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Leo Gerson * 1893

Dürerstraße 1 (Altona, Groß Flottbek)


HIER WOHNTE
LEO GERSON
JG. 1893
VERHAFTET 1939
KZ FUHLSBÜTTEL
DEPORTIERT 1941
ERMORDET 23.2.1942
KZ SACHSENHAUSEN

Leo Gerson, geb. am 25.2.1893, ab 8.9.1939 in Haft, ab 27.11.1941 im KZ Sachsenhausen, dort umgekommen am 23.2.1942

Dürerstraße 1

Der jüdische Kaufmann Leo Gerson wurde 1940 wegen der Beziehung zu seiner nichtjüdischen Geliebten der "Rassenschande" bezichtigt und zu zwei Jahren Haft verurteilt. Alle Versuche seines Rechtsanwaltes und seiner Familie, ihn nach Verbüßung der Strafe freizubekommen und ausreisen zu lassen, scheiterten. Er starb im KZ Sachsenhausen.

Leo Gerson kam am 25. Februar 1893 in Rogasen bei Chemnitz als eines von sechs Kindern des Getreidehändlers Moritz Gerson und seiner Frau Dorothea, geborene Cohn, zur Welt. Nach dem Besuch des Gymnasiums absolvierte er eine kaufmännische Lehre und war in den folgenden Jahren in leitender Stellung tätig. Im Anschluss an den freiwilligen Militärdienst im Ersten Weltkrieg machte er sich in Hamburg selbstständig und übernahm die Vertretung bedeutender Firmen. 1919 wurde er Mitglied der Jüdischen Gemeinde Hamburg. Gemeldet war er in der Flemingstraße 1, der Husumerstraße 11, der Sierichstraße 54, am Neuen Wall 19 und in der Bergstraße 7.

1918 heiratete er die ein Jahr jüngere Altonaerin Gertrud Grüner, Tochter des russischstämmigen Ivan Grüner und seiner Frau Flora. Das Ehepaar bekam zwei Kinder, 1921 die Tochter Hilde, zwei Jahre später den Sohn Hans. Die Familie gehörte dem liberalen Judentum an; die Kinder wurden religiös unterrichtet. Gertrud Gerson war nach dem Lehrerinnenexamen nur kurz an der Höheren Töchterschule in Altona in ihrem Beruf tätig, dann arbeitete sie im Damenbekleidungsgeschäft ihrer Mutter Flora Grüner, Beim Grünen Jäger. Ende 1929 zog die Familie in das Erdgeschoss eines großen Hauses mit Garten in der Dürerstraße 1 im Altonaer Stadtteil Groß Flottbek.

Seit diesem Jahr arbeitete Leo Gerson als Kaufmann und Vertreter für das große jüdische Textilunternehmen Rappolt & Söhne in Hamburg. Die Familie lebte in guten wirtschaftlichen Verhältnissen. Leo Gerson liebte Kunst und Musik. Hilda Ogbe, geb. Gerson, früher Hilde genannt, charakterisierte ihren Vater in ihrer 2001 erschienenen Autobiographie: "Mein Vater war sehr stimmungsabhängig, aber auch sehr künstlerisch veranlagt. Ohne irgendeine Ausbildung in Kunst oder Musik konnte er zeichnen, lustige Skizzen, und er spielte beidhändig Klavier, ohne Noten lesen zu können, nur nach Gehör, und ohne je einen falschen Ton zu spielen."

Im Prozess der wirtschaftlichen Verdrängung und Existenzvernichtung der Juden wurden bis 1939 etwa 1500 Hamburgische jüdische Unternehmen freiwillig oder gezwungenermaßen liquidiert bzw. "arisiert", das heißt, an nichtjüdische Bewerber verkauft. Dies betraf auch Leo Gersons Arbeitgeber.

Nach der "Arisierung" des Textilunternehmens Rappolt und Söhne 1938 verlor Leo Gerson seine Einkommensquelle. Gertruds Eltern Ivan und Flora Grüner mussten 1938 die Enteignung ihres Modegeschäfts hinnehmen und wohnten anschließend im ersten Stock der Bogenstraße 15. Leo und Gertrud Gerson zogen im September 1938 dort in eine Erdgeschosswohnung. Leo Gersons Mutter wohnte ebenso bei ihnen wie Leo Gersons Schwägerin Franziska Alexander, geb. Grüner.

Im Dezember 1938 beantragte Gertrud Gerson die Scheidung von ihrem Mann. Wie auch Leo Gerson später vor Gericht angab, war die Ehe nicht glücklich. Er zahlte Unterhalt für die Familie.

Die Maßnahmen zur Ausgrenzung der Juden verschärften sich. Hatte die Auswanderung der Juden aus Hamburg bis zum November 1938 unter dem Reichsdurchschnitt gelegen, so stieg sie nach dem Pogrom sprunghaft an. Auch Gertrud Gerson plante mit ihren Kindern die Flucht, wie die Tochter Hilda sich in ihrer Autobiographie erinnerte: "Nachdem von unserem Haushalt in der schönen Umgebung von Hamburg alles von Wert zu Schrottpreisen versteigert worden war, mussten wir in eine kleine Wohnung in die Stadt ziehen und bereiteten von dort unsere Auswanderung vor."

Im Sommer 1939 konnten die knapp achtzehnjährige Hilde und ihre Mutter mit einer Einreise- und Arbeitserlaubnis als Hausangestellte nach England entkommen; dem siebzehnjährigen Hans gelang ebenfalls die Flucht. Dies belegen auch die handschriftlichen Aufzeichnungen von Frau Geercken, die mit ihrem Mann im Haus Dürerstraße 1 gewohnt hatte und als Haushälterin bei den Gersons tätig gewesen war. Sie bezeugte, dass Frau Gerson mit den Kindern Hans und Hilde Mitte 1939 nach England ausreiste. Leo Gerson wurde ihren Aufzeichnungen zufolge "abgeholt".

Tatsächlich wurde Leo Gerson am 8. September 1939 verhaftet. Zehn Tage später erhob das Amtsgericht Hamburg Anklage: "Der Kaufmann Leo Gerson wird angeklagt, zu Düsseldorf Ende 1936 bis Anfang 1937 als Mann dem Verbote des § 2 des Blutschutzgesetzes, nach dem der außereheliche Verkehr zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes verboten ist, fortgesetzt zuwider gehandelt zu haben. Er hat mit der Erna S., jetzt verehelichten Erna L., den Beischlaf vollzogen." Die im September 1935 verabschiedeten "Nürnberger Rassegesetze" verboten außereheliche Beziehungen zwischen Menschen jüdischer und nichtjüdischer Herkunft. Eine Denunziation reichte aus, um Beschuldigte in Untersuchungshaft und vor Gericht zu bringen.

Am 20. September 1939 wurde Leo Gerson ins Untersuchungsgefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel eingeliefert. Auf seiner Gefangenenkarte mit der deutlichen Aufschrift "Jude!" war als Grund der Inhaftierung "Rassenschande" vermerkt. Bis zum 3. November des Jahres saß er in Untersuchungshaft. Dann überstellte ihn die Hamburger Polizei ins Untersuchungsgefängnis Düsseldorf-Darendorf.

Der Prozess fand vor dem Düsseldorfer Landgericht statt. Zur Last gelegt wurde ihm sein Liebesverhältnis mit einer nichtjüdischen Frau aus Düsseldorf, das offensichtlich schon seit Jahren bestand. Er hatte sie 1932 auf Geschäftsreisen kennengelernt. Leo Gerson gab am 5. Februar 1940 vor dem Landgericht Düsseldorf an, dass er sich nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze im Jahre 1935 von ihr trennen wollte und sie nur noch zweimal traf, zuletzt an seinem Geburtstag im Februar 1937. "Der Erlass der Nürnberger Gesetze traf uns besonders schwer, weil wir schon drei Jahre vor dem Gesetzerlass in einem glücklichen und innigen Verhältnis standen und niemals wurde diese Freundschaft durch eine Differenz getrübt, wie die Zeugin bestätigen kann. Seit Erlass des Gesetzes war die verzweifelte Stimmung bei der Zeugin sowohl wie bei mir oft bis zum Lebensüberdruss gesteigert, trug ich mich schon seinerzeit mit dem Gedanken, mich scheiden zu lassen und mit der Zeugin für immer zusammen zu bleiben."

Das Landgericht Düsseldorf folgte der "Beweisführung" der Staatsanwaltschaft und billigte ihm keine mildernden Umstände zu. Am 2. April 1940 erging das Urteil: "Der Angeklagte wird wegen Rassenschande zu einer Gefängnisstrafe von zwei Jahren verurteilt." Die 206 Tage Untersuchungshaft wurden angerechnet.

Zunächst wurde Leo Gerson am 15. April in das Gefängnis Wuppertal-Elberfeld verlegt. Geschwächt durch Gewichtsverlust, Herzprobleme und Haftpsychose erlitt er Ohnmachtsanfälle. Der Gefängnisarzt stellte die Diagnose "erbliche Fallsucht", Epilepsie. Leo Gerson drohte die Sterilisierung. Edgar Haas, der als jüdischer ehemaliger Rechtsanwalt nur noch für jüdische Mandanten tätig sein durfte, beantragte vergeblich die Verlegung in ein Krankenhaus oder die Anhörung vor dem Erbgesundheitsgericht. Nach über 16 Monaten Haft wurde Leo Gerson am 30. August 1941 in das KZ Hamburg-Fuhlsbüttel überstellt. Die Haftzeit sollte laut Urteil eigentlich eine Woche später enden, am 8. September 1941.

Aus der Haft hatte Leo Gerson Edgar Haas eine Vollmacht "zwecks Auswanderung nach Shanghai und Nordamerika" erteilt. Der besorgte Papiere für die Einwanderung nach Shanghai, in die Dominikanische Republik, die Republik Honduras und nach Kuba und schrieb am 7. Juli 1941 an das Landgericht Düsseldorf: "Gerson hat am 8. September seine zweijährige Gefängnisstrafe verbüßt. Durch seine Verwandten wird die Möglichkeit geschaffen werden, dass er sofort nach Verbüßung der Strafe Deutschland verlassen wird. […] Es ist beabsichtigt, dass Gerson zunächst nach San Domingo ausreist. […] Die Ausreise geht über Spanien, Portugal in besonderen, von Berlin ausgehenden, durchgehenden Wagen. Ich darf daher höflichst bitten, möglichst bald die vorübergehende Verlegung des Gerson nach Hamburg zu veranlassen."

Wie sein Schwager Alfred Alexander nach dem Krieg angab, wurde Leo Gerson am 8. September 1941 zwar offiziell entlassen, aber unmittelbar danach von zwei Beamten abgeholt, das heißt, in "Schutzhaft" genommen. Edgar Haas versuchte nun, Gersons Entlassung zu der Bedingung zu erreichen, dass dieser sich freiwillig für die bevorstehende Großdeportation nach Minsk am 18. November 1941 meldete. Der "Evakuierungsbefehl" für diesen Transport war Gertrud Gersons Schwester Franziska Alexander, deren Mann sich schon nach Kuba eingeschifft hatte, zugegangen. Edgar Haas telegraphierte am 16. November 1941 an die Gestapo Düsseldorf: "Erbitte Entlassung Schutzhäftling Leo Israel Gerson Hamburg-Fuhlsbüttel zwecks Evakuierung am Dienstag morgen gemeinsam mit seiner Schwägerin Frau Alexander, da beide alleinstehend."

Der Plan misslang. Nach dem Abtransport ihrer Tochter schrieb Flora Grüner an Edgar Haas: "Ich bin die Schwiegermutter von Leo Gerson und Sie kennen ja auch meine Tochter Frau Alexander, die seit drei Tagen evakuiert ist. [...] Wäre es nicht möglich, dass Leo Gerson mit dem Transport, der am 26.11. fortgeht, mitkommt? Sie würden sich einen Gotteslohn verdienen, denn wir sind sehr untröstlich darüber, dass er noch hier bleiben muss."

Doch inzwischen hatte Leos Bruder Jakob Gerson offenbar Informationen von Insassen des Gettos in der Hauptstadt Weißrusslands erhalten. Diejenigen, die noch an die Propaganda geglaubt hatten, sie würden als "Pioniere" zur "Kolonisierung des Ostens" eingesetzt, und die gehofft hatten, das Leben im Arbeitslager sei erträglicher als der Antisemitismus in Deutschland, waren geschockt von der Realität im Getto Minsk und den Spuren eines Massakers, das die deutschen Besatzer dort zuvor unter den einheimischen jüdischen Gettoinsassen angerichtet hatten. Am 23. November schrieb Jakob Gerson an Edgar Haas: "Es ist im Moment besser in Fuhlsbüttel als in einem Evakuierungslager zu sein, denn nach Nachrichten von Arbeitskameraden ist es nicht schön!"

Am 27. November 1941 wurde Leo Gerson ins KZ Sachsenhausen überstellt. Mit der Häftlingsnummer 040385 in der Häftlingskategorie "Rassenschänder" saß er im Block 14 ein. Edgar Haas informierte Jakob Gerson am 6. Dezember: "Leider muss ich Ihnen die Mitteilung machen, dass Ihr Bruder inzwischen nach Sachsenhausen gekommen ist. […] Wie mir aber hier gesagt wurde, sollen auch diejenigen, die sich im KZ befinden, wie alle Juden, evakuiert werden."

Jakob Gerson machte sich große Sorgen, wie er Edgar Haas mitteilte: "Ich habe das fürchterliche Gefühl, dass mein Bruder im KZ nicht durchhalten wird. Ich weiß, wie es dort zugeht und wenn man nicht alle Energie zusammenhält, dann ist es schlimm. Außerdem wird die Ernährung schon dafür sorgen, dass man zugrunde geht." Und am 7. Februar 1942 schrieb er: "Es sind jetzt 4 Wochen her, dass wir keine Nachricht von ihm haben. Hoffentlich ist er gesund und hat die furchtbare Kälte gut überstanden."

Im KZ Sachsenhausen hatten jüdische Häftlinge einen zermürbenden Drill zu ertragen; sie mussten stunden- und tagelang exerzieren, körperlich hart arbeiten und wurden unzureichend ernährt. Die Wachmannschaften erniedrigten und quälten sie. Leo Gerson kam am 23. Februar 1942 im KZ Sachsenhausen ums Leben. Als Todesursache wurde Kreislaufschwäche angegeben, notiert wurde auch eine eitrige Bauchfellentzündung.

Zwei Tage später benachrichtigte Jakob Gerson den Rechtsanwalt: "Gestern bekamen wir durch ein Telegramm vom Lagerkommandanten die Nachricht, dass mein Bruder an Kreislaufschwäche verstorben ist. […] Der einzige Trost, der mir bleibt, ist, dass wir nichts unversucht gelassen haben, um ihn fort zu bekommen." Edgar Haas schrieb zurück: "Ihn hatte allerdings die Haft, wie ich leider zuletzt feststellen musste, doch erheblich mitgenommen, was ja bei seinem weichen Gemüt nicht zu verwundern ist."

Jakob Gerson wurde kurze Zeit später ebenfalls im KZ Sachsenhausen inhaftiert und kam dort am 28. Mai 1942 ums Leben. Leo Gersons Schwestern Josefine Jacoby, genannt Gusta, und Franziska Goldstein wurden in Auschwitz, seine Schwägerin Franziska Alexander in Minsk ermordet. Seine Schwiegereltern Flora und Ivan Grüner starben im Getto Theresienstadt.

Nach dem Krieg lebte Leo Gersons Tochter Hilde in Amerika, später wanderte sie mit ihrem Mann, dem Rechtsanwalt Tommy Ogbe, nach Nigeria aus. Sie verstarb 2008. Leo Gersons Sohn lebte bis zu seinem 74. Lebensjahr in New York. Gertrud Gerson starb 1985 in Israel.

Am 25. August 1998 hob der deutsche Bundestag alle Urteile wegen "Rassenschande" auf.

Stand September 2015

© Birgit Gewehr

Quellen: 1; 2 (R 1939/2353); 4; StaH 332-8 Meldewesen, A 50/1 (= 741-4 Fotoarchiv, K 394); StaH 351-11 Amt für Wiedergutmachung, 44619 (Ogbe, Hilde); StaH 242-1 II Gefängnisverwaltung II, Ablieferung 13 (Strafhaftzeiten) und Ablieferung 16 (Untersuchungshaftzeiten); StaH 331-1 II Polizeibehörde II, Ablieferung 15, Band 1 (Abrechnungslisten über Schutzhaftkosten des KZ Fuhlsbüttel), Band 1; StaH 621-1/83 Firmenarchiv Edgar Haas, Nr. 1; Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten/Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen, Sterbezweitbuch des Standesamts Oranienburg Nr. 381/1942 (II), Bl. 98 und Veränder-ungsmeldung des KZ Sachsenhausen vom 23.2.1942, JSU 1/98, Bl. 050; AB Altona 1937; Ogbe, The Crumps; Informationen von Pastor Zühlke, Melanchthongemeinde Bahrenfeld, im Jahr 2007, beruhend auf handschriftlichen Aufzeichnungen der Haushälterin Frau Geercken und auf Erinnerungen von Frau Hoffmeister, einer Mitschülerin der Kinder.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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