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Harry Rothstein * 1924

Schmilinskystraße 60-68 (Hamburg-Mitte, St. Georg)


HIER WOHNTE
HARRY ROTHSTEIN
JG. 1924
EINGEWIESEN 1938
VERSORGUNGSHEIM FARMSEN
DEPORTIERT
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Harry Rothstein, geb. 26.1.1924 in Danzig, eingewiesen in verschiedene Jugendheime, die Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) und das Versorgungsheim Farmsen, deportiert nach Auschwitz, ermordet

Schmilinskystraße 68, St. Georg

Als Harry Rothstein am 26. Januar 1924 in Danzig geboren wurde, war er kein deutscher Staatsbürger, denn die Stadt war 1920 infolge des Versailler Vertrages zusammen mit den Städten Zoppot, Praust, Tiegenhof und Neuteich zum teilsouveränen, selbständigen Freistaat "Freie Stadt Danzig" erklärt worden.

Auch Harry Rothsteins Vater, Alfred Rothstein (geb. 7. November 1892) stammte von dort. Er war der Sohn des Danziger Ehepaares Phöbus und Helene Rothstein. Aus deren Verbindung waren sechs Kinder hervorgegangen, neben Alfred die Söhne Siegfried (geb. 26. Februar 1882), und Rudolf (geb. 21. Januar 1895), sowie die Töchter Betty (geb. 26. Oktober 1886), Gertrud (geb. 20. Januar 1888), und Else Lina (geb. 21. Januar 1895). Die Familie war jüdisch.

Als Erwachsener hatte Alfred Rothstein, ein kaufmännischer Angestellter, der zeitweise als Bote arbeitete, als "Frontkämpfer" am Ersten Weltkrieg teilgenommen und war mit dem Verwundetenabzeichen und dem Ehrenkreuz für Frontkämpfer ausgezeichnet worden.

Harry Rothsteins Mutter Adelheid Gertrud Jaquet (geb. 16. Dezember 1896 in Berend bei Seehausen, heute Behrend, Ortsteil von Seehausen, Landkreis Stendahl/ Sachsen-Anhalt) soll aus einer Hugenottenfamilie stammen, sie war evangelisch.

Aus der 1919 geschlossenen Ehe zwischen Adelheid und Alfred Rothstein ging außer Harry dessen bereits am 23. Juli 1920 geborene Schwester Helene hervor. Die Ehe wurde - so gab Alfred Rothstein an - am 14. Juni 1929 geschieden. Alfred Rothstein hatte sich 1927 endgültig von seiner Familie getrennt, nachdem er sich schon zuvor zeitweise in Hamburg aufgehalten hatte. Ab Mai 1929 lebte er dauernd in Hamburg, wo er zur Untermiete wohnte.

Seine Ex-Frau und die Kinder blieben in Danzig zurück, wo seine Eltern, die selbst in ärmlichen Verhältnissen lebten, sie finanziell unterstützten so gut sie konnten. Dennoch musste Adelheid Rothstein für sich, Harry und Helene Wohlfahrtsunterstützung beziehen. Alfred Rothstein, der gelegentlich als Schlagzeug-Musiker und kurzzeitig beim Zirkus Busch arbeite, leistete keinen Unterhalt. Er war 1929 erwerbslos geworden und musste selbst in Hamburg Wohlfahrtsunterstützung beantragen.

Alfred Rothstein heiratete am 4. Oktober 1930 die evangelische Lucie Margarethe Katharine Bartholomä (geb. 4. September 1895 in Hamburg). Ab Februar 1931 bewohnte das Paar eine eigene Wohnung am Ruthsweg 7 in Barmbek, die es jedoch Ende 1931 wegen rückständiger Miete wieder verlor und in der Folgezeit oft die Unterkunft wechselte. Ebenso wenig gelang es Alfred Rothstein, eine feste Arbeitsstelle zu finden.

Auch Harrys Mutter ging eine zweite Ehe ein und heiratete 1931 Felix Franz Albert Meissner (geb. 11. Februar 1897 in Danzig). Aus diesem Anlass kamen sie und Alfred Rothstein überein, dass der sechsjährige Sohn Harry im Mai 1930 zu seinem Vater in die Hansestadt Hamburg ziehen sollte. Seine Schwester Helene blieb bei Mutter und Stiefvater in Danzig.

Harry, der seinen Vater nur als Kleinkind gekannt hatte, rebellierte vielleicht gegen die neue Umgebung, vielleicht waren Alfred Rothstein und seine Frau mit ihm überfordert oder aber sie konnten sich aus anderen Gründen nicht um das Kind kümmern. Jedenfalls beantragten sie Harrys Einweisung in das Kindererziehungsheim in Hamburg-Niendorf, wo er zunächst einmal vom 18. Februar bis 25. März 1931 blieb.

Ein halbes Jahr nach seiner Rückkehr zu seinem Vater erlitt er am 17. Oktober 1931 einen Unfall und wurde wegen eines Schädelhirntraumas und einer Verletzung am Unterkiefer zwei Wochen im Allgemeinen Krankenhaus Barmbek behandelt. Er selbst sprach später von einer leichten Gehirnerschütterung.

Harry Rothsteins Leben bei seinem Vater und der Stiefmutter währte nur kurz. Offensichtlich beantragte Alfred Rothstein nach einem guten Jahr wieder eine Heimunterbringung für seinen Sohn: Ab 20. Januar 1933 befand sich Harry Rothstein in "freiwilliger vollständiger Fürsorge" des Jugendamtes in der Averhoffstraße 7. Dort wurde "Schwachsinn leichten Grades" diagnostiziert. (Der heute nicht mehr verwendete Begriff "Schwachsinn" bezeichnete eine Intelligenzminderung bzw. eine angeborene Intelligenzschwäche.) Noch im selben Jahr wurde Harry Rothstein in das Jugendheim Ochsenzoll in der Langenhorner Chaussee 659 aufgenommen.

Der inzwischen neun Jahre alte Junge besuchte eine "Hilfsschule" (welche, ist nicht bekannt), weil seine geistigen Fähigkeiten für den Volksschulbesuch als nicht ausreichend eingestuft wurden. Er schloss die Schule mit der 1. Klasse (Abschlussklasse) ab.

Im Dezember 1933 ließ das Hamburger Jugendamt Harry Rothstein wegen des Unfalls und im Zusammenhang mit Jugendstraftaten ärztlich untersuchen. Dabei hielt der Arzt fest, der Elfjährige habe "etwas fahrig" und "wenig konzentriert" gewirkt und sich bezüglich seiner "Delikte" (die nicht konkretisiert wurden) wenig einsichtig gezeigt. Harry sei geistig deutlich unterentwickelt, er bringe schlechte schulische Leistungen und seine Merkfähigkeit entspräche nicht der Altersnorm. Insgesamt bestätigte der Mediziner den "Schwachsinn leichten Grades".

Den Dokumenten ist nicht zu entnehmen, wann Harry Rothsteins erster Aufenthalt in Ochsenzoll endete und wo er dann lebte. Jedenfalls wurde er am 12. August 1936 erneut im Jugendheim Ochsenzoll der Fürsorgebehörde in der Langenhorner Chaussee 659 untergebracht. Wieder wurde ihm "Schwachsinn" attestiert und geurteilt, er sei nicht erziehbar und deshalb ein "Bewahrfall".

Die Fürsorgebehörde notierte zudem, Harry Rothstein sei "Jude" oder "Mischling 1. Grades". Diese Notiz war von großer Bedeutung, denn nach den Nürnberger Rassegesetzen der Nationalsozialisten wurden Personen mit "vier volljüdischen Großeltern" als Juden und solche mit zwei "volljüdischen Großelternteilen" als "jüdische Mischlinge ersten Grades" geführt. Harry Rothsteins Eltern hatten in einer Mischehe gelebt, so dass er nach der NS-Einstufung "jüdischer Mischling ersten Grades" war. Diese "Mischlinge" unterstanden einer Sondergesetzgebung und waren im Laufe der NS-Zeit wachsendem Verfolgungsdruck ausgesetzt, denn radikale Antisemiten drängten immer wieder darauf, "Mischlinge ersten Grades" mit Juden gleich zu behandeln. In der Psychiatrie und im Strafvollzug wurden sie dies bereits. (Offenbar versuchte Alfred Rothstein später, als dieser "rassische Status" lebensbedrohlich geworden war, für Sohn Harry diese Zuschreibung abzuwenden, denn auf Harry Rothsteins Geburtsregisterauszug findet sich unter dem 6. Januar 1943 folgende Beischreibung: "Kind gilt nicht als Jude. Mit Pol.[izei] Präs.[ident] Hamburg geklärt.")

Zunächst aber wies das Jugendamt Harry Rothstein am 19. Januar 1937 als "Bewahrfall" in die damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) ein. Der dortige Oberarzt Gerhard Kreyenburg verfasste im Oktober 1937 ein Gutachten über Harry Rothstein, in dem die alten Diagnosen "Schwachsinn" und "Bewahrfall" wiederholt wurden. Doch sei er, so Kreyenburg, "unter straffer Zucht gut zu leiten". Kreyenburg empfahl, Harry Rothstein in eine geschlossene staatliche Anstalt mit entsprechenden Erziehungs- und Pflegemöglichkeiten zu verlegen. Ein Jahr später, am 31. Oktober 1938, wurde Harry Rothstein dennoch in das Versorgungsheim Oberaltenallee und von dort in das Versorgungsheim Farmsen überstellt.

Wenig später, am 12. Dezember 1938, nahm der Vater ihn wieder zu sich. Harry Rothstein arbeitete ab 20. Dezember 1938 als Laufbursche für eine Bäckerei am Steindamm in St. Georg und 1939/1940 zeitweise sogar als Bäckerlehrling. Doch die Ausbildung konnte er als "jüdischer Mischling" nicht abschließen.

Im März 1940 wurde der nun 16jährige wieder in die Obhut des Jugendamtes genommen, auf wessen Veranlassung, ist unklar. Nun musste Harry Rothstein etwa ein halbes Jahr landwirtschaftliche Arbeiten in dem Jugendheim Wulfsdorf leisten. Er wurde im März 1941 erneut in das Versorgungsheim Farmsen eingeliefert, als "Bewahrfall", wie es hieß.

Dieser Unterbringung entfloh er im Juli 1941 mit einem gestohlenen Fahrrad. Für den Diebstahl wurde er am 4. August 1941 zu vier Monaten Gefängnis verurteilt, die er vom 3. September 1941 bis 3. Januar 1942 im Jugendgefängnis Hahnöfersand abbüßte. Von dort wurde er wieder in das Versorgungsheim Farmsen entlassen.

Ein halbes Jahr später, am 21. Juni 1942, flüchtete Harry Rothstein erneut. Wieder entwendete er ein Rad. Als er deswegen erneut vor Gericht stand, gab er an, dass er im Heim als Jude schlecht behandelt worden sei. Das Urteil lautete diesmal zehn Monate Gefängnis. Die Strafe verbüßte er vom 13. August 1942 bis 28. Oktober 1942 in der Strafanstalt Glasmoor und anschließend in Fuhlsbüttel. Am 20. April 1943 kehrte er wieder in das Versorgungsheim Farmsen zurück.

Inzwischen hatte Harrys Vater 1939 erfolgreich die Aufnahme in die Wehrmacht beantragt. Er gab an, er gelte zwar als "Volljude", seine Mutter sei jedoch "arisch" gewesen, er mithin also "Mischling ersten Grades". "Mischlinge ersten Grades" wurden zwar eingezogen, doch dann verfügte Hitler ihre Entlassung aus der Wehrmacht, was für diejenigen zu spät kam, die bereits im Westfeldzug eingesetzt waren. So diente auch Alfred Rothstein vom 18. Dezember 1939 bis 6. Juli 1940 als Gefreiter einer Infanterieeinheit, dann wurde er entlassen.

Alfred Rothstein war offensichtlich mit seinem Einspruch, er sei "Halbjude", erfolgreich gewesen. Jedoch hatte er bis 1936 der Jüdischen Gemeinde angehört. Daraus leitete die Gestapo ab, dass er als "Geltungsjude" zu behandeln war, also mit Juden gleich behandelt wurde. Er blieb zunächst noch von der Deportation zurückgestellt, musste aber bis 1943 Zwangsarbeit leisten. Er soll mehrfach für ein paar Tage verhaftet worden und in der Gestapo-Zentrale im Stadthaus sowie im Polizeigefängnis Fuhlsbüttel gewesen sein. Den Grund kennen wir nicht.

1943 erhielt Alfred Rothstein – wie viele andere "Geltungsjuden" - den Deportationsbefehl nach Theresienstadt. Später, 1954, gab er an, sein Sohn Harry habe auf seinen, Alfred Rothsteins Antrag nach Rücksprache mit der Gestapo zusammen mit ihm nach Theresienstadt kommen sollen. Die Gestapo habe verlangt, dass Harry zuvor zum Judentum übertrete, womit die damalige Jüdische Gemeinde einverstanden gewesen sei. Harry sei kurz vor der Deportation in Haft genommen worden. Der Gestapo-Beamte habe Alfred Rothstein vorgeladen und ihm befohlen, zum 5. Mai 1943, dem Deportationstermin, auch für seinen Sohn die Koffer zu packen.

An diesem Tag habe er, Alfred Rothstein, sich zum Abtransport gemeldet, nach seinem Sohn gefragt und daraufhin von dem Gestapo-Mann eine "Ohrfeige" erhalten. Der Sohn sei nicht in dem Transport gewesen, sein Gepäck sei beschlagnahmt worden.

Was Alfred Rothstein nicht wusste: Ein Erlass vom Oktober/November 1942 verlangte, dass deutsche Gefängnisse, Zuchthäuser und KZs "judenfrei" gemacht und Juden wie "Mischlinge ersten Grades" nach Auschwitz zu überstellen seien. Vermutlich war Harry Rothstein gleich nach seiner Verhaftung Opfer dieser Anordnung geworden, ohne dass der Vater davon erfahren hatte.

Von Harry Rothstein gab es nie wieder ein Lebenszeichen.

Am 16. Juni 1943, wenige Tage, nachdem Alfred Rothstein deportiert worden war, wurde auch seine Ehe geschieden. Alfred Rothstein überlebte im Getto Theresienstadt und kehrte nach seiner Befreiung nach Hamburg zurück, schwer gezeichnet von den fast zwei Jahren Haft. Vom Tod seines Sohnes habe er, so versicherte er dem Amt für Wiedergutmachung 1954 an Eides statt, erst durch seine Tochter erfahren, die 1947 schriftlich von Harry Rothsteins Tod in Auschwitz informiert worden sei.

Die Schicksale der Geschwister von Alfred Rothstein kennen wir nicht.

Stand: Mai 2021
© Ingo Wille

Quellen: Adressbuch Hamburg, div. Jahrgänge; StaH 213-11 Staatsanwaltschaft Landgericht-Strafsachen 5874-41 Rothstein Harry; 351-11 Amt für Wiedergutmachung 46716 Harry Rothstein, 13993 Alfred Rothstein, 46716 Harry Rothstein; 351-14 Arbeits- und Sozialfürsorge – Sonderakten 1768 Alfred Rothstein; 332-5 Standesämter 6347 Geburtsregister 2370/1895 Lucie Margarethe Katharine Bartholomä, 13341 Heiratsregister 664/1930 Alfred Rothstein/Lucie Margarethe Katharine Bartholomä; Standesamt Danzig Geburtsregister 3437/1892 Alfred Rothstein, Geburtsregisterauszug 256/1895 Rudolf Rothstein, Geburtsregisterauszug 3438/1889 Else Lina Rothstein, Geburtsregisterauszug 266/1888 Gertrud Rothstein, Geburtsregisterauszug 3345/1886 Betty Rothstein, Geburtsregisterauszug 703/1883 Siegfried Rothstein, Geburtsregisterauszug 720/1788 Frida Rothstein, Sterberegisterauszug 301/1930 Phöbus Isaak Rothstein; Archiwum Parlstwowego w Gdarisku, Geburtsregisterauszug Nr. 67/1924 Harry Rothstein; Beate Meyer, "Jüdische Mischlinge". Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933-1945, Hamburg 1999.

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