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Bereits verlegte Stolpersteine



Sitzender Gustav Brecher
Gustav Brecher
© Zentralbibliothek Zürich

Gustav Brecher * 1879

Dammtorstraße 28 (Oper) (Hamburg-Mitte, Neustadt)

Flucht in den Tod Mai 1940 Ostende
1938 Flucht nach Belgien

Siehe auch:
  • http://www.verstummtestimmen.de/
    (Die Stolpersteine vor der Staatsoper wurden aus Anlass der Ausstellung 'Verstummte Stimmen' verlegt. Weitere Informationen finden Sie unter dem vorstehenden Link)

Weitere Stolpersteine in Dammtorstraße 28 (Oper):
Dr. Max Fraenkel, Hermann Frehse, Camilla Fuchs, Mauritz Kapper, Jacob Kaufmann, Ottilie Metzger-Lattermann, Kurt Abraham Salnik, Joseph Schmidt, Magda Spiegel, Viktor Ullmann, Bruno Wolf

Gustav Brecher, geb. am 5.2.1879 in Eichwald (Dubí) bei Teplitz (Teplice), verschollen seit Mai 1940 in Ostende (Belgien)

Dammtorstraße 28 (Oper)

Gustav Brecher wurde 1879 im nordböhmischen Eichwald (Dubí) bei Teplitz (Teplice) zu Zeiten der österreich-ungarischen Doppelmonarchie geboren. Er wuchs in einem wohlhabenden und musikalisch interessierten Elternhaus auf und erhielt früh Klavierunterricht. Sein Vater Dr. med. Alois Brecher (geb. 23.3.1831 in Prößnitz bei Olmütz/Mähren) leitete in dem Kurort Eichwald nahe der deutschen Grenze die Wasserheilanstalt. 1889 zog die Familie mit dem zehnjährigen Gustav Brecher nach Sachsen, wo sein Vater in Leipzig das Johanna-Bad (Blücherstraße 18/Ecke Uferstraße) bis ins Jahr 1900 betrieb. Seine Mutter war Johanna Brecher, geb. Bernays (geb. 12.5.1840 in Hamburg), Tochter des orthodoxen Hamburger Oberrabbiners Isaac Bernays (1792–1849). Ihr Bruder, Prof. Dr. Jacob Bernays (1824–1881) war klassischer Philologe an der Universität Bonn, ein anderer Bruder, Prof. Dr. Michael Bernays (1834–1897) war Literaturgeschichtler an der Universität München. Die Eheleute Brecher hatten drei Kinder: Sara (geb. 28.2.1867 in Brünn), Dora (geb. 13.8.1872 in Eichwald bei Teplitz) und Gustav (geb. 5.2.1879 in Eichwald bei Teplitz). 1913 starben die Eltern Alois und Johanna Brecher, sie wurden auf dem Alten Israelitischen Friedhof in Leipzig (Berliner Straße 123) beerdigt.

Gustav Brecher besuchte das Nikolai-Gymnasium in Leipzig und erhielt Unterricht bei dem Komponisten, Pianisten und Musiktheoretiker Salomon Jadassohn (1831–1902), der Direktor des Leipziger Konservatoriums war. 1896 wurde Brechers frühe Tondichtung "Rosmersholm" (nach Ibsen) im Leipziger Liszt-Verein vom Gastdirigenten Richard Strauss aufgeführt, zu diesem Zeitpunkt war Brecher noch Gymnasiast. Ein Jahr später begann er sein Musikstudium am Leipziger Konservatorium und debütierte im gleichen Jahr als Dirigent in Leipzig. In diesem Jahr wurde auch seine Sinfonische Phantasie "Aus unserer Zeit" von Richard Strauss in München und Berlin uraufgeführt.

Ab 1899 tauchte er im Leipziger Adressbuch mit einem eigenen Eintrag auf, obwohl weiterhin bei den Eltern in der Straße "Czermaks Garten 14" wohnend. Er wurde dort mit der Berufsangabe "Correpetitor a. Stadttheater" (1899) und "Correpetitor" (1900) vermerkt. (Ein Korrepetitor begleitet Darsteller während der Übungsphase am Klavier, d.h. ersetzt das Orchester, das diese Aufgabe später bei der Aufführung übernimmt.) Im Leipziger Adressbuch von 1901 war er bereits mit eigener Wohnadresse und geänderter Berufsbezeichnung vermerkt: "Brecher, Gustav, Componist u. Musikschriftsteller, Gust. Adolph-Str. 5 III". Kurz nach seiner Volljährigkeit wurde ihm im Juli 1900 vom k.u.k.-Konsulat in Leipzig ein Reisepass ausgestellt.

Richard Strauss vermittelte ihn zu Gustav Mahler (1860–1911) nach Wien, wo er vom Frühsommer 1900 bis Mai 1902 als Korrepetitor und Aushilfskapellmeister an der Wiener Hofoper wirkte. Auf Anraten Mahlers nahm er für die Spielzeit 1902/1903 ein Engagement als Erster Kapellmeister am Dreisparten-Stadttheater Olmütz (Olomouc) in Nordmähren an. Gustav Mahlers Protektion war es wohl auch zu verdanken, dass das Stadttheater Hamburg, wo Mahler von 1891 bis 1897 erster Kapellmeister war, Brecher anschließend unter Vertrag nahm. Das Hamburger Stadttheater hatte die gestiegenen Erwartungen in den letzten Jahren vor Brechers Engagement nicht ganz erfüllen können und so erhoffte man sich von dem jungen Talent neue Impulse und eine höhere künstlerische Qualität.

Von der Spielzeit 1903/1904 bis 1911/1912 erhielt Brecher ein Engagement als Kapellmeister am Hamburger Stadttheater. Die Hamburger Einwohnermeldekartei verzeichnete für den 15. September 1903 (von Olmütz kommend) seinen Einzug in der neu eröffneten Pension von Hans Leppin (Holzdamm 8 III.) und seinen Auszug für den 3. Juni 1904. Für die neue Saison quartierte er sich am 25. August 1904 in der von Witwe Josephine Appel betriebenen Pension am Neuen Jungfernstieg 16a ein, die er zum Spielzeitende am 30. Mai 1905 wieder verließ. 1905 bis 1907 stieg er im Hotel Hamburger Hof (Jungfernstieg 30) ab. Die Unterkünfte lagen jeweils fußläufig zum Hamburger Stadttheater. Am 5. September 1907 bezog er dann eine Wohnung im Jungfrauenthal 26 III.Stock (Harvestehude); auf der gleichen Etage wohnte seit September 1906 (von Berlin kommend) die bedeutende US-amerikanische Altistin Edith Walker (geb. 27.3.1870 in Hopewell). In Brechers Hamburger Einwohnermeldekartei blieb die Spalte mit der Religionszugehörigkeit unausgefüllt.

Zu Beginn seiner Hamburger Zeit ließ Gustav Brecher sich im renommierten Fotoatelier E. Bieber (Jungfernstieg 8/9, Ecke Neuer Wall) aufnehmen. Das Foto zeigt den jungen Hamburger Kapellmeister mit steifem Kragen und modisch-karierter Weste in selbstbewusst-ernster Haltung. Er dirigierte in Hamburg u.a. die dortigen Erstaufführungen von Richard Strauss‘ "Salome" (6.11.1907) und "Elektra" (21.2. 1909). 1912 verlängerte der kaufmännische Direktor Max Bachur (1845–1920) Brechers Vertrag nicht, sondern verpflichtete stattdessen den Leipziger Theaterdirektor Hans Loewenfeld (1874–1921).

Gustav Brecher ging nach Köln. Die Hamburger Einwohnermeldekartei vermerkte für den 22. August 1912 seine Abmeldung dorthin, wo für ihn im Hotel Monopol reserviert war. Auch in Köln (Spielzeit 1912/1913 bis 1915/1916) und Frankfurt/Main (1916/1917 bis 1919/1920) erhielt er jeweils für vier Jahre Dirigate. Im Juli 1920 verzog er nach Berlin. Hier arbeitete er an der Großen Volksoper im Theater des Westens (Spielzeit 1920/1921 und 1921/1922), unterrichtete eine Dirigierklasse am Sternschen Konservatorium und trat ab Februar 1921 als Gastdirigent des Berliner Philharmonischen Orchesters auf. Auch hier nahm er keine feste Wohnung, lediglich 1921 wurde er im Berliner Adressbuch vermerkt.

Gustav Brecher heiratete am 30. Oktober 1920 vor dem Berliner Standesamt Nr. 3 die ebenfalls jüdische Gertrud "Gerti" Deutsch (geb. 27.9.1894 in Mannheim), die Tochter des Berliner AEG-Direktors Felix Deutsch (1858–1928) und dessen Ehefrau Elisabeth genannt Lili Deutsch, geb. Kahn (geb. 19.8.1869 in Mannheim). Trauzeugen waren die Brauteltern, bei denen die Jungvermählten zum Zeitpunkt der Heirat auch wohnten. Eine gute schulische und auch musische Ausbildung kann bei Gertruds Elternhaus vorausgesetzt werden. Gustav Brecher und Gertrud Deutsch sollen sich anlässlich einer Gesellschaft (möglicherweise im Hause der Eltern) kennengelernt haben. Familie Deutsch besaß seit 1916 eine Villa in Berlin-Tiergarten in der Rauchstraße 16 (Ecke Drakestraße und Corneliusstraße) Nähe Landwehrkanal, wo die Bankierstochter Lili Deutsch einen großen Salon führte. Neben bedeutenden Vertretern aus Wirtschaft und Politik, waren auch Künstler und Wissenschaftler zu Gast. Lili Deutsch pflegte u.a. Kontakt zu dem Komponisten Richard Strauss (1864–1949) und dem Publizisten Maximilian Harden (1861–1927). Gertruds Bruder Georg Felix Deutsch (1901–1957) war Betriebsleiter bei der Tobis (Tonbild-Syndikat) AG (er wurde am 30. Juni 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft entlassen und emigrierte im April 1934 über die Schweiz nach England). Der aus Breslau gebürtige Felix Deutsch wurde nach seinem Tod 1928 in Berlin-Lichterfelde auf dem großen Parkfriedhof beigesetzt.

In der Spielzeit 1922/1923 trat Gustav Brecher als Gastdirigent und auf Konzertreisen in Hamburg, Wien, Rom, Amsterdam, Prag und Moskau auf. Der Intendant der Städtischen Theater Leipzig bot Brecher im Frühjahr 1923 die Leitung der Leipziger Oper an. Brecher machte sein Engagement als Generalmusikdirektor und Leitender Operndirektor von der gleichzeitigen Verpflichtung von Walter Brügmann (1912–1917 am Stadttheater Hamburg als Schauspieler und Regisseur tätig) als Operndirektor und Egon Bloch als Oberspielleiter abhängig, dem stattgegeben wurde. Mit der Spielzeit 1923/1924 begann Brechers überaus erfolgreiche Tätigkeit in Leipzig. Im Januar 1925, mit dem Zuzug seiner Ehefrau, wechselte Gustav Brecher von seiner Hotelunterkunft in eine eigene Wohnung in der Kaiserin-Augusta-Straße 23 III. Stock (seit 1945 Richard-Lehmann-Straße). In den Leipziger Adressbüchern tauchte sein Name erst ab 1926 mit den Wohnadressen Leipzig S3, Kaiserin-Augusta-Straße 23 (1926–1929) und Leipzig-Oetzsch, Parkstraße 2 (1930–1933) auf. Im Villenort Oetzsch (heute Markkleeberg-Mitte, Mitschwinstraße) hatten die Brechers 1928 ein Haus erworben. Zu Brechers Freundeskreis gehörten u.a. der Dirigent und Komponist Otto Klemperer (1885–1973), den er aus Hamburg kannte, sowie der Dirigent Bruno Walter (1876–1962), mit dem er aus seiner Zeit in Wien bekannt war. Die Leipziger Jüdische Gemeinde führte Brecher nicht als Gemeindemitglied, er soll der evangelisch-lutherischen Kirche angehört haben.

Auch in Leipzig setzte Gustav Brecher zusammen mit Walter Brügmann (1884–1945) seinen Stil der Einheit von Orchester, Gesang, Regie und Bühnenbild fort. Ab 1923 bot Brechers Opernhaus auch dem Leipziger Arbeiterbildungsinstitut (ABI) Opern-Sondervorstellungen an Wochenend-Nachmittagen an. Im Frühjahr 1927 führten Brecher und Brügmann die Jazzoper "Jonny spielt auf" von Ernst Krenek in Leipzig erstmals auf. Am 9. März 1930 sorgte die Uraufführung von "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" (Bert Brecht/Kurt Weill) für einen organisierten Skandal. Im Zuschauerraum saßen uniformierte SA-Männer als Störer, Brecher konnte die Oper am Dirigentenpult nur mit Mühe beenden. Diverse Zeitungen berichteten vom "Mahagonny-Skandal". Zwei Tage später verlangte der DNVP-Stadtverordnete Schmidt im Theaterausschuss die Absetzung der Oper, und die für den 14. März angesetzte zweite Aufführung wurde ausgesetzt. Brecher nahm in der Presse Stellung zu den Anfeindungen. Nach Beschluss des Leipziger Stadtrates, der gegen die Stimmen der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und der Wirtschaftspartei gefasst wurde, konnte am 16. März 1930 die zweite Vorstellung stattfinden.

Ab 1930 wurde im Zuge der Weltwirtschaftskrise der Kulturetat in Leipzig stark gekürzt, dies betraf auch Gustav Brechers Haus. Private Spender sicherten die dortigen Aufführungen, dennoch musste die Orchesterbesetzung reduziert werden. Aufgrund der anhaltenden Sparauflagen trat Brecher 1932 von seinem Posten zurück, blieb aber mangels Nachfolger kommissarisch im Amt. Auch die Uraufführung von "Der Silbersee" (Georg Kaiser/Kurt Weill) am 18. Februar 1933 wurde von Pfiffen und Störungen anwesender Nationalsozialisten begleitet. Die NSDAP forderte die sofortige Absetzung des Stückes, im NSDAP-Organ "Völkischer Beobachter" drohte F. A. Hauptmann in einem Artikel am 24. Februar 1933 den künstlerisch Verantwortlichen. Eine Woche später war er Leipziger Stadtrat für kulturelle Angelegenheiten und verfügte die umgehende Entlassung Brechers zu Ende Februar, lediglich am 4. März 1933 durfte Gustav Brecher ein letztes Mal in Leipzig dirigieren. Am 11. März 1933 wurde er offiziell vom deutschnationalen Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler beurlaubt; Nachfolger wurde Hanns Schüler, der bereits das Parteibuch der NSDAP besaß. Die Nationalsozialisten versahen Werke aus Musik, Bildender Kunst und Literatur mit dem Stigma "entartet", wenn sie in ästhetischer, politischer oder "rassischer" Hinsicht nicht der NS-Ideologie entsprachen. Im Musikleben NS-Deutschlands waren nun jüdische Künstler, Jazz und atonale Musik tabu. Richard Strauss amtierte von Februar 1933 bis Juli 1935 unter den Nationalsozialisten als Präsident der Reichsmusikkammer und der junge österreichische Dirigent Herbert von Karajan (1908–1989) trat im April/Mai 1933 vorsorglich in die NSDAP ein. Heinrich Creuzburg (geb. 1907), von 1928 bis 1932 Korrepetitor bei Gustav Brecher, schrieb später in seinen Erinnerungen: "Nach seiner (Brechers) ‚Entfernung‘ von der Leipziger Oper lebte er noch einige Zeit völlig isoliert in seinem Haus im Villenvorort Oetzsch. Niemand vom Leipziger Theater durfte noch wagen, ihn zu besuchen; sogar die sogenannte Außenstraßenbahn dorthin wurde bereits überwacht." Der 54-jährige Gustav Brecher verkaufte das Haus an Frau A. Hörig und verließ mit seiner Ehefrau Leipzig.

Gustav Brecher war kein Einzelfall. Auch der Leiter des Leipziger Gewandhauses, Bruno Walter, seit dem 1. November 1929 dort Nachfolger von Wilhelm Furtwängler, wurde aus Leipzig vertrieben. Nach seiner Rückkehr von einer Konzertreise aus den USA am 16. März 1933 verwehrten Nationalsozialisten ihm den Zutritt zu seiner Arbeitsstätte. Der Reichskommissar für Sachsen, Manfred Freiherr von Killinger (1886–1944, seit 1928 NSDAP-Abgeordneter im Sächsischen Landtag), forderte von Walter einen "freiwilligen" Verzicht und drohte andernfalls mit Auftrittsverbot. Bruno Walter emigrierte nach Österreich, wurde dort Direktor der Wiener Staatsoper und emigrierte nach der deutschen Besetzung Österreichs über Frankreich 1939 in die USA.

Das nationalsozialistische "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 verlangte von allen Angestellten öffentlicher Institutionen einen Nachweis ihrer "arischen" Abstammung. In "sinngemäßer Anwendung" unterlagen auch Musiker/innen und Sänger/innen dieser Überprüfung. Zudem mussten sie sich in der Reichsmusikkammer registrieren lassen, einer Abteilung der Reichskulturkammer, die dem Minister für Volksaufklärung und Propaganda unterstand. Eine hektographierte Liste mit 107 Namen wurde im November 1935 an die NSDAP-Parteigliederungen zur Verbreitung weitergereicht: "An alle Kreisleiter und Kreispropagandaleiter. Der Präsident der Reichskulturkammer hat uns eine Liste der unerwünschten, nicht arischen Komponisten zugesandt. Ich bitte Sie, alle Dienststellen der Bewegung, die sich musikalisch betätigen, zu orientieren, dass die Werke der nachfolgend genannten Komponisten in Zukunft nicht mehr aufzuführen sind." Die alphabetische Liste enthielt u.a. die Namen von Paul Abraham, Alban Berg, Gustav Brecher, Paul Dessau, Hanns Eisler, Oskar Fried, Ernst Krenek, Friedrich Holländer, Otto Klemperer und Kurt Weill. Mit diesem reichsweiten Aufführungsverbot des Komponisten Brecher war dessen Berufsverbot in NS-Deutschland komplett.

Nach fast einem Jahr Zwangspause vom Dirigentenpult erhielt Gustav Brecher ein Angebot aus Leningrad, das dort neu aufgestellte Radio-Orchester zu leiten. Nach fünf Konzerten im Februar 1934 in der Leningrader Philharmonie kehrte er ernüchtert aus der Sowjetunion nach Deutschland zurück, da er sich aufgrund fehlender Sprachkenntnisse nicht in der Lage sah, dem Orchester seine musikalischen Vorstellungen zu vermitteln. Im Frühjahr 1934 erhielt er von der Wiener Staatsoper den Auftrag für eine Neuübersetzung von Bizets "Carmen" (Uraufführung 21.12.1937 an der Wiener Staatsoper dirigiert von Bruno Walter). Gustav Brecher lebte laut Leipziger Einwohnermeldekartei im Oktober 1934 in Berlin-Dahlem (Am Hirschsprung 44, Eigentümerin Lili Deutsch), wo bis zu seiner Emigration im April 1934 auch Georg Deutsch wohnte. Gustav Brechers Name tauchte aber in diesem und den folgenden fünf Jahren nicht im Berliner Adressbuch auf.

Im September 1936 leitete er am Deutschen Theater Prag (heute Smetanatheater) eine Wiederaufnahme oder Neuinszenierung von Richard Strauss‘ "Elektra". Bei seiner letzten Wohnadresse in Berlin-Dahlem, (Am) Wildpfad 26, handelte es sich laut Finanz- und Entschädigungsakte um eine Villa, die seine Schwiegermutter Lili Deutsch gekauft hatte (und Anfang 1939 im Zuge der antijüdischen Enteignungsmaßnahmen und der Emigrationsabsicht verkaufen musste, Wert 230.000 RM).

Anfang 1939 beantragte Gustav Brecher einen neuen tschechoslowakischen Reisepass, der ihm am 14. März 1939 in Berlin im Generalkonsulat ausgestellt wurde (Nr. 7.617/39). Seine Ehefrau war durch die Heirat ebenfalls zur tschechoslowakischen Staatsbürgerin geworden und hatte bereits 1936 einen Reisepass beantragt und im Dezember 1936 in Berlin erhalten (Nr. 43.744/36). Von Berlin verzogen die Eheleute ins südmährische Brno (Brünn), rund 100km von Olmütz (Olomouc) entfernt. Mit dem Einmarsch der Wehrmacht im tschechischen Sudentenland (15.10.1938) und den Landesteilen Böhmen und Mähren der Tschechoslowakei (15.3.1939) wurden diese Gebiete ihrer Eigenständigkeit beraubt, dem Deutschen Reich unterstellt und in das System der antisemitischen Verfolgungen einbezogen. Der Aufhebung der tschechoslowakischen Republik und der Errichtung des Reichsprotektorats am 16. März 1939 folgte umgehend ein Erlass Hitlers: "Die volksdeutschen Bewohner des Protektorats werden deutsche Staatsangehörige und nach den Vorschriften des Reichsbürgergesetzes vom 15. September 1935 (…) Reichsbürger. (…) Die übrigen Bewohner von Böhmen und Mähren werden Staatsangehörige des Protektorats Böhmen und Mähren."

Das Ehepaar Brecher wurde somit während oder kurz nach ihrem Umzug aus Berlin mit einer komplett veränderten Situation konfrontiert; die okkupierte Tschechoslowakei erwies sich nun als Sackgasse ihrer Emigration. Bereits am 14. März 1939 war vom "Reichsführer SS/Chef der deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern" gegenüber den angrenzenden Staatspolizei(leit)stellen festgelegt worden: "Vom 15. März 1939 ab ist der Grenzübertritt nach und aus dem tschechischen Gebiet, soweit dieses Gebiet unter dem Schutz der Deutschen Wehrmacht steht, bis auf weiteres grundsätzlich gesperrt. (…) Der Grenzübertritt ist nur solchen Personen zu gestatten, die neben (…) Paß oder Paßersatz mit dem etwa erforderlichen Sichtvermerk einen Durchlaßschein (…) vorweisen." Dieser Durchlassschein wurde von militärischen Dienststellen und ab 21. März 1939 von den zuständigen Staatspolizei(leit)stellen des Wohnortes bzw. des Aufenthaltsortes ausgestellt, für Gustav Brecher war dies die Gestapoleitstelle in Brünn.

Auch bei einem Verbleib in den okkupierten tschechischen Gebieten hätten Brechers keinen Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft stellen können. Aufgrund ihrer jüdischen Herkunft war ihnen dies verwehrt. Aber auch der Status als jüdische Protektoratsangehörige bedeutete eine Verschlechterung ihrer Emigrationsaussichten. Gustav Brecher hatte sich in den rund vier Wochen seines Aufenthalts in Brno nicht im dortigen Einwohnermeldeamt gemeldet, d.h. Angehörige oder Freunde hatten das Ehepaar Brecher wohl bei sich aufgenommen. Der Druck, ein sicheres Emigrationsland zu finden, stieg mit jeder neuen Vorschrift und jeder Verhaftungswelle der nationalsozialistischen Besatzer. Am 20. März 1939 meldete der Geschäftsträger der deutschen Gesandtschaft in Prag, Andor Hencke, an das Auswärtige Amt in Berlin: "Chef der Zivilverwaltung beziffert bis heute in Böhmen erfolgte Verhaftungen (…) auf 2000, davon 500 wieder entlassen. Derzeitiger Stand etwa 1500 Verhaftete, wovon 150 Emigranten, Rest tschechische Kommunisten, angeblich keine Ausländer (…)".

Anfang April 1939 verließ Gustav Brecher zusammen mit seiner Ehefrau Brno (Brünn) Richtung Belgien, wobei sie das Staatsgebiet des nationalsozialistischen Deutschland durchqueren mussten. Den tschechoslowakischen Reisepass führten beide mit sich. Diese Pässe wurden, da sie vor dem 16. März 1939 ausgestellt waren, von den deutschen Behörden entsprechend einer Bekanntmachung des Reichsministers des Innern "bis auf weiteres während ihrer Geltungsdauer als Paß-Ersatz zugelassen. (…) Die Inhaber dieser Paßersatzpapiere bedürfen vor dem jedesmaligen Grenzübertritt (Einreise oder Ausreise) eines Sichtvermerks der zuständigen deutschen Sichtvermerksbehörde".

Doch mit dem Verlassen des Protektorats verloren beide Eheleute dessen international nicht anerkannte Staatsangehörigkeit und wurden zu Staatenlosen. Die Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes beendete ihre Stellungnahme vom 31. März 1939 zur "Paßtechnische(n) Behandlung" mit einem Satz, den zwei Tage vorher in etwas gröberer Form bereits der Chef des Sicherheitsdienstes der SS und der Sicherheitspolizei, Reinhard Heydrich, per Schnellbrief in Umlauf gegeben hatte: "Schließlich wird noch besonders darauf hingewiesen, daß eine Verlängerung der Geltungsdauer tschecho-slowakischer Pässe oder eine Erklärung über die Anerkennung tschecho-slowakischer Pässe als deutsche Pässe in jedem Falle unzulässig ist." Dies wurde allen deutschen Vertretungen im Ausland zugeleitet.

Lili Deutsch sowie Gustav und Gertrud Brecher hatten sich entschlossen, nach Portugal zu emigrieren. Zwischen dem Verkauf der Villa Rauchstraße 16 als Gesandtschaftsgebäude an den Portugiesischen Staat (Kaufvertrag vom 11.10.1937 über 412000 RM) und dem Emigrationsziel Portugal scheint es einen direkten Zusammenhang gegeben zu haben. Der Botschafter Portugals in Berlin stellte ihnen ein Empfehlungsschreiben aus. Die konservativ-autoritäre Regierung Portugals verschärfte jedoch im Zuge des spanischen Bürgerkriegs (1936–1939) ihre Einreisebedingungen. Hiervon waren möglicherweise auch die Brechers und Lili Deutsch betroffen, deren Einreisegenehmigung und Formalitäten sich endlos hinzogen. So beschlossen sie nach Belgien auszureisen, um außerhalb des NS-Herrschaftsgebiets auf die notwendigen Papiere für Portugal zu warten – so die rückblickende Einschätzung in der Entschädigungsakte.

Auch von deutscher Seite gab es bürokratische Hemmnisse, die eine Verzögerung der Abreise bewirkten. Durch eine Vermögenssperre ("Sicherungsanordnung" vom 6.12.1938) blockierte der NS-Staat das gesamte Vermögen von Lili Deutsch. Sie erhielt erst nach Abschluss der massiven finanziellen Beraubung durch Sondersteuern wie "Judenvermögensabgabe" (211.000 RM), Reichsfluchtsteuer (142.000 RM) und Auswandererabgabe (54.000 RM) am 25. März 1939 ihren Reisepass (gültig bis 25.3.1940), um Deutschland zu verlassen. Die "Durchführung ihrer Auswanderung und Liquidierung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland", wie es verschleiernd im Amtsdeutsch hieß, erfolgte von ihrer Seite über den Notar Georg Eschstruth (Berlin) und den Hausverwalter Eduard von Dellinghausen (Berlin). Rechtsanwalt Bernhard Blau aus Berlin-Charlottenburg (geb. 14.12.1881 in Stolp), nun zwangsweise als "Konsulent" nur noch auf jüdische Klienten beschränkt, bearbeitete die übrigen administrativen Vorgaben der staatlichen Stellen für sie. Am 12. April 1939 reiste sie zusammen mit ihrer Hausdame Hermine Voigtmann, geb. Werner (geb. 20.12.1887 in Wien) per Bahn über Düsseldorf nach Belgien aus. Es ist anzunehmen, dass der deutsche Reisepass von Lili Deutsch, entsprechend der seit dem 5. Oktober 1938 gültigen Verordnung, bereits deutlich sichtbar mit einem "J" gekennzeichnet war: "Alle deutschen Reisepässe von Juden […], die sich im Reichsgebiet aufhalten, werden ungültig. […] Die mit Geltung für das Ausland ausgestellten Reisepässe werden wieder gültig, wenn sie von der Paßbehörde mit einem vom Reichsminister des Innern bestimmten Merkmal versehen werden, das den Inhaber als Juden kennzeichnet."

Die für den 12. April 1939 gebuchte Schiffspassage mit der "S.S. Nyassa" der Hamburger Woermann Linie von Antwerpen nach Lissabon konnten das Ehepaar Brecher, Lili Deutsch und Hermine Voigtmann nicht antreten. Der Kapitän erklärte noch in Antwerpen, trotz der Empfehlung des Portugiesischen Botschafters aus Berlin, die portugiesischen Behörden würden das Aussteigen der vier Reisenden verweigern. Auf Kosten der Reederei kamen sie vorübergehend im Antwerpener Century Hotel unter. Das Gepäck war bereits ohne ihre Zustimmung und trotz einer Ausfuhrgenehmigung auf ein Schiff Richtung Hamburg umgeladen worden. Der befreundete Ingenieur D. Heineman aus Brüssel bat die belgischen Behörden vier Tage später um eine provisorische Einreiseerlaubnis für sie. Des Weiteren kündigte er ein Telefonat mit der Botschaft Portugals in Berlin an. Aber auch die für den 17. April 1939 erhoffte Weiterreise per Schiff nach Portugal scheiterte. Im Juni 1939 erhielt Lili Deutsch eine Einreiseerlaubnis für Portugal; gleichzeitig wurde diese den Eheleuten Brecher mit ihren tschechoslowakischen Reisepässen verweigert. Die Ablehnung erfolgte, so Lili Deutsch in einem Schreiben vom 6. Juli 1939 an den Chef der Brüsseler Polizeibehörde, "weil die offiziellen Beziehungen zwischen dem tschechischen Protektorat und Portugal bis jetzt nicht geregelt sind". Aus dem Century Hotel in Antwerpen (De Keyserlei/Avenue De Kayser 60–62) zogen sie vor dem 4. Juni 1939 nach Ostende ins Hotel Wellington (Promenade Albert Nr. 58, 59, 60) Nähe Kursaal.

Rund drei Wochen nach Brechers Einreise erkundigte sich die belgische Polizeibehörde Brüssel am 9. Mai 1939 bei der Polizeidirektion im bereits okkupierten Prag mit einem französischsprachigen Vordruck nach möglichen Vorstrafen Gustav Brechers und seinem Leumund. Zeitgleich bat man mit einem deutschsprachigen Vordruck beim "Meldeamt des Polizeipräsidiums Berlin" um "gefällige Auskunft über die Richtigkeit obiger Angaben, über Leumund und Vorleben, sowie um Angabe etwaiger Vorstrafen ganz ergebenst zu ersuchen". Die knappe Rückmeldung auf der Formularrückseite lautete vier Wochen später: "Vorseitige Angaben sind nach den hier befindlichen Unterlagen berichtigt. Als bestraft wird B. hier nicht geführt." Die Berliner Behörde hatte u.a. den Namen des Geburtsortes von Dubi (tschechisch) in Eichwald (deutsch) geändert. Diese formal durchaus übliche Überprüfung nach Belgien einreisender Ausländer ohne Visum stellte für den prominenten Exilanten Brecher durch die Auflösung des Tschechoslowakischen Staates, dessen Bürger er ja war, eine schwer kalkulierbare Bedrohung dar. Die tschechoslowakische Botschaft in Belgien war nach der Besetzung der CSR durch die Wehrmacht ihrer Funktion beraubt. Brecher hatte bei der Einreiseregistrierung angegeben, nach Portugal weiterreisen und Belgien nur als Transitland nutzen zu wollen. Geplant war ursprünglich eine Fahrt per Schiff; nach deren Scheitern wurde an eine Bahnfahrt gedacht. Wie aber gingen die Staaten, die auf dem Landweg zwischen Belgien und dem Emigrationsziel Portugal lagen, seit März 1939 mit der Auflösung der Tschechoslowakei und deren flüchtenden Bürgern um? Akzeptierten sie noch die tschechoslowakischen Reisepässe? Das französische Konsulat in Ostende stellte ihnen am 16. August 1939 Einreisevisa aus, die bis Weihnachten 1939 gültig waren. Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen und die daraus resultierende Bündnisverpflichtung Frankreichs samt Kriegserklärung an das Deutsche Reich vom 3. September 1939, führten zu einer Rücknahme dieser Visaerteilungen. Lili Deutsch bemühte sich mit Eingaben, auch beim Brüsseler Polizeichef, um die Wiederherstellung der Visa für Frankreich.

Von Mai bis Oktober 1939 wurden zwischen Prag und tschechischen Gendarmerie-Stationen in Brno, Kladno und Bechyneˇ in größeren Abständen Schriftstücke gewechselt, ohne den gewünschten Nachweis bezüglich Wohnort und Ruf von Brecher zu erhalten. Ende September 1939 wurde erstmals für Gustav Brecher auf einem tschechisch-sprachigen Schriftstück die rassische Zuordnung "israelské" verwendet. Nach dem 21. Oktober 1939 wurde keine Korrespondenz mehr zwischen Belgien und dem "Reichsprotektorat Böhmen und Mähren" dokumentiert. Letztmalig erkundigte sich die "Allgemeine Kriminalzentrale" (Prag) der okkupierten tschechischen Seite an diesem Tag dreisprachig (tschechisch, deutsch, französisch) bei der Polizeibehörde in Brüssel: "Damit ich seine Identität überprüfen konnte, bitte ich mir bei dem Geburtsorte auch der zustehende Bezirk mitzuteilen und weiter das Heimatort und zustehende Bezirk." Weitere Schreiben fehlen. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs dürfte zudem den belgischen Polizeidienststellen dringendere Aufgaben gestellt haben.

Anstelle des bisherigen dreimonatigen Visums stellte die örtliche belgische Polizeibehörde nun ein Dokument für vier Wochen Aufenthaltsdauer und anschließender Ausreiseanordnung aus ("Vrijgeleide" und "Reijswizer"), das mehrfach verlängert werden musste. Ein Anfang Oktober 1939 ausgefülltes Formblatt des belgischen Justizministeriums, das "aufgrund der internationalen Situation dieser Vorgang vorläufig zu den Akten zu legen sei", bedeutete erst einmal eine unbefristete Duldung der Eheleute Brecher und Lili Deutsch. Erreicht wurde diese Erleichterung durch eine schriftliche Eingabe des Hotelbesitzers Demouliére aus Ostende, bei dem sie sich als gestrandete Emigranten einquartiert hatten.

Im August 1939 wurden acht große Versandkisten (sogenannte Lifts, gekennzeichnet mit dem Speditionskürzel "E.F. & Co." für Edmund Franzkowiak & Co.) von Hamburg nach Luxemburg transportiert, Gewicht jeweils 2500–3000 kg. Die Frachtkisten waren – siehe oben – im April 1939 von Antwerpen nach Hamburg zurückbefördert worden, obwohl für sie Ausfuhrgenehmigungen vorlagen. Rund vier Monate wurden sie im Hamburger Hafen unerlaubt festgehalten. Lili Deutsch erreichte anscheinend nach zähen Verhandlungen die Freigabe der Frachtkisten. In sechs großen Kisten befanden sich u.a. die wertvolle Wohnungseinrichtung von Lili Deutsch (Versicherungswert 50.000 RM), darunter antike Möbel, Orientteppiche sowie wertvolles Porzellan und Kristall. Zwei weitere große Kisten enthielten Teile der Leipziger Wohnungseinrichtung von Ehepaar Brecher. Da auch im August 1939 noch nicht für alle eine Einreisegenehmigung für Portugal vorlag, wurde die für Lissabon bestimmte Wohnungseinrichtung als "Transitgut" im neutralen Luxemburg zwischengelagert. In Luxemburg sollte sich der ehemalige AEG-Mitarbeiter Schmidt um die Lagergebühren in der "Zollniederlage" und den Weitertransport mit der Luxemburger Speditionsfirma J. A. Welter kümmern. Aber auch Luxemburg wurde im Mai 1940 von der Wehrmacht besetzt, und im Dezember 1940 lagerten die Versandkisten noch im Zoll-Lager, im November 1941 sollen sie beschlagnahmt worden sein. Später hieß es in der Entschädigungsakte dazu: "Das Umzugsgut blieb in Luxemburg nach der Auswanderung liegen und wurde vom deutschen Chef der Zivilverwaltung in Luxemburg beschlagnahmt."

Ehepaar Brecher lebte seit Anfang Juni 1939 zusammen mit der Schwiegermutter Lili Deutsch im Seebad Ostende (Westflandern) zuerst im Hotel Wellington und seit mindestens Oktober 1939 im Grand Hotel du Littoral, einem der großen und exklusiven Hotels an der Uferpromenade "Zeedijk" Nähe Kursaal ("á côtè du Kursaal, face á la Mer, situation unique"). Ostende mit seinen 44.000 Einwohnern besaß eine Musikakademie, ein Theater und eine Rennbahn sowie einen Bahnknotenpunkt, eine Postdampferverbindung nach Dover und einen Flugplatz. Die nur für eine Übergangszeit gedachte Unterkunft in Ostende war durch die deutschen Zwangsabgaben (rund 400.000 RM) und die zusätzlich in Deutschland gesperrten (und im September 1940 beschlagnahmten) Gelder (rund 150.000 RM) für Lili Deutsch bald schon nicht mehr finanzierbar. Unterstützung erhielt die eigentlich sehr vermögende Frau in dieser Situation von ihrer wohlhabenden Schwägerin Adelaide "Addie" Kahn, geb. Wolff (1875–1949), der Ehefrau ihres Bruders Otto Hermann Kahn (1867–1934) aus New York durch monatliche Überweisungen vom Bankhaus Kuhn Loeb & Co. (New York). Die Emigration nach Portugal verzögerte sich jedoch weiter, verschärft noch durch die deutschen Okkupationen und die Massenflucht in Europa sowie den Ende März 1940 abgelaufenen Reisepass von Lili Deutsch.

Wenige Tage nach dem Angriff der deutschen Wehrmacht auf das neutrale Belgien (10. Mai 1940) begann auch die Bombardierung Ostendes (15.–27. Mai 1940), dabei wurden neben vielen Wohnhäusern u.a. auch das Rathaus mit Stadtarchiv, die Hauptpost, Hafenbereiche und diverse Hotels zerstört. Bis zum 18. Mai wurden Lüttich, Brüssel und Antwerpen mit dem Überseehafen von deutschen Truppen besetzt, am 28. Mai 1940 kapitulierte der belgische König und Armeeoberbefehlshaber Leopold III.

Sämtliche Gäste bis auf "Frau Geheimrat" Lili Deutsch, "Musikdirektor" Gustav Brecher und seine Frau Gertrud Brecher hatten das "Littoral Palace Hotel" in Ostende verlassen, zu bestimmten Zeiten hielten sich dort nur noch Offiziere auf. Der Hotelbesitzer Monsieur J. Demouliére, der bereits zur französischen Armee eingezogen war, aber immer wieder im Hotel nach dem Rechten schauen konnte, berichtete 1952: "Ich habe Frau Deutsch dringend geraten, ebenfalls zu gehen, sie konnte sich jedoch nicht entschließen, zumal sie kein Geld mehr hatte. Ich hatte jedoch volles Vertrauen zu Frau Deutsch und stimmte zu und ordnete an, dass sie Verpflegung und Unterkunft nach besten Möglichkeiten erhalten, solange sie sich dort aufhalten wollten. Ich traf sogar Vereinbarungen für den Fall, dass sie nicht im Hotel bleiben konnten." Ende Mai 1940 wurde der Hotelbesitzer mit anderen französischen Soldaten von Dünkirchen aus evakuiert.

In verschiedenen Biographien über Gustav Brecher ist von einer geplanten bzw. unternommenen Flucht per Boot die Rede, möglicherweise basierten diese Angaben auf Äußerungen von Otto Klemperer. Demnach soll sich der 61-jährige Gustav Brecher zusammen mit seiner Ehefrau zur Flucht in einem Boot entschlossen haben. Otto Klemperer, der 1933 in die USA emigriert war, erinnerte sich 1973: "Ein Fischer wollte sie mit seinem Boot nach England herüberbringen. Man hat nie wieder etwas von ihnen gehört." Allerdings sind der belgischen Forschung bislang keine Fälle von Bootsflüchtlingen nach England im Zusammenhang mit der deutschen Besetzung vom Mai 1940 bekannt.

Hotelier Demouliére schrieb 1952: "Mir wurde gesagt, dass Frau Deutsch ihren Hund töten ließ, und dass sie sich entschlossen hatten, mit einem Motor- oder Fischerboot von dort wegzukommen, aber das scheint mir sehr unwahrscheinlich, da das letzte Mal, als ich in Ostende war (Ende Mai 1940), jede zur Verfügung stehende Transportmöglichkeit, um von dort wegzukommen, bereits benutzt worden war. Die Gerüchte, dass Frau Deutsch im Hotel Selbstmord begangen haben soll, sind bestimmt nicht wahr. In Wirklichkeit hat ein Schweizer Staatsbürger von deutscher Herkunft Selbstmord begangen. Möglicherweise hat diese Tatsache Anlass zu dem Gerücht gegeben."

In der belgischen Immigrationsakte wurde im April 1941 der Verzug von Gustav und Gertrud Brecher nach England als Übernahme aus dem Ausländerregister Ostende notiert ("naar England vertrokken"). Dieser Eintrag dürfte im Zusammenhang mit der Erstellung der "Judenregister" erfolgt sein, die auf Anweisung der deutschen Besatzungsmacht für die geplanten Deportationen angelegt werden mussten. Die Angaben zu Gustav Brechers Sterbedatum variieren in den verschiedenen Biographien, konkrete Quellenhinweise zu seinem Tod fehlen aber.

Das Schicksal seiner Ehefrau Gertrud Brecher, geb. Deutsch, ist derzeit ebenfalls nicht eindeutig geklärt; in einigen Quellen wird von einem gemeinsamen Suizid geschrieben, dem Freunde der Brechers aber widersprachen. Gertrud Brechers Tod ist weder beim Internationalen Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes noch in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem vermerkt.

Ebenfalls unklar ist der Tod ihrer 70-jährigen Mutter Lili Deutsch, die nach unterschiedlichen Quellen entweder am 27. Mai 1940 in Ostende oder zwischen dem 27. und 29. Mai 1940 gestorben sein soll, aber wie ihre Tochter nicht in den einschlägigen Gedenkbüchern oder den Unterlagen des Internationalen Suchdienstes ITS verzeichnet ist. Die für Fremdenangelegenheiten zuständige belgische Behörde füllte am 23. April 1941 ein Formular aus, dass Lili Deutsch nach England verzogen sei, ein Umzugsdatum wurde nicht vermerkt. Sie war am 26.November 1940 aus Deutschland ausgebürgert worden. Den Behörden in NS-Deutschland war bis 1945 nicht bekannt, dass sie bereits verstorben war. Auch hinsichtlich ihres Aufenthaltsortes gab es in den deutschen Akten zur Vermögensentziehung leicht widersprüchliche Angaben, neben Brüssel und Ostende wurde auch hier England vermerkt, als Zielort ihrer Emigration wurde einmal Lissabon angegeben. Vom Amtsgericht Berlin-Zehlendorf wurde Lili Deutsch 1955 auf den 31. Dezember 1945 für tot erklärt.

1996 gelangte ein Teilnachlass über Gustav Brechers Großneffen an die Zentralbibliothek Zürich. Seit 2007 erinnert vor der Hamburgischen Staatsoper ein Stolperstein an Gustav Brecher. Für Lili Deutsch und ihre Tochter Gertrud Brecher, geb. Deutsch, soll in Berlin-Tiergarten jeweils ein Stolperstein an dem Ort verlegt werden, wo einst ihre Villa stand, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde.

Gustav Brechers ältere Schwester Sara (1867–1953) hatte sich in ihrer Jugend intensiv dem Gesang und Klavierspiel gewidmet, aber eine künstlerische Karriere wohl nicht angestrebt. Sie sang vermutlich nach 1905 in Berlin in einem Chor unter der Leitung des Dirigenten und Komponisten Oskar Fried (1871–1941). 1887 hatte sie in Teplitz ihren Cousin, den Züricher Kaufmann Jules (Julius) Bernays (1862–1916) geheiratet. Sie hielt die jüdischen Feiertage, wie auch das koschere Essen, bis zu ihrem Lebensende ein. Jules (Julius) Bernays war ab 1893 Mitinhaber der Berliner Filiale der Importfirma Louis Bernays (Borsten, Haare, Straußenfedern), die er wenige Jahre später als alleiniger Inhaber weiterführte. Nach dem Tod ihres Ehemannes im Jahr 1916 lebte Sara Bernays bis 1933 in Berlin, zuletzt im Stadtteil Wilmersdorf in der Holsteinischen Straße 38. Durch die Ehe mit Jules Bernays war auch Sara Bernays Bürgerin der Stadt Zürich geworden und zog 1933 mit ihren beiden Töchtern dorthin; der Sohn Paul Bernays (1888–1977) verließ 1933 Göttingen, wo ihm seine Mathematik-Professur an der Universität entzogen worden war. Sara Bernays, geb. Brecher, starb 1953 in Zürich. Auch ihre Schwester Dora Wolpert, geb. Brecher (1872–1959), emigrierte 1939 von Leipzig (Humboldtstraße 3) nach Zürich und wohnte bis 1953 bei ihrer Schwester Sara.


Stand: Juli 2018
© Björn Eggert

Quellen: StaH 332-8 (Alte Einwohnermeldekartei 1892-1925), K 4288 (Gustav Brecher); StaH 332-8 (Alte Einwohnermeldekartei), K 4300 (Walter Brügmann); StaH 332-8 (Alte Einwohnermeldekartei), K 7125 (Edyth Walker); Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Potsdam, Rep. 36 A II (Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg II), Nr. 4369 (Gustav Brecher); dito Rep. 36 A II, 7191 (Elisabeth Deutsch); dito Rep. 36 A (Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg), D 1308 (Elisabeth Deutsch geb. Kahn); dito Rep. 61 A (NSDAP-Ortsgruppe Altdöbern), 312 (Rundschreiben 1935–1936); Landesamt für Bürger- u. Ordnungsangelegenheiten, Entschädigungsbehörde Berlin (Labo), 79.254 (George Felix Ward, ehemals Georg Felix Deutsch), 150.940 (Gertrud Brecher geb. Deutsch), 150.941 (Elisabeth Deutsch geb. Kahn); Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, 20031 (Polizeipräsidium Leipzig), PP-M 3172 (Meldeblatt Gustav Brecher); Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (Berlin), R 48909 Band 1 (Auswärtiges Amt, Rechtsabteilung, Polizei Passpolizei, Böhmen-Mähren), R 49004 Band 4 (Auswärtiges Amt, Rechtsabteilung, Polizei Passpolizei, Tschechoslowakei) (Recherche Annegret Wilke); Nationalarchiv (Národní archiv) Prag, Fond: Policejní ředitelství Praha II – všeobecná spisovna 1941–1950, Karton: 4923, Signatura: B 2781/25 Brecher Gustav (Recherche Magda Veselská); National Archiv of Belgium NAB (Algemeen Rijksarchief – Archives générales du Royaume) Brüssel, Ausländerakte A 350.989 (Gustav u. Gertrud Brecher) und 1.401.552 (Lili Kahn), mit Passbildern; Archief Oostende (Angaben zu Hotel u. Bombardierung); Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig (Informationen zu Familie Brecher, Grablage IV. Abt., Reihe 14 links, Grabnr. 550 u. 552); Jüdischer Friedhof Ohlsdorf, Gräberverzeichnis (Grablage A 10-727 Max Bachur); Adressbuch Berlin 1921 (Gustav Brecher); Adressbuch Berlin (Hirschsprung, Am) 1934; Adressbuch Berlin (Jul. Bernays) 1893, 1895, 1900, 1916; Adressbuch Berlin 1925, 1928, 1931, 1934 (Sara Bernays); Adressbuch Hamburg 1907, 1909, 1911 (Gustav Brecher); Adressbuch Leipzig 1890 (Dr. Alois Brecher, S. Jadassohn), 1891 (Dr. Alois Brecher), 1899–1901 (Dr. Alois Brecher, Gustav Brecher), 1916 (Dr. Alois Brecher), 1926–1927, 1929–1933 (Generalmusikdir. Gustav Brecher), 1935 (Parkstr. 2, A. Hörig); Ulrike Bajohr, Denkmalsturz – Carl Goerdelers Leipziger Akte (Radio-Feature), Deutschlandfunk 2011 (Wiederholung 7.10.2016); Benz: Geschichte, S. 58–71 (Kultur); Bertram: Leipziger Opfer (Gustav Brecher, Gertrud Brecher); Bruhns: Geflohen, S. 207–208 (Portugal), S. 235 (Tschechoslowakei); Grosch (Hrsg.): Aspekte, S. 2 (Gustav Brecher); Hardegen (Hrsg.): Hingesehen – Weggeschaut, S. 155 (Reisepässe); Heer/Kesting/Schmidt (Hrsg.): Stimmen, Ausstellungskatalog, S. 48; Jürgen Kesting: Auch ein Freitod kann Mord sein, Hamburger Abendblatt 23.11.2006; Kopitzsch/Brietzke: Biografie, Band 1, S. 44–45 (Isaak Bernays, 1792–1849); Kopitzsch/Brietzke: Biografie, Band 5, S. 47 (Jacob Bernays, 1824–1881); Meyers Lexikon, Band 2 (Leipzig 1925), S. 823 (Gustav Brecher), Band 9 (Leipzig 1928), S. 121/122 (Ostende); Jürgen Schebera: Gustav Brecher, S. 15, 27, 34–36, 38, 40, 41, 43, 47, 49, 80–83, 85, 88–91, 95–97, 101, 117; Schumann/Nestler (Hrsg.): Okkupationspolitik, S. 54 (Brünn), 96g (Dokument zu Verhaftungen), 103–106 (Erlass vom 16.3.1939); Uphoff: Oper, S. 170, 174; Vierhaus (Hrsg.): Enzyklopädie, Band 2, S. 29 (Gustav Brecher); Wulf: Musik, S. 21f. (Bruno Walter); Wulf: Künstler, S. 315; Berliner Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf, Straßen- u. Grünflächenamt, Auskunft zum Parkfriedhof Lichterfelde 28.11.2016 (Familiengrab Deutsch, Im Walde Nr. 305, Beisetzung Felix Deutsch 4.7.1928); www.lexm-uni-hamburg.de (Gustav Brecher); www.wikipedia.de (Gustav Brecher); www.geni.com (Gustav Brecher), eingesehen 15.9.2016; www.wikipedia.de (Felix Deutsch), eingesehen 28.10.2016; www.geni.com (Elisabeth Franziska "Lili" Deutsch), eingesehen 28.10.2016; www.telezeitung-online.de (Gustav Brecher), eingesehen 23.11.2016; www.ancestry.de, eingesehen 28.11.2016 (Heiratsurkunde Berlin Nr. 1083/1920 Gustav Brecher u. Gertrud Deutsch; Geburtsurkunde Berlin Nr. 1847/1894 Martha Bernays); www.ancestry.de (Find a Grave, Otto Hermann Kahn, eingesehen 6.3.2017); www.tracingthepast.org (Volkszählung Mai 1939), Bernhard Blau; Auskunft von Dr. Anna Hájková (zu tschechoslowakischer Staatsbürgerschaft 1939), Februar 2017; Informationen von Dr. Ludwig Bernays (Schweiz), November 2016.

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