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Bereits verlegte Stolpersteine



Anna Reichmann
© Privatbesitz

Anna Reichmann * 1896

Reeperbahn 15 (Hamburg-Mitte, St. Pauli)


HIER WOHNTE
ANNA REICHMANN
JG. 1896
FLUCHT HOLLAND
DEPORTIERT 1942
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Weitere Stolpersteine in Reeperbahn 15:
Berta Reichmann, Markela Reichmann, Theodor David Reichmann

Anna Reichmann, geb. 24.2.1896 in Hamburg, deportiert 1942 aus den Niederlanden, ermordet am 30.9.1942 in Auschwitz
Berta (Bertha) Reichmann, geb. Klein, geb. 12.1.1862 in Budapest, deportiert am 12.12.1942 aus dem Lager Westerbork in den Niederlanden nach Auschwitz
Markela (Margarethe, Grete) Reichmann, geb. 23.6.1892 Budapest, deportiert am 15.12.1942 nach Auschwitz
Theodor David Reichmann, geb. 16.4.1897 Hamburg, deportiert am 24.8.1942 aus dem Lager Westerbork in den Niederlanden nach Auschwitz, ermordet dort am 30.9.1942

Reeperbahn 15 (Reeperbahn 14)

Kurz nach Ostern 1934 zogen die Geschwister Markela, Anna und Theodor Reichmann mit ihrer Mutter Berta von Hamburg nach Holland, um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Die Wohnung der Reichmanns auf der Reeperbahn 14 – dieses Haus wurde Ende des Krieges zerstört und trug nach dem Krieg die Hausnummer 15 – lag im 2. Stock. Den Kontakt zu ihren zurückbleibenden Verwandten (Theodors Ehefrau und Tochter) brachen sie ab. Vor ihrer Emigration sagte Berta: "Wir wollen so lange, wie Hitler an der Regierung ist, keine Kontakte miteinander haben", und sie brachte ihre Befürchtung zum Ausdruck, die in Hamburg Verbleibenden könnten Schaden nehmen, wenn sie Verbindungen zu Juden in Holland hätten. Die Reichmann-Geschwister, die bereits in Hamburg "alle mit dem Theater zu tun" hatten, gründeten in Den Haag eine Tanzschule, so erzählte Aenni ter Muradian, die Tochter Theodor Reichmanns.

Über die frühere Familiengeschichte wissen wir Folgendes: Die Tänzerin Berta Klein lernte ihren späteren Ehemann, den Tänzer und Schauspieler Emil Reichmann, einen Tschechen, in der Nähe von Pilsen (Plzen) kennen. Sie hatte mit ihm vier Kinder: Markela, Rudolph, Anna und Theodor David. Markela und Rudolph wurden in Budapest geboren. Spätestens Anfang 1896 zog Berta Reichmann mit ihrem Mann nach Hamburg, wo sie die beiden jüngeren Kinder Anna und Theodor zur Welt brachte. Emil Reichmann verstarb unbekannten Datums (jedoch vor 1922) in Prag.

Im Jahr 1927 zahlte die Witwe Reichmann Kultussteuern. Später wurde sie steuerlich nicht mehr veranlagt. Am 9. April 1934 schied sie gemeinsam mit ihrer Tochter Anna aus der Jüdischen Gemeinde Hamburgs aus und zog nach Holland.

Die Enkelin Aenni erinnert sich gern an die Zeiten in der großen Wohnung auf der Reeperbahn, auch weil sie dort viel Geborgenheit erfahren hat, die ihr die Großmutter gab. Berta "hat gekocht und dann gesagt zu ihren beiden Mädchen: ,Geht mir raus aus der Küche. Ihr braucht schöne Hände für eure Männer!’"

Markela trat zunächst als Artistin auf, zog sich aber – wohl auch, weil sie nicht so erfolgreich war wie ihre Schwester Anna – zurück, um ihrer Mutter im Haushalt zu helfen. Sie blieb ledig. Laut Kultussteuerkarte verzog sie am 3. Juli 1934 ins Ausland, sie wanderte mit der Familie nach Holland aus. Nur wenige Wochen zuvor, am 21. Juni 1934, musste sie erstmals bei der Jüdischen Gemeinde als Artistin einen geringen Steuerbetrag zahlen.

Berta bekam zwischen 1893 und 1896 ihr zweites Kind, Rudolph. Er wurde Geiger. Seine Nichte sagt über ihn: "Er konnte nicht tanzen, aber hatte eine ungarische Kapelle!" Sie hält ihn für verschollen, denn er "wohnte zuletzt in der Davidstraße und dann war er verschwunden. Seine Frau Lotte wurde auch geschieden und sie hat nie wieder was von ihm gehört." Auf der Kultussteuerkarte seiner Mutter Berta ist er als einziges der vier Kinder nicht eingetragen.

Anna war ebenfalls Tänzerin und lebte in "wilder Ehe" mit Ludwig ,Lazi’ Traube. Bei der Jüdischen Gemeinde wurde sie als Angestellte geführt und von 1929 bis 1931 steuerlich veranlagt. Ihre Nichte erzählt, sie habe mit ihrem Verlobten zusammen das "Ballhaus Hölle" betrieben und das Zirkusvarieté im Zirkusweg gepachtet. Nachdem Anna 1934 nach Den Haag emigriert war, versuchte sie, dort eine Existenz aufzubauen. Ihre Nichte erzählt: "Die Reichmanns hatten eine Tanzschule, aber ich nehme an, dass meine Tante, also Anna, die treibende Kraft war. Ein befreundetes Artistenpaar aus Südamerika erzählte nach dem Krieg, Onkel Lazi und Tante Anna hätten in Holland die Schule aufgebaut und nachher nicht halten können."

Theodor war das jüngste der Geschwister Reichmann. Er war tschechischer Staatsbürger, und heiratete 1919 die 1898 in Hamburg geborene, evangelisch getaufte Marie (Mia) Habrücker. Sie bekam mit ihm zwei Kinder: Im Jahr 1920 einen Sohn, Rudolph, der nur wenige Tage lebte, und die Tochter Aenni, die sie am 1. Dezember 1922 im Hafenkrankenhaus zur Welt brachte. Theodor arbeitete 1920 als Inspizient am Operettenhaus in Hamburg "und nachher" – so sagte seine Tochter – "als jugendlicher Held und Liebhaber". Die Kultussteuerkarte verzeichnete ihn zunächst als Schauspieler, später als Expedient. Seine Frau litt unter den Affären ihres Mannes, sodass sich die Eheleute 1933 trennten. Die Ehe wurde jedoch erst 1938 wegen "Rassenschande" geschieden – so die Erinnerung der Tochter. Über den Abschied von ihrem Vater und dessen Mutter sagt sie: "Meinen Vater habe ich zuletzt 1934 Ostern gesehen. Und ich weiß das so genau – ich hab dann wohl hinterher bitterlich geweint – und da ist meine Mutter hinterher mit mir in die Talstraße gegangen, da war damals ein Süßwarengeschäft. Da hat sie gesagt: ,Wein mal nicht. Vati und Omi kommen ja wieder.’ Und dann hat sie mir große Mengen Ostereier gekauft. Das war das letzte Mal."

Theodor Reichmann war nach dem Verzug aus der Reeperbahn 14 noch in der Elbstraße 42, der Altonaerstraße 5 und auf dem Schulterblatt 106 gemeldet. Ausgeschieden aus der Jüdischen Gemeinde ist er mehrfach: Erstmals am 11. September 1934 durch "Abmeldung/Reisen", ein weiteres Mal im September 1935 mit dem Vermerk "auf Reisen". 1936 galt er schließlich als "unbekannt verzogen". Nach den Daten befragt vermutet seine Tochter, in deren Erinnerung alle vier Familienmitglieder zusammen nach Holland ausgewandert sind: "Vielleicht ist er noch mal kurz wieder von Holland hierher gekommen. Er war eigentlich ein begeisterter Hamburger."

Aenni ter Muradian beschreibt ihren Vater als liebevollen und sehr unterhaltsamen Menschen. "Wenn Mutti ihm Vorwürfe machte, kniete er sich hin, nahm seinen Strohhut in die Hand und spielte darauf ihr Liebeslied vor." Er war im "mosaischen Glauben" aufgewachsen, hatte jedoch eine sehr tolerante Haltung in religiösen Fragen und feierte auch christliche Feiertage. Er war damit einverstanden, dass seine Tochter im christlichen Glauben erzogen wurde. Diese sagt über ihre Familie väterlicherseits: "Die hatten zwar allerhand jüdische Bekannte, die freitags zum Essen kamen mit Leuchter und so weiter, aber das hielt sich alles in Grenzen. Sie waren ja Theaterleute und hatten auch viele Beziehungen zu anderen Religionen."

Die Netherlands Tracing Mission erklärte in einem Schreiben vom 31. Juli 1951: "Theodor David Reichmann, geboren am 14. April 1897 in Hamburg wurde am 24. August 1942 von Westerbork nach Auschwitz deportiert. Es wird angenommen, dass er dort am 30. September 1942 infolge von Krankheit, Erschöpfung oder Vergasung verstorben ist." Der Deportationszug vom 24. August 1942 brachte 519 Menschen in das Vernichtungslager.

Die letzte Meldeadresse Berta Reichmann-Kleins wird vom Informatiebureau van het Nederlandsche Roode Kruis mit "Pieter v. d. Zahdestraat 38, Den Haag" angegeben. Weiter informiert das Schreiben vom 31. März 1948: "Eine von der damaligen Besatzung, oder in deren Auftrag, zusammengestellte Liste, genannt ,Judentransport aus den Niederlanden’, ,Lager Westerbork’ datiert am 12.12.1942, auf der ihre Personalien vorkommen auf ,Blatt’ R 16. No. 241. In Erwägung gezogen, dass seit der Deportation von der Gesuchten oder über sie nichts mehr vernommen wurde; dass weiter im Allgemeinen alle nach Auschwitz deportierte Personen nach Ankunft sofort im Lager vergast wurden und dann kremiert; kann festgestellt werden, dass die vornerwähnte Bertha Reichmann-Klein am, oder ungefähr am 15. Dezember 1942 in, oder in der Umgebung von Auschwitz zufolge Vergasung gestorben ist." Mit dem Zug vom 12. Dezember 1942 wurden 757 Menschen aus Westerbork deportiert. Sie kamen am 14. Dezember in Auschwitz an.

© Christiane Jungblut

Quellen: 1; 4; 5; 8; Persönliche Gespräche mit Aenni ter Muradian am 30.3.2007 und am 12.11.2008; aus Privatbesitz: Geburtsurkunde Theodor Reichmann, Geburtsurkunde Anna Reichmann, Informatiebureau van het nederlandsche roode kruis, 31.03.1948, Netherlands Tracing Mission: Cables: "INFOREFUG" Arolsen, No.: 23287/I/1 A; Reichmann, Theodor David".
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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