unter alten Frauen" untergebracht sei.

Die Fürsorgerin notierte nach Ernas Rückkehr in die elterliche Wohnung im Februar 1935, die Stiefmutter sei mit der Versorgung ihres Haushaltes und der beiden Kinder, insbesondere mit der achtjährigen Erna ausgelastet. Erna habe in geistiger Hinsicht kaum Fortschritte gemacht. Sie sei im Gespräch außerordentlich sprunghaft, versuche zunächst Fragen zu beantworten, schweife aber immer wieder ab und werfe plötzlich andere abgebrochene Sätze in das Gespräch. Sie sei hilfsbereit und erfülle kleine Aufträge mit großem Eifer. Seit ihrer Rückkehr aus Alsterdorf reiße sie sich die Fingernägel ein, sodass mehrere Finger entzündet seien. Erna empfinde dabei offenbar keine Schmerzen. Aus einem Fürsorgebericht vom Herbst 1936 ergibt sich, dass Erna beim Anziehen noch Hilfe benötigte. Die Eltern würden mit viel Liebe und Geduld auf das Kind eingehen.

Im April 1938 fühle sich die Stiefmutter – so die Fürsorgerin - jedoch von Erna überfordert, deren Zustand nach ihrer Aussage "ganz schlimm" sei. Sie sei unrein, reiße sich Finger- und Fußnägel ab, quäle die Stiefschwester, pieke und trete sie. Auch beim Spielen auf der Straße schlage und stoße Erna andere Kinder. Sie empfinde, dass sie "ungezogen" gewesen sei und laufe dann fort, überlege aber doch wieder, was sie nun "ausfressen" könne. Nach dem Bericht übe Erna auf ihre Schwester Gerda einen nachteiligen Einfluss aus. Auch in der ehelichen Beziehung führe Ernas Verhalten zu Belastungen. Heinrich Mächtig habe seiner Frau, Ernas Stiefmutter, Vorwürfe gemacht, weil sie das Kind aus den Alsterdorfer Anstalten nach Hause geholt habe.

Aufgrund einer psychiatrischen Untersuchung im Mai 1938 wurde Erna Mächtig als "imbezilles, charakterlich bösartiges Mädchen" beurteilt, das dringend in eine Anstalt aufgenommen werden müsse, weil sie kaum ohne Aufsicht bleiben könne und durch ihr unberechenbares Verhalten eine Gefahr für ihre Umgebung bedeute. Am 18. Juli 1936 wurde Erna Mächtig erneut in den Alsterdorfer Anstalten aufgenommen.

Ihre dortige Akte beschreibt sie als vollkommen unselbständig, sie könne nicht allein essen, nässe ein, werfe Gegenstände aus dem Fenster, nehme anderen Kindern die Spielsachen weg und lasse mit Vorliebe Waschbecken mit Wasser überlaufen.

Am 21. April 1939 übermittelten die Alsterdorfer Anstalten ein "Sterilisationsgutachten" an den Amtsarzt, in dessen Folge Erna Mächtig am 16. November zur Sterilisation in die Frauenklinik Finkenau verlegt wurde. Nach der am 17. November vollzogenen Operation kehrte sie am 30. November 1939 nach Alsterdorf zurück.

Erna Mächtig wurde in den folgenden Jahren als ein sehr schwer zu betreuendes Mädchen beschrieben. Sie sei ungehorsam, zerreiße Kleider und Schürze, stecke sie mit Vorliebe in die Toilette und schmutze täglich ein.

Während der schweren Luftangriffe auf Hamburg Ende Juli/Anfang August 1943 ("Operation Gomorrha") erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden. Die Anstaltsleitung nutzte die Gelegenheit, nach Rücksprache mit der Gesundheitsbehörde einen Teil der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, in andere Heil- und Pflegeanstalten zu verlegen. Am 16. August 1943 ging ein Transport mit 228 Frauen und Mädchen aus Alsterdorf sowie 72 Mädchen und Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" in Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") ab. Unter ihnen befand sich Erna Mächtig.

Während der "Aktion-T4" (Tarnbezeichnung für das "Euthanasie"-Programm der Nationalsozialisten, so genannt nach dem Sitz der Berliner Euthanasiezentrale in der Tiergartenstraße 4) war die Anstalt in Wien Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz gewesen. Nach dem offiziellen Ende der Gasmorde in den Tötungsanstalten im August 1941 wurde auf andere Art massenhaft in der Wiener Anstalt selbst gemordet.
Von Ernas Verlegung erfuhr die Familie zunächst nichts. Erst auf Nachfrage von Dora Mächtig vom 19. September 1943 teilte die Anstalt unter dem 11. Oktober 1943 mit: "Ihre Tochter ist am 17.8.43 in h.o. [hier ortige] Anstalt gebracht worden u. befindet sich derzeit auf Pav. 24. Die Reise hat sie gut überstanden und sich bereits in die neuen Verhältnisse eingelebt. Ihr allgemeiner Zustand ist unverändert. Gez. Der Direktor Hofrat Dr. Mauczka."

Die Wiener Patientenakte enthält für die Zeit von Ende 1943 bis zu Erna Mächtigs Ableben acht Monate später nur wenige kurze Einträge über eine Verlegung in den Pavillon 21, eine Verlegung in den Pavillon 19 aufgrund einer Furunkulose und am 17. Februar 1944 die Notiz, ihr sei die "Schutzjacke" abgenommen worden. (Mit einer "Schutzjacke", umgangssprachlich "Zwangsjacke", konnte eine weitgehende Bewegungseinschränkung erzwungen werden.)

Erna Mächtig starb am 13. April 1944. Als Todesursache wurde "Rippenfellentzündung und Lungenentzündung" angegeben.

Kurz zuvor hatte Dora Mächtig noch die Mitteilung aus Wien erhalten, dass es Erna ganz gut ginge. Als Nächstes kam die Mitteilung vom Tod. Sie wandte sich deshalb an die Anstalt, um Näheres zu erfahren. Mit Schreiben, datiert vom 22. April 1944, erfuhr sie: "Ihre Tochter hat in den letzten Wochen an einer Furunkulose gelitten und ist am 11.4.1944 an Lungenentzündung erkrankt und zwei Tage später am 13.4.1944 um 19 Uhr 15‘ an Herzschwäche gestorben. Ihr Tod ist rasch und unerwartet eingetreten. Doch ist alles so schnell gegangen, dass sie keinen schweren Todeskampf mitgemacht hat. Bezüglich des erwähnten Schreibens ist h.o. nichts bekannt. Der hier vermerkte Bericht ist am 5.10.43 abgeschickt worden, zu einer Zeit wo Pat. nur psychisch krank war. Gez. Podhajsky". Dabei wurde verschwiegen, dass Erna Mächtig von anfänglich 42 kg auf 34 kg abgemagert war.

Die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" war eine Anstalt der dezentral durchgeführten "Euthanasie". Dort wurden Patientinnen und Patienten systematisch vor allem durch Nahrungsentzug, aber auch durch Überdosierung von Medikamenten und durch Nichtbehandlung von Krankheiten, ermordet. Dem Hungersterben in dieser Anstalt fielen von 1941 bis 1945 insgesamt mehr als 3.500 Patientinnen und Patienten zum Opfer. Von den 300 Mädchen und Frauen aus Hamburg kamen bis Ende 1945 257 ums Leben, davon 196 aus Alsterdorf.

Auch Erna Mächtigs leibliche Mutter, Martha Käthe geschiedene Mächtig, hatte nach der Scheidung erneut geheiratet und hieß nun Schlaak. Ob sie nach der Scheidung noch Kontakt zu ihrer Tochter Erna hielt, ist nicht bekannt. Das Ehepaar Schlaak kam bei der "Operation Gomorrha" am 28. Juli 1943 ums Leben, der Sohn Willi Hans Karl starb 1947.

Stand: Juli 2021
© Ingo Wille

Quellen: Adressbuch Hamburg; StaH 332-5 Standesämter 2451 Geburtsregister Nr. 1141/1898 Martha Käthe Köster, 13182 Geburtsregister Nr. 2312/1899 Heinrich Hermann Mächtig, 6627 Heiratsregister Nr. 532/1927 Heinrich Hermann Mächtig/Martha Käthe Köster, 6657 Heiratsregister Nr. 335/1927 Heinrich Hermann Mächtig/Dora Bertha Maria Lindenau, 7097 Sterberegister Nr. 1212/1929 Hildegard Mächtig,1225 Sterberegister Nr. 8613/1943 Willi Fritz Ludwig August Schlaak, 8614/1943 Martha Käthe Schlaak; Evangelische Stiftung Alsterdorf Archiv, Sonderakte V 158; Waltraud Häupl, Der organisierte Massenmord an Kindern und Jugendlichen in der Ostmark 1940-1945, Wien 2008, S. 69f.; Hamburger Gedenkbuch Euthanasie – Die Toten 1939-1945, Hamburg 2017, S. 57, 361; Peter von Rönn, Der Transport nach Wien, in: Peter von Rönn u.a., Wege in den Tod, Hamburgs Anstalt Langenhorn und die Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus, Hamburg 1993, S. 425 ff.; Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 331 ff.

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