Namen, Orte und Biografien suchen


Bereits verlegte Stolpersteine



Hedwig Pohl * 1896

Claudiusstieg 6 (Wandsbek, Marienthal)


HIER WOHNTE
HEDWIG POHL
JG. 1896
DEPORTIERT 1942
ERMORDET 1943 IN
AUSCHWITZ

Weitere Stolpersteine in Claudiusstieg 6:
Hermine Leib, Julius Pohl

Hedwig Pohl, geb. 15.2.1896, deportiert am 11.7.1942 nach Auschwitz
Prof. Dr. Julius Pohl, geb. 11.1.1861, verstorben am 29.9.1942 in Hamburg

Claudiusstieg 6 (Klopstockstraße 6)

Julius Pohl führte als Pharmakologe Tabakforschungen durch. Das Rauchen war – anders als heute, wo Staat und Arbeitgeber ihm Einhalt gebieten – auf dem Vormarsch, und wurde durch die Zigarettenindustrie gefördert und wissenschaftlich begleitet. Julius Pohl befand sich eigentlich bereits im Ruhestand, als er mit Ehefrau und Tochter nach Wandsbek zog, wo Tabakhandel und die Herstellung von Zigarren Tradition hatte, inzwischen waren allerdings Zigaretten bei den Konsumenten gefragter. An seiner neuen Wirkungsstätte, der Zigarettenfabrik Haus Neuerburg, fand Pohl optimale Bedingungen für seine Forschungen vor, handelte es sich doch um einen Branchenriesen. 1928 nahm er seine Arbeit im kurz zuvor errichteten Fritz-Höger-Bau in der Walddörfer Straße 103 auf, wo dem Tabakforscher ein gut ausgestattetes Laboratorium zur Verfügung stand. Pohl leitete dieses sechs Jahre lang. Er lebte mit seiner Familie in Marienthal, Klopstockstraße 6 und bezog seit dem 1. Januar 1934 ein Ruhegehalt der Universität Breslau in Höhe von 600 RM.

Die Pohls stammten aus Prag und waren römisch-katholischer Konfession. Julius Pohl, als Sohn von Leopold Pohl und dessen Ehefrau Louise, geb. Kantor in Prag geboren, hatte dort Medizin studiert und war 1884 promoviert worden. 1892 habilitierte er sich. Drei Jahre später wurde er außerordentlicher und 1897 ordentlicher Professor der Pharmakologie und Pharmakognosie (hier: Lehre von pflanzlichen pharmazeutischen Drogen). 1911 erhielt er einen Ruf als Ordinarius an die Universität Breslau. Bisher österreichisch, wurden er und seine Angehörigen nun preußische Staatsbürger. Pohl wirkte in Breslau, bis er 1928 als Geheimer Medizinalrat in den Ruhestand trat. Seit 1926 war er Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Er veröffentlichte u.a. 1929 zusammen mit Emil Starkenstein und Eugen Rost ein Standardwerk zur Toxikologie.

Julius Pohl hatte 1895 Hedwig, geb. Wien (Jg. 1867) geheiratet. Am 15. Februar 1896 bekamen die Eheleute die Tochter Hedwig, zwei Jahre später den Sohn Franz. Dieser meldete sich als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg, erkrankte jedoch und starb 1916 im Alter von 18 Jahren.

Über das Leben der Tochter Hedwig Pohl ist wenig bekannt. Eine Berufstätigkeit ist nicht dokumentiert. Als sie mit den Eltern nach Wandsbek kam, war sie 32 Jahre alt und nicht verheiratet. Die Vermutung liegt nahe, dass sie im Elternhaus ein Leben ohne materielle Sorgen führte. Die Pohls waren nicht nur als Zugereiste, sondern auch als Katholiken in einer im mehrheitlich protestantischen Hamburg in einer eher ungewöhnlichen Position.

Durch die "Nürnberger Gesetze" wurden sie 1935 dann zu Juden erklärt und allen antijüdischen Maßnahmen unterworfen, ohne dass sie sich dieser Minderheit zugehörig gefühlt hatten. Der erfolgsgewohnte Vater brach zusammen. Die Tochter schrieb in seinem Auftrag am 7. Oktober 1935 an den Wandsbeker Oberbürgermeister Friedrich Ziegler:

"An den Oberbürgermeister Dr. Ziegler
... Nun kommt meine Anfrage, deren baldige Erklärung ich sehr erbitte. Dazu die folgenden Daten: Schon meine Großeltern sind am katholischen Friedhof in Prag begraben. Meine beiden Eltern, jüdisch geboren, sind seit mehr als 50 Jahren katholisch getauft und vor 40 Jahren in Prag katholisch getraut. Ich selbst und mein verstorbener Bruder bin christlich-katholisch geboren, getauft und erzogen. Dementsprechend war und bleibt unser Haushalt und die Führung unserer Hausangestellten immer gut christlich. Politische Beeinflussungen unserer Hausangestellten, die jahrelang bei uns tätig ist, sind ausgeschlossen ... Alle Spenden für die Partei wurden selbstverständlich, so oft diese gefordert wurden geleistet, da mein Vater als alter deutscher Staatsbeamter sich besonders dazu verpflichtet fühlte.
Nach allem hier mitgeteilten können wir nicht fassen, dass die neuen Gesetze vom 15. Sept. 35, die uns Christen plötzlich zu Volljuden machen sollen, auch für uns die angegebenen Folgen: (nicht Flaggen, 45jährige Hausangestellte etc.) haben sollen. Dadurch ist mein Vater derzeit in einem Zustand völligen Zusammenbruches, da er sich stets des größten Ansehens in der Welt erfreute und die offiziellen Maßnahmen, die auf die neuen Gesetze hin erfolgen sollen, würden seinen Lebensabend, das Leben meiner im Krankenhaus liegenden todkranken Mutter und auch meine Zukunft völlig vernichten. ... Da für die Gesetze keine offizielle Erklärung erfolgt ist, bitte ich zu entschuldigen, dass ich mir in meiner Verzweiflung erlaube, Sie Herr Oberbürgermeister anzurufen! Ich bitte Sie, diese Angelegenheit unter Berücksichtigung der angeführten Umstände in menschlich verstehender Art zu entscheiden! ... Ich hoffe auf baldigen Bescheid in dieser unverschuldet qualvollen Lage und auf Ihre Entscheidung. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst von den zuständigen Ortsbehörden wenden sollte."

Die gesetzlich geschaffene Verwirrung, in die nicht nur die Familie Pohl geraten war, gipfelte in der Frage, wie man gleichzeitig christlich und jüdisch sein konnte. Dass zu diesem Zeitpunkt noch niemand so recht über die Umsetzung der Gesetze Bescheid zu wissen schien, verdeutlicht das Verhalten des Oberbürgermeisters, der den Brief "mit der Bitte um Kenntnisnahme und Mitteilung, was ich antworten kann" an den Zweiten Bürgermeister Eggers sandte. Dieser war wohl der wahre Herrscher im Wandsbeker Rathaus und hatte als Kreisleiter der NSDAP die Intention der Gesetze auf Anhieb verstanden, wie seine Antwort an Hedwig Pohl vom 26. Oktober zeigte: "Aufgrund Ihres an Herrn Oberbürgermeister Dr. Ziegler gerichteten Briefes vom 7. Oktober d. Js. und Ihres an mich gerichteten Schreibens vom 21. d. Mts. teile ich Ihnen mit, dass die Bestimmungen der in Nürnberg am 15.9.1935 erlassenen Gesetze auf Sie Anwendung finden, da, wie Sie selbst angeben, Ihre beiden Eltern jüdisch geboren sind, mithin blutsmäßig zur jüdischen Rasse rechnen. Kreisleiter"

Die Gesetze wurden allerdings erst Mitte November 1935 präzisiert. Sie brachten bezogen auf die Familie Pohl, die wohl auf Ausnahmeregelungen hoffte, keine positiven Veränderungen. Als "Juden" galten nun auch alle Personen, die nicht mehr dem Judentum angehörten, aber mindestens drei jüdische Großeltern besaßen.

Am 27. Oktober 1935 wandte sich Hedwig Pohl wieder an OB Ziegler und bat darum, ihr ihren Brief zurückzuschicken. Ziegler sandte die Karte an Eggers "mit der Bitte um Rückgabe des von mir Ihnen übergebenen Schreibens". Das war offenbar abgelehnt worden, denn am 28. Oktober 1935 schrieb ihr Ziegler: "Auf Ihren Kartenbrief vom 27. d. Mts. erwidere ich ergebenst, dass ich bedaure, Ihnen das an mich gerichtete Schreiben vom 7.10.1935 nicht aushändigen zu können, da es Gegenstand unserer Prüfung der gesetzlichen Bestimmungen gewesen ist. Es kann somit aus den Akten der städtischen Verwaltung nicht wieder entfernt werden. Dadurch, dass Ihr Schreiben Bestandteil der Akten der städtischen Verwaltung geworden ist, ist auch das Erfordernis der Amtsverschwiegenheit gesichert. D.O.B."

Dass sich die Familie Pohl durch diese Antwort hat beruhigen lassen, darf bezweifelt werden. Vielmehr wird sie mit dem bitteren Gefühl zurückgeblieben sein, sich anvertraut und preisgegeben zu haben.

Zu den Folgemaßnahmen der "Rassegesetze" gehörte auch die zwangsweise Eingliederung der Familie ab 1939 in den Jüdischen Religionsverband. Vater und Tochter wurden zur Zahlung von Gemeindesteuern verpflichtet. Während Hedwig Pohl 1940 lediglich ein sogen. Kopfgeld von 12 RM zu entrichten hatte, zahlte ihr Vater bis einschließlich 1942 Kultussteuern, abzüglich anteiliger Kirchensteuern. Die Höhe seiner Abgaben weisen auf einen vermögenden Hintergrund hin.

Dessen ungeachtet hatte sich die Situation im Haus an der Klopstockstraße weiter verschlechtert. Die Eltern waren pflegebedürftig, die Tochter musste sie versorgen.

Vermutlich auf Vermittlung des Jüdischen Religionsverbandes kam am 3. September 1941 Hermine Leib ins Haus (s. Kap. Leib), die bisher im Alten- und Siechenheim des Jüdischen Religionsverband gearbeitet hatte. Doch wenige Wochen später erhielt diese den Deportationsbefehl. Am 25. Oktober 1941 sollte sie Hamburg Richtung Lodz verlassen. Hedwig Pohl sah sich wieder auf sich allein gestellt.

Im Januar 1942 erließ die Devisenstelle eine Sicherungsanordnung. In einer Anlage zum Fragebogen, in dem die Vermögenswerte einzutragen waren, schilderte Hedwig Pohl die desolate Situation, in der sich die Familie befand: "Hausangestellte zurzeit keine gehalten, weil ich niemand bekommen kann, da Prof. Pohl gelähmt, 80 Jahre alt ist u. Frau Pohl 74 Jahre alt u. mit blutendem Magengeschwür bettlägerig u. dauernd pflegebedürftig ist. Bitte dieses ... zu berücksichtigen. Die Tochter ist ganz allein für Haushalt u. Pflege usw. (zuständig). Bitte überhaupt vielmals, da ich wg. oben aufgeführter Krankheiten u. Alters von Herrn u. Frau Pohl derzeit nicht umziehen kann, da beide lt. ärztlichem Attest transportunfähig sind, den genehmigten Betrag möglichst hoch festzustellen, weil ja die Wohnungsmiete so hoch ist."

Die Miete betrug 275 RM kalt. Die monatlichen Ausgaben für sich und ihre Eltern bezifferte Hedwig Pohl auf 650 RM. Die Summe wurde kurzfristig bewilligt, ab 1. März 1942 jedoch auf 550 RM abgesenkt, möglicherweise, weil Julius Pohls Ehefrau inzwischen verstorben war. Vater und Tochter mussten Wandsbek nun doch verlassen. Am 12. Februar 1942 bezogen sie Quartier in Hamburg-Eimsbüttel, Kielortallee 22, einem Haus der Oppenheimer-Stiftung, das nun als "Judenhaus" diente. Damit gehörten die Pohls zu jenen, die relativ spät aus Wandsbek wegzogen. Fünf Monate später erhielt Hedwig Pohl den Deportationsbefehl.

Was sollte nun aus ihrem Vater werden? Julius Pohl wurde am 10. Juli 1942 im Jüdischen Pflegeheim, Laufgraben 37, aufgenommen. Hier fand vermutlich auch der Abschied zwischen Vater und Tochter statt, bevor sich Hedwig Pohl zur Sammelstelle an der Moorweide begab. Sie wurde am 11. Juli 1942 nach Auschwitz deportiert, wo sich ihre Spur verliert. Sie war 46 Jahre alt. So bestätigte sich, was sie sieben Jahre zuvor in ihrem Brief an den OB ahnungsvoll geschrieben hatte: dass die Nürnberger Gesetze und die Folgemaßnahmen ihre Zukunft völlig vernichten würden.

Ihrem pflegebedürftigen Vater legte man eine Übersiedlung in die "Alten-Heimstätte des Gettos Theresienstadt" nahe. Wie viele betagte Juden unterschrieb auch Julius Pohl einen entsprechenden Heimeinkaufsvertrag, mit dem er sein gesamtes Vermögen für Unterbringung und Versorgung in der vermeintlich komfortablen Heimstätte Theresienstadt übertrug. Dafür löste er noch eine Hypothek ab.

Julius Pohl erreichte Theresienstadt nicht mehr. Er starb am 29. September 1942 im Alter von 81 Jahren im Pflegeheim. Ein Stolperstein wurde dennoch für ihn gesetzt, denn der frühere Geheimrat wurde zwar nicht deportiert, musste jedoch mindestens sieben Jahre lang alle gegen Juden gerichtete Verfolgungsmaßnahmen erdulden.

© Astrid Louven

Quellen: 1; 2 R 1942/13, R 1939/491; StaHH 992e-2 Deportationslisten Hamburg; 4; AB 1929 VI; Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 8, S. 19; Astrid Louven, Juden, S. 191–192, 214f., 228; Aleksandar-Sasa Vuletic, Christen, S. 25f., 31.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

druckansicht  / Seitenanfang