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Gruppenbild mit Gustav und Minna Wächter
Gustav (hintere Reihe stehend) und Minna Wächter (1.v.r.) in Bispingen 1932
© Torkel Wächter

Minna Wächter (geborene Sonnenberg) * 1881

Scheideweg 35 (Eimsbüttel, Hoheluft-West)

1941 Riga

Siehe auch:

Weitere Stolpersteine in Scheideweg 35:
Gustav Wächter

Gustav Wächter, geb. am 24.10.1875 in Hamburg, deportiert am 6.12.1941 nach Riga
Minna Wächter, geb. Sonnenberg, geb. am 23.3.1881 in Hamburg, deportiert am 6.12.1941 nach Riga

Scheideweg 35

Diesen Text über seine Großeltern Minna und Gustav Wächter schrieb uns der Enkel Torkel Wächter, der lange nach deren Tod in Schweden geboren wurde und dort heute mit seiner Familie lebt.

Am 22. Dezember 1901 standen meine Großmutter und mein Großvater, Minna und Gustav Wächter, zusammen unter der Chuppa, jenem Zeltdach, das nach jüdischer Tradition das zukünftige Heim des frisch vermählten Paars symbolisiert. Fast auf den Tag genau neun Monate später gebar Minna ihren ersten Sohn, meinen Onkel John. Weitere anderthalb Jahre später wurde der zweite Sohn geboren, Onkel Max. Mein Vater Michaël, von Geburt an Walter genannt, war ein Nachkömmling, er wurde 1913 geboren. Gustav war ein Beamter mit großem Rechtsbewusstsein und starkem Glauben an die Zukunft. Minna hatte eine gute Intuition und angeblich die schönsten Augen, die man sich nur vorstellen kann, sie war Hausfrau und kümmerte sich liebevoll um ihre Familie.

Der Name Wächter stammt aus dem frühen 19. Jahrhundert, als die deutschen Juden feste Nachnamen annahmen. Vorher war es Tradition gewesen, dass der Vorname des Vaters als Nachname der Kinder in der nächsten Generation weitergeführt wurde. Gustav Wächters Urgroßvater, Tobias Elias, hatte im Einklang mit diesem Brauch seinen Nachnamen vom Vater übernommen, Elias Jacob, dessen Ahnen in dem Gebiet lebten, auf dem heute die Bundesrepublik liegt, lange bevor es etwas gab, das Deutschland genannt werden konnte. Tobias Elias war Musiker und Mitglied der jüdischen Bestattungsgesellschaft Chevra Kadischa. Er wachte in der Nacht vor der Beerdigung bei dem Toten, was als eine der vornehmsten mitzvot, guten Taten, betrachtet wurde, die ein Jude vollbringen konnte, da der Verstorbene ja keine Möglichkeit besaß, die Tat zu vergelten. Tobias Elias wurde auf Jiddisch Tobias Wacherle genannt, woraus im Hochdeutschen Tobias Wächter wurde.

Tobias Elias wurde 1783 in Hamburg und in der Deutsch-Israelitischen Gemeinde der Stadt geboren. Sein Sohn, Moritz Tobias Wächter, wurde 1812 in einem Hamburg geboren, das Napoleon annektiert und zu einer Stadt im französischen Kaiserreich gemacht hatte. Damit wurde Moritz Tobias Wächter als französischer Staatsbürger, oder Untertan, geboren, auch er war Mitglied der Deutsch-Israelitischen Gemeinde, obwohl er zeitweise in Manchester lebte, um sich dort um das Tabakwaren-Importgeschäft der Familie zu kümmern. Moritz Tobias Wächters Sohn, Hermann Wächter, wurde 1839 geboren, als Hamburg wieder eine souveräne Stadtrepublik war. Hermanns Sohn, Gustav Wächter, kam 1875 zur Welt und war damit der Erste in der Familie Wächter, der im eigentlichen Sinne als Deutscher geboren wurde.

Minna Wächter, geborene Sonnenberg, kam am 23. März 1885 zur Welt und war die Jüngste von vier Geschwistern in einer sephardischen Kaufmannsfamilie mit Verzweigungen in den Niederlanden und Dänemark. Sephardim werden die Nachfahren der Juden genannt, die 1492 aus Spanien und hundert Jahre später aus Portugal ausgewiesen wurden. Nach Hamburg gelangten die Sephardim Ende des 16. Jahrhunderts über Amsterdam. Der Hamburger Senat hatte sie eingeladen, um den Handel zu fördern, und sie waren die ersten Juden, denen es erlaubt war, sich in der Stadt anzusiedeln. Zu der Zeit wohnten die deutschen Juden, die Aschkenasim, außerhalb von Hamburg in den dänischen Gebieten Altona und Wandsbek und durften sich nur am Tage in der Stadt aufhalten.

Minna war erst zehn Jahre alt, als ihr Vater, Isaac Sonnenberg, starb, woraufhin sie unter Vormundschaft gestellt wurde. Sie wuchs in der Paulinenstiftung auf, einem Heim für elternlose Mädchen, und besuchte die Israelitische Töchterschule. Als Minna mündig wurde, fiel ihr ein Erbe von einem Onkel in Kopenhagen zu, so dass sie die Paulinenstiftung verlassen und Gustav Wächter heiraten konnte. Kurz nach der Geburt meines Vaters zog die Familie in den Eppendorfer Weg, Hausnummer 40, in eine Etagenwohnung vom Schnitt "Hamburger Knochen". 

Im folgenden Absatz erzählt mein Vater, Michaël Wächter, alias Walter Wächter, von seiner frühesten Kindheitserinnerung:
Ich glaube, dass ich eine Erinnerung aus dem Ersten Welt­krieg habe. Aber ganz sicher bin ich mir nicht, ob es eine echte Erinnerung ist, oder etwas, was meine Eltern und Brüder mir erzählt haben. Ich sitze auf dem Arm meiner Mutter und die ganze Familie ist draußen auf dem Balkon. Wir verfolgen einen der ersten Flugangriffe auf Hamburg. Es war natürlich kein Flugangriff im modernen Sinne, nichts, was sich mit dem vergleichen ließe, was später passierte. Aber es waren feindliche Flugzeuge über Hamburg und sie hatten die Absicht, Bomben abzuwerfen. Noch heute kann ich die Geborgenheit spüren, die ich in den Armen meiner Mutter empfand, und die furchtsamen Erwartungen der restlichen Familie vor mir sehen. Ob wirklich Bomben abgeworfen wurden, oder ob es ein falscher Alarm war, weiß ich nicht.

Mein Vater Michaël Wächter, alias Walter Wächter, erzählt in seinen Memoiren mit großer Wärme von Minnas Fürsorglichkeit und Liebe:
Eine andere frühe Erinnerung sind die Hamsterzüge meiner Mutter, um Essen für die Fa­milie zu beschaffen. Ich vermute, dass dies in der Endphase des Ersten Weltkriegs und vielleicht auch kurze Zeit nach dem Krieg geschah. Während langer Phasen hatten wir zu wenig zu essen und nicht genug Geld, um Lebensmittel auf dem Schwarzmarkt zu kaufen, der in der Stadt florierte. Meine Mutter verhielt sich deshalb wie so viele andere Frauen in derselben Situation auch. Sie ging zu Streifzügen aufs Land und betrieb Tauschhandel mit den Bauern. Auf die Art gelang es ihr, unsere einförmige Kost zu bereichern, die ansonsten nur aus Steckrüben, Steckrüben und nochmals Steckrüben bestand. Steckrüben in allen erdenklichen Formen. Meine Mutter hatte ähnlich wie andere Hausfrauen gelernt, Steckrüben als Rohstoff für die verblüffendsten kulinarischen Kreationen zu benutzen. Wir aßen Marmelade aus Steckrüben, "Frikadellen" aus Steckrüben. Meine Mutter backte Kuchen aus Steckrüben. Ihrer Fantasie waren offenbar keine Grenzen gesetzt, wenn es darum ging, sich neue Gerichte aus Steckrüben auszudenken. Sie hatte sich einen Riesentopf besorgt, der stets voller Steckrüben war. Sie wurden entweder als Steckrüben gegessen oder als Rohstoff für die Neuschöpfungen meiner Mutter benutzt. Meine alles andere überlagernde Erinnerung an diese Zeit ist der schwere Geruch von Steckrüben, der sich im ganzen Haus verbreitete. Er schlug einem entgegen, sobald man die Tür öffnete.

Nach dem Krieg kamen Steckrüben in meinem Elternhaus viele Jahre lang, in welcher Form auch immer, nicht mehr auf den Tisch. Meine Mutter unternahm einmal den bescheidenen Versuch, uns ein Steckrübenpüree vorzusetzen, aber die Proteste waren so heftig, dass sie den Versuch niemals wiederholte. Steckrüben lernte ich erst später zu schätzen, als ich in Schweden lebte. Während meiner Zeit auf dem Bauernhof machte ich Bekanntschaft mit Steckrübenpüree mit Speck, ein Gericht, das mir sehr zusagte.

Wenn meine Mutter von ihren Hamsterzügen heimkehrte, war es ihr immer gelungen, irgendetwas aufzutreiben. Es gelang ihr zudem ganz offensichtlich, den ständig kontrollierenden Gendarmen aus dem Weg zu gehen, die Jagd auf Hamsterer machten. Ich weiß nicht, wie sie das schaffte. Einmal kam sie mit Bucheckern zurück, die man im Allgemeinen des Aufsammelns nicht wert gefunden hätte, wir aber aßen sie mit großer Begeisterung.

Ich erinnere mich auch, dass ich mitten im kältesten Winter mit meiner Mutter an einem von Hamburgs zahlreichen Kanälen stand und auf die Ankunft eines mit Kohle beladenen Prahms wartete. Mein ältester Bruder war am frühen Morgen, vor der Schule, dorthin geschickt worden, um einen Platz in der Schlange freizuhalten. Dann wurde er von meiner Mutter abgelöst, die mich mitnahm. Ich kann die lange, gewundene Warteschlange und die schwarzen Prähme noch heute vor mir sehen. Ich kann den Geruch von Kohle und von der Kälte riechen, die in den Nasenlöchern beißt, während wir warten.

Man könnte sagen, dass es seit dem Jahre 70, als der Tempel in Jerusalem zerstört wurde und man die Juden zwang, das Heilige Land zu verlassen, zwei Hauptströmungen innerhalb der jüdischen Welt gibt. Die eine ist jene, die immer wieder auf dem Berg Massada endet. Josephus Flavius berichtet von dieser Gruppe Juden, den Sikariern, die tapfer gegen die römische Obrigkeit kämpften und in Massada lieber kollektiv Selbstmord begingen, als sich dem römischen Diktat zu unterwerfen. Die zweite Strömung ist jene, die zum Zeitpunkt der Tempelzerstörung von Jochanan ben Sakkai repräsentiert wurde. Ihm gelang es durch Verhandlungen mit den Römern, das religiöse Zentrum des Judentums von Jerusalem in die Stadt Jabne am Mittelmeer zu verlegen. Dort konnten die Schriftgelehrten in aller Ruhe diskutieren, wie man mit dem Verlust des Tempels umgehen sollte, in dem unter anderem der Opferaltar gestanden hatte, und man einigte sich darauf, die Tieropfer durch Gebete zu ersetzen, wie es bis heute im Judentum Brauch ist.

Zu Jochanan ben Sakkais Nachfolgern gehören Moses Mendelssohn, Rahel Varnhagen und die Befürworter der Haskala, der jüdischen Aufklärung, Zeitgenossen der erstgenannten und unter anderem tätig in Altona und Hamburg. Die Angehörigen von Familie Wächter waren typische Vertreter des assimilierten deutschen Judentums, das sich im 19. Jahrhundert herausbildete. Sie teilten ihr Freud und Leid mit anderen Deutschen. Im Ersten Weltkrieg wollte Gustav sich freiwillig melden, galt an seinem Arbeitsplatz jedoch als unentbehrlich. Er sah sich als deutscher Beamter, ein deutscher Staatsbürger mosaischen Glaubens. Eine seiner Lieblingsgeschichten aus der Steuerfinanzverwaltung handelte von einem Klienten, der sich bei ihm über einen Kollegen beschwerte und den Kollegen "dieser Jude" nannte. Die Pointe der Geschichte lag darin, dass der Jude gar kein Jude war und der Klient nicht wusste, dass Gustav einer war. Ich denke, Gustav wollte mit dieser Anekdote illustrieren, dass die deutschen Juden wie alle anderen Deutschen auch waren und es folglich unmöglich war zu wissen, wer ein deutscher Staatsbürger mosaischen Glaubens war und wer nicht.

Mit den folgenden Worten beschrieb Gustav sich selbst (Steuerverwaltung – Personalakten; AW 1 Bd. 1):
Besuchte die Stiftungsschule von 1815, welche ich im Jahre 1892 mit der Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligen-Dienst verließ. Alsdann wurde ich Lehrling in dem Getreidegeschäft des Herrn F. A. Schmidt hier, wo ich 3 Jahre als Lehrling und 3 Jahre als Kommis tätig war. Ich war dann noch in anderen Geschäften dieser Branche als Kommis beschäftigt, bis ich am 1. Dezember 1900 am Statistischen Bureau der Steuer-Deputation als Hülfsarbeiter anfing. Seit 1902 bin ich bei der Steuer-Deputation tätig, wo ich am 16. April 1905 zum Bureaugehülfen befördert wurde. Am 15. September 1906 habe ich die Prüfung für den unteren Verwaltungsdienst bestanden.

Nachdem Gustav zudem die Prüfungen für den mittleren Verwaltungsdienst bestanden hatte, wurde er 1921 zum Obersteuerinspektor befördert, was bei seinem Ausbildungsstand der höchste Posten war, den er bekleiden konnte. Minna und Gustav nahmen die Ausbildung ihrer Kinder sehr ernst, sie selbst hatten nicht studieren können und waren überzeugt, dass der Schlüssel zu einer guten Zukunft in der Ausbildung der Jungen lag. Michaël Wächter, alias Walter Wächter, beschreibt seinen Vater als eine Stütze der Gesellschaft, sein größtes Interesse galt der Familie, er war eine Mischung aus sanftem Familienvater und häuslichem Tyrann. Jemand, der mit seiner Familie sonntags in Eimsbüttel spazieren ging und bei der Gelegenheit stets eine Tafel Schokolade kaufte, die nahezu zeremoniell in fünf gleich große Teile zerkleinert wurde. Wenn Papiermüll auf der Straße lag, den jemand weggeworfen hatte, hob Gustav ihn auf und steckte ihn in seine Tasche, "damit das Papier nicht friert", oder legte ihn in einen Papierkorb, "damit es nicht so allein ist". Mein Vater schildert in seinen Memoiren eine Episode, die sich abspielte, als er in die Stiftungsschule von 1815 ging (später erhielt die Schule den Namen Anton Rée Realschule). Es war die Schule, die Onkel John und Onkel Max besucht hatten und vor ihnen Gustav und sein Bruder und noch früher Gustavs Vater sowie dessen Bruder.

Der Unterricht in der Schule war sehr langweilig, konventionell und wenig stimulierend. Die einzige Ausnahme bildete mein Deutschlehrer. Er war im Krieg Soldat gewesen und sein ganzes Wesen war entscheidend von seinen Kriegserlebnissen geprägt worden. Er war darüber hinaus sehr national eingestellt, aber die Erlebnisse an der Front hatten ihn veranlasst, seine Positionen zu überdenken. Er war ein nachdenklicher, sensibler und wohlwollender Mensch. Ich hing sehr an ihm und er mochte mich auch. Seine große und wahre Liebe zur deutschen Literatur war für mich stimulierend und führte mich dahin, auf eigene Faust die Perlen in der deutschen Dichtung zu entdecken.

Ich wurde ganz und gar in einer Tradition erzogen, die uns die Vorstellung vermittelte, dass deutsche Philosophie und Literatur im Grunde anderer Philosophie und Literatur eindeutig überlegen waren. So waren wir in nicht näher reflektierter Weise der Auffassung, dass Strindberg, der ja viele Jahre in Deutschland gelebt hatte, zur deutschen Literatur gehörte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt wusste, dass er eigentlich Schwede war, bevor es mich nach Schweden verschlug. Auf die gleiche Art hatten wir auch Shakespeare als deutschen Autor adoptiert. Zwar wussten wir, dass er Engländer war, aber die berühmten Übersetzungen Tiecks machten ihn zu einem Deutschen. Vor allem konnte seine Verankerung im germanischen Ideengut nicht in Frage gestellt werden. Die Überzeugung von der Überlegenheit deutscher Dichtung und Philosophie begleitete mich auch, nachdem ich Deutschland verlassen hatte. Es dauerte viele Jahre, bis ich entdeckte, dass auch in anderen Ländern sehr viel Lesenswertes geschrieben worden war. Ich benötigte noch mehr Zeit, bis ich die Mängel und die Manierismen in der literarischen Deutschtümelei sah.

Ein Konflikt, in den ich ausgerechnet mit ihm, meinem Deutschlehrer geriet, mag verdeutlichen, wie rigide die deutsche Pädagogik von damals war. So modern mein Deutschlehrer in vieler Hinsicht auch war, hatte er doch die Regel eingeführt, dass man sich bei drei Einträgen ins Klassenbuch bei ihm melden musste, woraufhin er entschied, wann man zum Rektor gehen und um den Stock bitten sollte, um anschließend die Vollstreckung der Strafe vor dem Rest der Klasse über sich ergehen zu lassen. Einzig im Büro des Rektors durfte ein Stock verwahrt werden und wenn die Prügelstrafe vollzogen werden sollte, durfte dies nur nach Anmeldung beim Rektor und mit dessen Genehmigung geschehen. Ich hatte wieder einmal meine drei Einträge im Klassenbuch und meldete dies meinem Deutschlehrer. "Dann holst du morgen in der zweiten Pause den Stock beim Rektor", sagte er. Ich hatte folglich vierundzwanzig Stunden Zeit, mich auf die Teilnahme an einer öffentlichen Vollstreckung der Strafe vorzubereiten. Das machte mich nicht sonderlich froh, eher niedergeschlagen. Als ich nach Hause kam, fand meine Mutter, dass ich ungewöhnlich still war, und begann, darin zu "bohren", was mich bedrückte. Schließlich kam heraus, weshalb ich mich sorgte. Mutter sprach mit Vater darüber. Er war, wie immer in solchen Fällen, außer sich vor Wut. Er sagte mir, dass ich den Stock nicht holen und dem Lehrer mitteilen solle, dass mein Vater mir verboten hatte, ihn zu holen. Und dass mein Vater der Meinung sei, ein Lehrer, der nicht in der Lage war, seinen Unterricht zu geben, ohne seine Schüler zu prügeln, bei seiner Aufgabe gescheitert war. Als mein Lehrer nach der zweiten Pause ins Klassenzimmer kam, stand ich auf, nervös, aber gefasst. Ich sagte ihm, warum ich den Stock nicht geholt hatte und was mein Vater mich zu sagen ermahnt hatte. Es wurde vollkommen still im Klassenzimmer. Der Lehrer stand regungslos am Lehrerpult. Vor Wut war er leichenblass. Dann sammelte er sich und erwiderte, na schön, dann würde ich im nächsten Zeugnis in Betragen als Note eben mangelhaft bekommen. So kam es dann auch. Was höchst ungewöhnlich, aber nicht weiter schlimm war, da es meinen Eltern egal war. Mein Vater schrieb stattdessen dem Lehrer einen Brief, dessen Inhalt mir nicht bekannt ist und über den mein Lehrer niemals ein Wort verlor.

Ein Mangelhaft in Betragen scherte meinen Vater nicht, ansonsten achtete er jedoch sehr auf meine Noten. Mutter und er waren in ihren Erziehungsmethoden an sich sehr frei. Wir wurden eigentlich nie bestraft. Schläge setzte es nie. Aber auch zu jener Zeit übliche Strafen wie das Verbot, hinauszugehen, dass man in sein Zimmer eingesperrt wurde, kein Essen bekam oder ähnliches kam niemals vor. Aber wenn ich schlechte Noten nach Hause brachte, reagierte Vater sehr streng. Er sprach nicht mehr mit mir und ignorierte mich völlig, nachdem er mir zuvor eine Standpauke gehalten hatte. "Schlechte" Noten waren alle, die schlechter waren, als AB in der alten schwedischen Beurteilungsskala oder Vier in der neuen (was im heute üblichen Notensystem in Deutschland schlechteren Noten als "gut" entspricht). Zum einen war Vater von den Noten meiner Brüder verwöhnt worden, die durchgängig in der Nähe der Bestnoten lagen, und zum anderen hegte er einen fast schon übertriebenen Ehrgeiz für uns. Am schlimmsten war es, wenn ich mit einer mangelhaften Klassenarbeit nach Hause kam. In solchen Fällen sprach er mitunter eine ganze Woche nicht mehr mit mir. Ich erinnere mich, dass ich mich im Bett verkroch, als ich eine schlechte Arbeit geschrieben hatte, und Mutter bat, ihm das Ergebnis mitzuteilen. Dies musste passieren, nachdem Vater gegessen hatte. Wenn es vor oder während des Essens geschah, hörte Vater nämlich auf zu essen.

Die Sommer verbrachte Familie Wächter in Bispingen in der Lüneburger Heide. Dort traf man sich mit Verwandten und anderen deutschen Familien. Aus heutiger Sicht könnte man verleitet sein zu glauben, diese ungeheuer fruchtbare Verschmelzung des Deutschen und Jüdischen hätte niemals existiert, dieses Zusammenleben wäre nicht echt gewesen, weshalb es wohl einfach so kommen musste, wie es am Ende kam, und dass deshalb alles vergebens gewesen wäre, aber das wäre falsch. Denn zwischen dem Deutschen und Jüdischen gibt es eine Affinität, die bereits Heine sah. Er nannte Juden und Deutsche die zwei ethischen Völker Europas, er ging sogar so weit, die alten Hebräer die Deutschen des Orients zu nennen. Goethe äußerte den Wunsch, dass die Deutschen in alle Welt zerstreut werden sollten wie die Juden, um wie diese danach zu streben, die Welt zu verbessern. Stefan George formulierte, Blond oder Schwarz demselben schooss entsprungne. Walter Benjamin sah Deutsche und Juden ebenfalls als Verwandte, jedoch als Gegenpole. Und Franz Kafka meinte, Juden und Deutsche haben vieles gemeinsam. Sie sind strebsam, tüchtig, fleißig und gründlich verhaßt bei den anderen.

In der Wohnung im Eppendorfer Weg 40 hielt Familie Wächter regelmäßig einen Salon ab, lustige Abende bei den Wächtern der Fröhlichkeit, mit Vorträgen, Klavier- und Geigenkonzerten, Sketchen und kleinen Theaterstücken, aufgeführt von den drei Brüdern und ihren Freunden. Das Interesse am Theater pflegte die Familie zudem im Hamburger Gesellschaftsverein von 1906 e.V. Für Onkel Max sollte das Theater zum Beruf werden, nachdem er eine Lehre in einer Privatbank abgebrochen hatte. Onkel John schlug genau wie Gustav die Beamtenlaufbahn ein und der jüngste Sohn Walter stand gerade im Begriff, ein Universitätsstudium aufzunehmen, als sich alles änderte.

In einem Brief der Nationalsozialistischen Beamtenarbeitsgemeinschaft, Fachschaft Finanzämter, vom 28. März 1933 wurde Gustav angezeigt. Es handele sich bei ihm um einen bewusst gegen den Staat und die national denkenden Beamten kämpfenden Juden.

Es war der Beginn eines Prozesses, der ein gutes halbes Jahr andauern sollte. Alle Kollegen Gustavs wurden vernommen und Gustav selbst schrieb unzählige Stellungnahmen zu seiner Verteidigung. Der gesamte Vorgang befindet sich im Hamburger Staatsarchiv und liest sich ähnlich wie ein Roman von Franz Kafka. In seinen Memoiren erzählt Michaël Wächter, alias Walter Wächter, fünfzig Jahre später:
Ich sehe ihn immer noch vor mir, wie er in der Wohnung auf und ab geht, über vernichtende Formulierungen nachdenkend. Wenn er ein Schreiben verfasst hatte, las er es uns, seinen Söhnen, vor. Es fiel uns oft schwer, nicht aus der Rolle zu fallen. Meine Brüder und ich erkannten ziemlich schnell, dass es keine Rolle spielte, wie die Sachlage war oder wie gut unser Vater formulierte. Sein Optimismus und sein Glaube an das System, dem er sein Leben lang gedient hatte, war unerschütterlich, auf jede kleinste Andeutung, dass es keine Rolle spielte, was er tat, reagierte er aufgebracht. Sein ungebrochener Kampfgeist und sein naiver Glaube, dass es darauf ankam, für die Gerechtigkeit zu kämpfen, und dass diese Gerechtigkeit am Ende siegen würde, hatte etwas zugleich Tragikomisches und Großes.

Im Jahre 1933 verloren alle Familienmitglieder ihre Arbeit, und Gustavs geliebte Stiefmutter, Lea Wächter, die mit der Familie im Eppendorfer Weg zusammenwohnte, starb an einem Schlaganfall. Minna wurde vor Sorge krank, bekam Probleme mit dem Magen und musste im Herbst von Doktor Paul Bonheim wegen eines Analprolapses operiert werden. Max, der in Berlin in der Filmindustrie Fuß gefasst hatte, musste mit seiner Ehefrau Dora nach Hamburg zurückkehren, er war auf den Jüdischen Kulturbund angewiesen. John, der aktives Mitglied der SPD gewesen war, zog mit seiner Ehefrau Else mehrmals um, um nicht verhaftet zu werden. Im Sommer 1933 wurde sein jüngerer Bruder Walter eingesperrt, der ebenfalls politisch aktiv gewesen war, aber er wurde nach ein paar Tagen wieder freigelassen. Um zu vermeiden, dass Walter erneut verhaftet wurde, zogen Minna, Gustav und Walter im Herbst 1933 von Eimsbüttel nach Barmbek. Ein Jahr später zogen sie erneut um, und als Onkel Max im Sommer 1938 Hals über Kopf nach Buenos Aires floh, zogen Minna und Gustav in dessen Wohnung im Scheideweg 35 (wo Dora weiterhin mit ihrer und Max’ Tochter wohnte), um bei der Betreuung des Enkelkindes zu helfen. Es war Minnas und Gustavs letzte Adresse in Hamburg, und im Scheideweg befinden sich die Stolpersteine zum Gedenken an Minna und Gustav Wächter.

Im Frühjahr 1935 wurden zunächst Walter und kurze Zeit später John verhaftet. Sie saßen eine Zeit lang beide in Isolationszellen im Keller des Konzentrationslagers Fuhlsbüttel und anschließend im Zuchthaus, beziehungsweise Gefängnis. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, befanden sich die drei Brüder Wächter jedoch in relativer Sicherheit, auf der Flucht in Argentinien, Brasilien sowie Schweden. Allen war die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt worden. Minna und Gustav blieben in Hamburg. Sie wurden am 6. Dezember 1941 deportiert.

Man könnte sagen, als der Zug mit Minna und Gustav Wächter Hamburg verließ, endete die Geschichte, die damit begann, dass Tobias Elias den Familiennamen Wächter annahm. Minna und Gustav sind all ihrer Besitztümer, ihrer Würde und ihrer deutschen Staatsbürgerschaft beraubt worden, Familie Wächter aus Hamburg existiert nicht mehr. Aber es gibt eine Fortsetzung der Geschichte von Minna und Gustav und ihrer deutsch-jüdischen Familie. Ich denke nicht an das, was geschah, als der Zug Riga erreichte, weil dies nichts mit den Personen zu tun hat, die meine Großmutter und mein Großvater waren. Ich denke vielmehr an meine Kinder, Minnas und Gustavs Urenkel. Sie haben Minnas Augen und Gustavs Optimismus geerbt und sie haben die deutsche Staatsbürgerschaft zurückerhalten, die ihren Vorfahren genommen wurde. Wenn wir auf dem Weg zur Deutschen Schule in Stockholm durch die Fußgängerallee in der Mitte des Karlavägens gehen, sprechen wir oft über meine Großmutter und meinen Großvater. Für mich geht die Geschichte von Minna und Gustav Wächter unter den Linden des Karlavägen weiter. Sie geht weiter mit dem hebräischen Wort Zachor, der Ermahnung, sich zu erinnern, das in der hebräischen Bibel 169 Mal vorkommt. Zachor weist nicht in die Vergangenheit, sondern in Gegenwart und Zukunft. Das Erinnern ist eine Aktivität, der man sich in der Gegenwart widmet und die in die Zukunft weist. Indem wir uns erinnern, halten wir die Vergangenheit lebendig.

© Torkel Wächter

Quellen: 1; 4; 8; Landgericht Hamburg Wg- und R-Akten, Sign 24 09 02, 19 06 04 und 26 05 13; StaH 313-5 Steuerverwaltung-Personalakten A W 1 Band 1; StaH 313-5 Steuervewaltung-Personalakten A W 1 Band 2; StaH 313-5 Steuerverwaltung-Personalakten A W 1 Anlageheft; StaH 214-1 Gerichtsvollzieherwesen 691; StaH 522-1 Jüdische Gemeinden, Sign. 487 Fasc. 1 Korrespondenz mit dem Paulinen-Stift 1856-1913; StaH 522-1, Sign. 487 Fasc. 3 Mädchen-Waisenhaus (Paulinenstift) 1900–1936; StaH 232-1 / Vormundschaftsbehörde Hamburg/Abteilung II 4106; StaH 362-2/13 Aufbauschule Hohe Weide; Zentrum für Theaterforschung an der Universität Hamburg, wo Dr. Barbara Müller-Wesemann einige Tagebücher von Max Wächter archiviert hat; www.32postkarten.com; Hamburger Abendblatt vom 19./20.11.2011, S. 17; Hinz & Kunzt Nr. 232/2012, S. 32ff.

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