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Bereits verlegte Stolpersteine



Walter Kassel * 1892

Klaus-Groth-Straße 64 (Hamburg-Mitte, Borgfelde)

1941 Minsk
ermordet

zuvor:
1938 KZ Fuhlsbüttel

Weitere Stolpersteine in Klaus-Groth-Straße 64:
Elisabeth Kassel, Margarethe Kassel

Walter Kassel, geb. 5.7.1882 in Hamburg, deportiert am 8.11.1941 nach Minsk
Elisabeth Kassel, geb. 28.9.1891 in Hamburg, deportiert am 11.7.1942 nach Auschwitz
Margarethe Kassel, geb. 9.4.1893 in Hamburg, deportiert am 11.7.1942 nach Auschwitz
Rosa Priebatsch, geb. Kassel, geb. 21.12.1888 in Hamburg, deportiert am 3.10.1942 aus Berlin nach Theresienstadt, am 16.5.1944 weiter deportiert nach Auschwitz

Klaus-Groth-Straße 60 (Klaus-Groth-Straße 64)

"Wegen Verminderung der Schülerzahl musste Frl. Kassel abgebaut werden. Schulvorstand und Schulleitung wünschen Frl. Kassel für die Zukunft alles Gute." Diese beiden Sätze des damaligen Schuldirektors Alberto Jonas vom 19. Dezember 1941 beendeten nach 30 Jahren das Berufsleben einer engagierten jüdischen Lehrerin. Elisabeth Kassel trat nicht in Funktionen hervor; sie hinterließ ihre Spuren als Bestandteil sowohl des jüdischen privaten wie gemeindeeigenen und dazu des staatlichen Schulwesens. In ihre Dienstzeit fielen das Aufblühen der Reformpädagogik während der Weimarer Republik und deren Zerstörung zusammen mit der Ausgrenzung und Ermordung der Juden unter der NS-Herrschaft, der sie selbst mit 50 Jahren zum Opfer fiel.

Elisabeth Kassel, geboren am 28. September 1891 in Burggarten 14 in Hamburg-Borgfelde, war das zweitjüngste von sieben Kindern der Eheleute Heinrich Kassel und Emma, geb. Zernik. Die Familie gehörte viele Jahre dem Synagogenverband der Deutsch-Israelitischen Gemeinde Hamburg an. 1907 trat Walter Kassel als selbstständiges Mitglied der Gemeinde bei, Elisabeth im Jahre 1923 nach dem Tod ihres Vaters.

Heinrich Kassel betrieb in der Wendenstraße 155 einen wirtschaftlich erfolgreichen Alteisengroßhandel, der der Familie ein gutbürgerliches Leben erlaubte. Der Betrieb lag im Hammerbrooker Teil Borgfeldes, dem Gewerbegebiet in der Marsch, die Wohnung oberhalb davon auf der Geest. Die Söhne, Walter, geboren am 5. Juli 1882, und Reinhold, geboren am 4. Juli 1885, stiegen ins väterliche Geschäft ein. Der dritte Sohn, Ernst, fiel im Ersten Weltkrieg, Reinhold überlebte ihn schwer verwundet. Die beiden Töchter, Anita und Rosa, heirateten, die beiden jüngsten, Elisabeth und Margarethe, blieben ledig. Rosa ehelichte 1921 den Berliner Arzt Walter Priebatsch und zog zu ihm nach Berlin. Dort wurde am 9.12.1922 ihr Sohn Gerhard Heinz, genannt Gerd, geboren.
Reinhold heiratete im selben Jahr die evangelisch-reformierte Christin Hertha Lentz. Heinrich Kassel hinterließ seine Frau finanziell wohl versorgt.

Margarethe Kassel scheint keine Berufsausbildung durchlaufen zu haben, während Elisabeth Kassel am Oberlehrerseminar in Hamburg zur Volksschul- und Lyzeallehrerin ausgebildet wurde. Als Zwanzigjährige trat sie 1911 in den Schuldienst ein. An welcher Schule sie ihre Tätigkeit begann, ließ sich nicht klären. Viele Jahre unterrichtete sie an der privaten Höheren Mädchenschule Jakob Löwenbergs in der Johnsallee 33, einer über Hamburgs Grenzen hinaus anerkannten reformpädagogischen Anstalt, die bis zum Realschulabschluss führte.

Nach der Schließung der Schule 1931 wechselte Elisabeth Kassel in den staatlichen Schuldienst und war in ihrer Nachbarschaft an der Volksschule für Mädchen in der Bürgerweide 35 tätig. Bereits im April 1934 wurde sie jedoch aufgrund des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" entlassen. Sie kehrte in den jüdischen Schuldienst zurück und fand eine Anstellung an der Mädchenschule der Deutsch-Israelitischen Gemeinde in der Carolinenstraße, die zu dem Zeitpunkt Volks- und Realschule umfasste.

Bis zur Schließung Ende 1941 erlebte Elisabeth Kassel mit, dass die Schule eine bis zum Abitur führende Oberschule wurde, ihren Namen mehrfach änderte und auch Jungen aufnahm. Obwohl als Volks- und Oberschullehrerin ausgebildet, übernahm sie 1939 die Leitung der Förderklasse. Es handelte sich um eine kleine Gruppe von ca. 15 Schülerinnen und Schülern, die dem regulären Schulunterricht aus körperlichen oder geistig-seelischen Gründen nicht folgen konnten. Mit großer Einfühlung und Geduld gelang es ihr, viele Kinder so zu fördern, dass sie am regulären Unterricht teilnehmen konnten.

1932 starb Emma Kassel und hinterließ ihren beiden ledigen Töchtern ein kleines Vermögen in Wertpapieren. Margarethe lebte davon, da sie kein anderes Einkommen hatte. Reinhold Kassel verdiente seinen Lebensunterhalt inzwischen als Einkäufer von Schrott, Walter Kassel nahm Tätigkeiten als Laufbursche und Packer an und schied mit 52 Jahren aus dem Erwerbsleben aus; er erhielt eine kleine Rente. Mittelpunkt der Familie blieb die Wohnung in der Klaus-Groth-Straße 64, und an die Stelle der Mutter trat Elisabeth Kassel. Die beiden Schwestern wohnten zusammen mit ihrem ledigen Bruder Walter in einem Haushalt. Im Zusammenhang mit dem Novemberpogrom 1938 wurde er genauso wie sein Bruder Reinhold verhaftet und in das KZ Fuhlsbüttel verbracht. Ab 1940 leistete Reinhold Kassel Pflichtarbeit. Bereits im Jahr zuvor erhielt Walter Kassel "wegen Geistesschwäche" einen Vormund, den Syndikus des Jüdischen Religionsverbandes, Max Nathan, und zog in die Heinrich-Barth-Straße 17 im Grindelviertel. Die beiden Schwestern verließen Borgfelde ebenfalls und richteten sich in der Fröbelstraße 11 ein. Margarethe führte kostenlos den Haushalt. Über ihren noch vorhandenen Anteil am mütterlichen Erbe verhängte der Oberfinanzpräsident am 11. Juli 1940 eine "Sicherungsanordnung" und entzog es damit ihrer Verfügung; Elisabeth Kassel kam mit ihrem Gehalt und ihrer Pension für ihre Schwester und sich auf.

Auf den Tag genau ein Jahr verging zwischen der Verhängung der "Sicherungsanordnungen" für die Vermögen von Margarethe und Elisabeth Kassel und ihrer Deportation nach Auschwitz. Ihre Ausplünderung und Demütigung erfolgten so konzentriert wie in wenigen anderen Fällen und werden deshalb im Folgenden anhand der Akten der Devisenstelle des Oberfinanzpräsidenten ausführlich dargestellt.

Auch Elisabeth Kassels Vermögen und Einkommen wurden per 11. Juli 1940 mit einer "Sicherungsanordnung" belegt. Für sich und ihre Schwester wurde ihr ein monatlicher Freibetrag von 350 RM zugestanden. Dieser Betrag lag über ihrem Einkommen, weshalb sie auf ihr Erspartes zurückgreifen musste, das jedoch auf dem Sperrkonto lag. Um die Differenz zu erhalten und die vom Oberfinanzpräsidenten geforderten weiteren Abgaben zahlen zu können, musste sie diesen demütig bitten, ihr zu gestatten, ihre Sparguthaben dafür verwenden zu dürfen. Bei den zusätzlichen Abgaben handelte es sich um die seit dem 1. Januar 1941 geforderte Sozial-Ausgleichs-Abgabe (15 Prozent des Bruttoeinkommens), den Winterhilfsbeitrag und Steuern. Der Oberfinanzpräsident erteilte jeweils die Genehmigung.

Am 27. Oktober 1941, zwei Tage nach der ersten Deportation Hamburger Jüdinnen und Juden in den Osten, erhielt Elisabeth Kassel vom Wohnungspflegeamt Hamburg die Aufforderung zum Umzug in eine ihr von der Jüdischen Gemeinde zugewiesene Wohnung in der Grindelallee 21, einem "Judenhaus". Für den Umzug am 8. November 1941 durch die Spedition Heiser und für nötige Änderungen in der Wohnung beantragte sie eine Abschlagszahlung von 200 RM. Sie benötigte ein Verdunkelungsrollo und wollte die Gaslampe durch eine elektrische Beleuchtung ersetzen. Als sich herausstellte, dass das technisch nicht möglich war, ohne die elektrische Leitung zu erneuern, wurde der einfache Gashahn durch einen Doppelhahn ersetzt, sodass die Gaslampe und eine Kochgelegenheit gleichzeitig betrieben werden konnten. Das war billiger als eine neue Lichtleitung. Elisabeth Kassel schöpfte den Pauschalbetrag nicht aus und überwies den Restbetrag zurück auf ihr Sperrkonto.

Am selben Tag, dem 8. November 1941, wurde Walter Kassel trotz seiner "Geistesschwäche" nach Minsk deportiert. Dieser Transport war der erste von zweien nach Minsk. Mit seinen 59 Jahren fiel Walter Kassel gerade noch in die Kategorie der für den angeblichen "Aufbau Ost" körperlich Einsatzfähigen. Mit der Abreise aus Hamburg verliert sich Walter Kassels Lebensspur.

Margarethe und Elisabeth Kassel bereiteten sich Ende November auf ihre "Aussiedlung" vor. Für die Reisekosten und Anschaffungen für die "Evakuierung" beantragten sie die Freigabe von je 300 RM (100 RM für Reisekosten, 200 RM für Anschaffungen). Zwei Tage nach Abgang des vierten Transports von Hamburg in den Osten, der am 6. Dezember 1941 nach Riga führte, zahlte Elisabeth Kassel das Geld wieder ein. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Schwestern für diesen Transport vorgesehen waren. Elisabeth Kassel arbeitete nach ihrer Entlassung aus der "Jüdischen Schule in Hamburg" als Helferin im Jüdischen Altenheim Laufgraben 37.

Elisabeth und Margarethe Kassel erhielten Anfang Juli 1942 eine erneute Aufforderung zum Umzug, diesmal in die Schlachterstraße 47 in der Neustadt, ebenfalls in ein "Judenhaus". Wieder mussten eine Umzugsfirma – dieses Mal Carl Luppy – und Verdunkelungsrollos, dazu Reparaturen und wegen der Enge des Raums die Umarbeitung von zwei Bettstellen in Klappbetten bezahlt werden. Der Oberfinanzpräsident lud Elisabeth Kassel vor, da sie ihrem Antrag keine Belege beigefügt hatte. Der Umzug erübrigte sich. Die Schwestern, die handschriftlich auf die Reserveliste für den ersten Transport im neuen Jahr gesetzt wurden, fuhren am 11. Juli 1942 nach Osten. Das geheim gehaltene Ziel war Auschwitz. Zu dem Transport gehörten drei weitere Lehrkräfte und 21 Schulkinder ihrer ehemaligen Schule in der Carolinenstraße 35. Niemand von ihnen überlebte.

Am 20. August 1942 vermerkte der Oberfinanzpräsident, "die Sicherungsanordnung gegen Frl. Elisabeth Sara Kassel hebe ich hiermit auf", desgleichen für Margarethe Kassel. Die Bank wurde benachrichtigt, das Restguthaben verfiel dem Reich. Kurz zuvor war der von Margarethe Kassel abgelieferte Schmuck mit einem Schätzwert von 26 RM versteigert und der Erlös dem Oberfinanzpräsidenten überwiesen worden.

Reinhold Kassel musste mit seiner nichtjüdischen Frau ebenfalls ins Grindelviertel ziehen und fand eine Unterkunft in der Rutschbahn. Von dort erlebte er die Deportationen seiner Geschwister mit. Rosa Priebatsch wurde mit ihrem Mann Walter am 3. Oktober 1942 von Berlin aus nach Theresienstadt deportiert, wo er am 2. Januar 1943 starb. Rosa überlebte das Getto von Theresienstadt ein weiteres Jahr bis zu ihrer Deportation nach Auschwitz am 16. Mai 1944. Ihr Sohn Gerd wurde am 6. März 1943 direkt nach Auschwitz deportiert, wo sich seine Spur verliert.

Stand: April 2020
© Hildegard Thevs

Quellen: 1; 2 R 387/1940, R 388/1940; 4; 5; StaH, 214-1 Gerichtsvollzieherwesen, 385; 332-5 Standesämter, 2266+1662/1891; 351-11 AfW, 040785; 522-1 Jüdische Gemeinden, 992 d, Bd. 16; 992 e 2, Bde 2, 4; https://collections.arolsen-archives.org/archive/127212800/?p=1&s=gerhard%20priebatsch&doc_id=127212800;
Randt, Carolinenstraße 35; dies., Talmud Tora Schule; dies. Jüdische Schulen am Grindel, in: Wamser/Weinke, Verschwundene Welt; Sielemann, Zielort; freundliche Mitteilungen von Miklas Weber, Berlin, E-Mail 30.4.2020.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Recherche und Quellen.

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