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Bereits verlegte Stolpersteine



Gretchen Marcus (geborene Daltrop) * 1888

Kottwitzstraße 14 (Eimsbüttel, Hoheluft-West)


HIER WOHNTE
GRETCHEN MARCUS
GEB. DALTROP
JG. 1888
DEPORTIERT 1941
RIGA
ERMORDET

Weitere Stolpersteine in Kottwitzstraße 14:
Hugo Marcus

Gretchen Marcus, geb. Daltrop, geb. am 21.12.1888 in Harburg, deportiert am 6.12.1941 nach Riga
Hugo Marcus, geb. am 7.12.1873 in Harburg, deportiert am 6.12.1941 nach Riga

Kottwitzstraße 14

Das Ehepaar Gretchen und Hugo Marcus gehörte zu dem Transport Hamburger Jüdinnen und Juden, der am 6. Dezember den Hannoverschen Bahnhof verließ. Von den 968 Deportierten starben 952 in Lettland. Gretchen und Hugo Marcus zählen zu den Opfern.

Hugo Marcus wurde am 7.12.1873 in Harburg geboren. Seine Eltern waren Julius Marcus und Rosa, geb. Hirsch. Nach der Mittleren Reife absolvierte er eine Ausbildung als Bankkaufmann, teilweise in England. Er machte sich nach der Inflationszeit selbstständig und unterhielt eine Wechselstube an der Reeperbahn.
Gretchen Marcus, geb. Daltrop, wurde am 21.12.1888 in Harburg als mittlere von drei Schwestern geboren. Paula war zwei Jahre älter als sie, Hedwig zwei Jahre jünger. Ihre Eltern waren der Kaufmann Philipp Daltrop und seine Frau Lea, genannt Helene, geb. Coutinho. Als Gretchen geboren wurde, wohnte die Familie in der Lüneburger Straße 50. Daltrops zogen dann in die 1. Wilstorfer Str. 71, Ende des 19. Jahrhunderts siedelte die Familie aber nach Hamburg-Rotherbaum in die Schlüterstraße 75 um. Der Vater handelte am Rödingsmarkt und dann in der ABC-Straße en gros mit Leder. Der Ledergroßhandel hieß Daltrop & Schwarz. Es existierte zudem noch eine Lederfabrik Philipp Daltrop im Abendrothsweg 34. Gretchen Marcus besuchte die Höhere Töchterschule und arbeitete anschließend in einem Photogeschäft, das Familienangehörigen gehörte. Sie blieb auch während der Ehe berufstätig.

Am 15. Mai 1911 heirateten Gretchen Daltrop und der Bankkaufmann Hugo Marcus. Gretchen wohnte bis dahin noch bei ihren Eltern in der Klosterallee 31 und Hugo Marcus im Billhorner Röhrendamm 93. Auch seine Eltern lebten zu der Zeit nicht mehr in Harburg, sondern in Hamburg-Rotherbaum in der Werderstraße 10. 1925 eröffnete das Ehepaar einen Mittagstisch am Steindamm 50 in der ersten Etage; Gretchen Marcus meldete ein Gewerbe als Schankwirtin an. 1928 gründete die Familie Marcus eine Familienpension in der Klosterallee 24 in Harvestehude, zunächst im Hochparterre, später mietete sie auch das Souterrain. Insgesamt standen zwölfeinhalb Zimmer zur Verfügung. Gretchen Marcus‘ Gewerbeanmeldung als Inhaberin eines "Pensionats" wurde am 4. September 1934 registriert. Die Tochter Lotte Marcus erinnerte sich später an die Pension ihrer Eltern: "Grethe Marcus führte den Innenbetrieb und kochte selbst. Hugo Marcus führte die Bücher, hatte Kassenkontrolle und den Einkauf unter sich und empfing die Gäste. Die Pension hatte einen Mittags- und Abendtisch, der von durchschnittlich 15 bis 20 Personen besucht wurde. Ein Gedeck kostete 3,50 Reichsmark. Außerdem fanden täglich Bridgetees statt. Die Preise der Zimmer bewegten sich, je nach Größe und Lage, zwischen 180 und 240 Reichsmark monatlich pro Person bei voller Verpflegung. Die Pension war immer voll besetzt, weil sie sich wegen ihrer Eleganz, guter Bedienung und vorzüglichen Essens eines ausgezeichneten Rufs erfreute." Der Sohn Fritz Marcus schrieb: "Es war eine bessere Pension, wo viel Kristall, Teppiche und Silber war." Bis 1934 hatte Hugo Marcus, ehe er wegen seiner jüdischen Abstammung entlassen wurde, für die Waaren-Credit-Anstalt Hamburg-Innenstadt im Außendienst gearbeitet.

Die Kinder bezeichneten Gretchen Marcus als "die Seele des Geschäfts", ihr Mann habe nur geholfen. Von 1936 an war eine Zeit lang ein gewisser Aufschwung zu verzeichnen, aber 1941 warf die Pension nichts mehr ab.

Beide Eheleute waren vom 19. September 1941 an verpflichtet, den "Judenstern" zu tragen. Am 4. Dezember mussten sie sich zur Deportation einfinden, am 6. Dezember verließ der Zug Hamburg. Ihr Todeszeitpunkt konnte nicht sicher festgestellt werden und wurde von der Behörde auf den 8. Mai 1945 – den Tag, als der Zweite Weltkrieg endete – festgelegt.

Fritz und Lotte, die Kinder von Hugo und Gretchen Marcus, hatten Deutschland noch rechtzeitig verlassen können. Fritz Marcus (geb. am 15.4.1912) emigrierte 1938 nach Argentinien, Lotte (geb. am 21.3.1920) im Januar 1939 nach Brasilien. Vermutlich im August 1936 hatte Lotte den Witwer Heinz Arndt (geb. 26.2.1912 in Hamburg) geheiratet. Später ging sie eine zweite Ehe ein und hieß Lotte Koppel. Offenbar lebten die Geschwister in Südamerika in prekären Verhältnissen. Lotte hatte zudem ein herzkrankes Kind. Fritz war "beinleidend" und zuckerkrank, er starb am 31.5.1983 in Argentinien.

Die Stolpersteine für Gretchen und Hugo Marcus konnten nicht dort gesetzt werden, wo sie zuletzt gelebt und gearbeitet hatten. Das Haus in der Klosterallee 24, das etwa auf der Höhe zwischen der Werder- und der Hansastraße gelegen haben dürfte, wurde im Krieg zerstört. Dieser Teil der alten Klosterallee wurde nach dem Krieg mit den Grindel-Hochhäusern komplett neu bebaut. Hugo und Gretchen Marcus wohnten jedoch sehr lange in der Blücherstrasse 14, der heutigen Kottwitzstraße. Bevor die Straße nach 1945 den heutigen Namen erhielt, wurde sie nach dem Groß-Hamburg-Gesetz zunächst in Boßdorfstraße umbenannt, denn eine Blücherstrasse gab es auch in Altona, Bergedorf, Poppenbüttel, Wandsbek und Wilhelmsburg. Nur die Straße in Altona behielt annähernd ihren Namen und wurde in Graf-Blücher-Straße umbenannt. Die Blücherstrasse war 1901 angelegt worden. Das Haus wurde 1909 gebaut. Schon im Adressbuch 1915 war für Hugo Marcus, Kaufmann, diese Adresse angegeben. Deshalb bot sich diese Adresse für die Stolpersteinverlegung an.

Stand: März 2017
© Susanne Lohmeyer, Lutz Wendler

Quellen: 1; 4; 5; StaH 332-5, 8675 + 164/1911; StaH 332-5, 12882-1067-1888; StaH 351-11, Abl. 2008/1, 11030; StaH 351-11, 2261, 11030 und 37820; HAB II 1900, 1910, 1912, 1920.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".


Erinnerung an Familie Marcus

Vorwort zur Erinnerung an Familie Marcus
von Michael Kohlhaas


Unsere Mutter, damals noch mit dem Mädchennamen Erna Wegner, war 1916 in dem Dorf Zeetze im Amt Neuhaus/Elbe geboren worden; sie starb im Jahre 2000. In den 80er Jahren hatte ich sie angeregt, ihre Lebensgeschichte für die Familie aufzuschreiben, was sie dann auch sporadisch von 1986 bis 1989 tat.

Sie beschreibt in ihren Erinnerungen ihre einfache Herkunft, den Besuch der zweiklassigen Dorfschule und wie sie dann mit 14 Jahren ihre erste Anstellung als Hausangestellte bei einem Dorflehrer antrat, später dann bei Ärzten auf dem Lande, ihren weiteren Lebensweg und schließlich die Kriegs- und Nachkriegszeit.

Ihre Erzählung von der jüdischen Familie Marcus hatte mich nun dazu gebracht, genauer nach ihr zu forschen und nun zwei "Stolpersteine" zu stiften, um an das Schicksal dieser Familie zu erinnern und um ihre Namen der Vergessenheit zu entziehen. Nachkommen oder Verwandte der Familie Marcus konnten bislang nicht ausfindig gemacht werden.

Auch bei dieser kleinen Geschichte fragt man sich immer wieder, was haben die Menschen jener Zeit - hier meine Eltern - von den Ereignissen um sie herum wahrgenommen, wie haben sie reagiert?

Menschen verschwanden unter dunklen, doch ahnungsvollen Umständen aus ihrer Umgebung - aber fast niemand stellte Fragen.

Im Gegenteil, dem betäubenden Rausch des populistischen und hinterhältigen Erfolges der Nazis konnten sich zu viele einfach nicht entziehen. Aus dem erst unschuldigen Umgang mit jüdischen Mitbürgern wurde somit fast zwangsläufig eine schuldbeladene Mitwisser- und Mittäterschaft an den Nazi-Verbrechen; andere und zu viele wurden sogar zu Mördern. Und damit wir Kinder und Enkel uns nicht etwa überheblich gegenüber dieser Zivilisationskatastrophe zeigen (hätten wir in jener Zeit wirklich anders reagiert?), müssen wir uns immer wieder demütig an die Menschen erinnern, die plötzlich nicht mehr dort waren, wo sie einst gewohnt und gelebt hatten.

Hier nun unter dem Kapitel "Hamburg" ein Auszug aus den "Erinnerungen" meiner Mutter Erna Kohlhaas: (Fußnoten und Quellen wurden von mir später hinzugefügt)

Hamburg

Im März 1934 wurde ich 18 und im Mai fuhr ich nach Hamburg. Ganz zum Entsetzen meiner Mutter – mein Vater war 1931 an den Folgen einer Schußverletzung aus dem 1. Weltkrieg verstorben; immerhin war ich mit 18 damals noch nicht volljährig. Aber ich wagte es!

Hamburg! - Irgendwie war das schon immer mein Traum gewesen.
Ich arbeitete im Haushalt der Familie Lange, das waren 4 Personen; sie war Lehrerin, er Schriftsteller. 1) Zwei Söhne besuchten die höhere Schule.

Ich mußte dort viel leisten, manches war fremd für mich und ich war andererseits auch ein
bißchen stolz darauf, mit 18 Jahren einen Haushalt zu führen. Für`s Kochen war ich ja nicht so - aber ich mußte! Mit der Zeit hatte ich mich gut eingelebt und Herr Lange freute sich, daß alles ordentlich war und auch pünktlich ablief. Wenn jedoch Frau Lange nach Hause kam, gab`s immer `was zu meckern, ihm war das sichtlich unangenehm.

Sie war in meinen Augen eine grantige Hexe und ich hatte es oft bereut, die Stelle angenommen zu haben. Aber das kann man ja vorher nicht wissen, immerhin hatte ich 8 Angebote - nun finde `mal das Richtige! Andererseits hatte sie mir immer alles sachlich erklärt, wenn ich mit der Kocherei nicht zurecht kam oder die richtigen Lebensmittel dafür einzukaufen waren.

Herr Lange und die Kinder waren immer sehr nett zu mir. Auch hatte ich ein hübsches Zimmer, sodaß ich es einigermaßen aushalten konnte – bei 25 RM im Monat. Der Schriftsteller (genauere Angaben kann ich hier nicht mehr machen) erhielt auch regelmäßig Besuch von einigen Kollegen.

Einen muß ich doch erwähnen: "Tedjus Tügel"! 2)

Wenn der kam, mußte ich immer Plattdeutsch reden, obwohl es mir damals schon etwas schwer fiel, denn in den Haushalten, in denen ich zuvor gearbeitet hatte, wurde immer Hochdeutsch gesprochen. Wenn die Herren zusammensaßen, mußte ich den Tee bringen und dann ging das "plattdütsche Gebrabbel" los, das war oft zum Schieflachen und hat mir viel Freude neben der Arbeit gemacht.

Hamburg gefiel mir immer mehr und mit der Zeit lernte ich auch eine Freundin kennen; Klara hieß sie, die auch in einem Haushalt arbeitete und bei ihrer Mutter lebte. Ihr erzählte ich von meinem Ärger mit meiner Madame, die nie zufrieden war. Klara hörte sich um und gab mir den Hinweis auf eine Herrschaft, bei der ich mich vorstellen könne.

Das tat ich dann auch und man hätte mich dort am liebsten sogleich dabehalten. Als dann einmal Madame wieder so richtig mies zu mir war, kündigte ich kurzfristig. Da war `was los! Sie wurde fast hysterisch und ich war etwas erschrocken, ich hatte nicht erwartet, daß sie als Lehrerin so reagiert. 3)
Herr Lange und die beiden Söhne waren traurig und bedauerten meinen Fortgang. Mir tat`s nun wiederum Leid, denn sie waren nette Menschen.

Etwa Ende 1934 fing ich dann in Hamburg 13, Klosterallee 24, bei Familie Marcus an. 4) 5)
Es war eine jüdische Familie mit zwei Kindern. Sie betrieben eine "Familienpension". Im ersten Stockwerk gingen von einem Flur 8 Zimmer ab, die Wohnung von Familie Marcus lag im Erd- und teilweise im Kellergeschoß. Ich hatte mein Zimmer unten, dort befanden sich auch die Wirtschaftsräume.

Meine Aufgabe war es, die Zimmer zu versorgen, außerdem arbeiteten noch eine Köchin und eine Putzfrau in der Pension, da lies es sich gut leben. Bezahlt wurde auch gut (etwa 45 RM im Monat) und Trinkgelder gab es reichlich, denn die Pension wurde eher von wohlhabenden Gästen, fast ausnahmslos Juden, bewohnt, auch viele Künstler waren darunter.

Der Sohn Fritz war für einen Juden auffällig blond und blauäugig, sehr groß - und nicht ganz echt: er klaute wie ein Rabe, seine Mutter hatte immer Ärger mit ihm. Tochter Lotte war fast zwei Jahre älter als ich; wir verstanden uns gut und hatten manchmal zusammen `was ausgeheckt, abends durften wir oft ins Kino, was Madame dann bezahlte. Der Hausherr hieß Hugo, wir nannten ihn "Puschenpäbs": er latschte immer mit Pantoffeln durchs Haus. Wie er `mal Geburtstag hatte, haben wir ihm bunte Ponpons auf die Puschen genäht.

Madame hieß Margarethe, man nannte sie Gretchen. Sie war nicht groß, eher rundlich und sehr nett. Ihr wuchs ein kleiner Bart und sie mußte sich daher rasieren. Ein "Freund" kam des öfteren ins Haus, wenn der auftauchte verdrückte sich Hugo. Das war schon merkwürdig, es wurde darüber aber nicht gesprochen.

Zu der Zeit hatten Hugo und Gretchen Silberhochzeit 6), die fiel auf einen Sonnabend oder Sabbat, an dem gläubige Juden ja nichts tun dürfen und kein Geld anfassen. An diesem Tag standen die Türen offen und ab 10 Uhr begann die große Gratulationstour. Ich mußte die Visitenkarten, Blumen und Geschenke annehmen, über die Geschenke buchführen und die Gäste bedienen, dabei half noch eine andere Angestellte. Es war viel los, es wurde viel geredet und erzählt. Für mich war es sehr interessant, das mitzuerleben. Außerdem sprang noch `was für mich dabei heraus: über 160,- RM an Trinkgeldern, das war damals sehr viel Geld!

Familie Marcus gehörte nicht zu den strenggläubigen Juden, aber sie wahrten im Umgang mit den Besuchern die Formen. Am schönsten war in meiner Erinnerung das Laubhüttenfest. Dazu wurde der große Balkon mit viel Grün geschmückt und große Pflanzenkübel wurden aufgestellt, unter denen wir dann saßen, speisten und tranken und fröhlich waren. Es gab vor allem "Matzen", das typische ungesäuerte Brot für diesen jüdischen Feiertag mit viel Butter d'rauf, das schmeckte köstlich.

Aber die Zeit für Juden wurde zusehens schlechter. Die Nazis wurden immer brutaler und bald war die Pension nur noch Durchgangsstation für ausreisewillige Juden, die ihr Hab und Gut verkauft hatten und in Hamburg auf die Schiffspassage nach Übersee, zumeist Argentinien, warteten. Unter ihnen befanden sich dann eines Tages auch Fritz und Lotte. Die Eltern wollten nicht und führten die Pension weiter. Es kamen nun auch häufiger alte und gebrechliche Menschen, die zwar Geld hatten, aber niemanden, der sich um sie kümmerte und ihnen weiterhalf.

Schließlich kam das Gesetz, daß keine "Arier" mehr bei Juden arbeiten durften, bis auf die Ausnahmen im gewerblichen Bereich, dazu gehörte auch noch die Pension. Ich blieb noch eine Weile, wurde aber in der Nachbarschft schon schief angesehen, zum Tanzen in der Nähe traute ich mich nicht mehr. 7)

Ich war nun häufiger bei Klara und ihrer Mutter und sprach mich dort aus. Die Arbeit wurde immer schwerer und ich wollte dann auch nicht mehr. Klara hatte zuvor schon ihre Stellung (auch bei Juden) aufgegeben und so befaßte ich mich auch mit diesem Gedanken.

Durch Klara kannte ich einen Friseur, dem ich mal so nebenher von meiner Arbeitssuche erzählte. Prompt verwies er mich an ein Restaurant schräg gegenüber, in dem ich wohl sofort anfangen könne. Dabei hatte ich immer gesagt, in einer Schlachterei, Gemüseladen oder in einem Lokal würde ich nie arbeiten.

Neugierig ging ich jedoch `rüber und lies mir von der netten Besitzerin des Restaurants in der Grindelallee 154, Frau Barkahn, alles zeigen und erklären. Sie meinte, ich könne sofort anfangen. Das ging natürlich nicht so rasch, denn zuvor mußte ich ja kündigen. Die alten Herrschaften in der Pension waren sehr traurig, aber sie wollten mir auch nichts in den Weg legen in diesen schweren Zeiten.

In der Zwischenzeit stand ihnen auch schon eine etwas ältere und tüchtige Frau zur Seite. Ich wurde sogar von ihnen gut beschenkt, sah sie auch später noch einigemale wieder, es wurde jedoch gefährlicher, diesen Kontakt zu halten.

So fing ich dann im Sommer 1937 im Restaurant als Hilfe an.

Der Beginn meiner neuen Arbeitsstelle bedeutete eine große Umstellung für mich. Ich mußte mir zunächst ein Zimmer suchen und fand es auch in der Bundesstraße bei einem Dr. Schneefuß.

Meine Arbeit begann um 7 Uhr morgens, Fr. Barkahn half mir anfangs viel. Es war nicht leicht, auch unangenehm, denn das Haus war alt, insbesondere die Kellerräume und die Toiletten waren mieserabel und hier hatte ich am meisten zu tun. Auch beim Kochen half ich, nichts besonderes, halt gute bürgerliche Küche. Es war eher so, als würde man für eine etwas größere Familie kochen. Die Chefin hatte mich gut angelernt.

Ein Herr Ober war dort beschäftigt, er hatte unten im Erdgeschoß ein großes Zimmer und wurde mir als "Fritz" vorgestellt, basta! Ich merkte bald, daß er die Stütze vom Ganzen war, Frau Barkahn lobte ihn über den Klee.

Auch von ihm bekam ich Anweisungen für die wichtigsten Dinge und so nahm allmählich alles Formen an, es wurde Routine und zum Nachdenken kam man kaum noch, soviel Arbeit gab es!

Ich half auch zeitweise im Restaurant, lernte Stammgäste kennen und mußte Bier zapfen. Inzwischen hatte ich erfahren, daß "Fritz" in Wirklichkeit Adolf hieß, Familienname Kohlhaas.

Die Erklärung für diesen Namen war einfach: der Vorgänger hieß Fritz und die Gäste hatten offenbar keine Lust, sich den Namen des neuen Obers zu merken.

Frau Barkahn hatte im Herbst 1937 das Restaurant an den Ober Adolf Kohlhaas auf Leibrenten-Basis übertragen, alles war notariell geregelt. Das wurde von den Stammgästen sehr begrüßt und es gab einige feuchtfröhliche Tage. Frau Barkahn ging dann zu ihrem Sohn nach Nürnberg, lebte von den Zahlungen des Restaurants und erhoffte auch weitere Hilfe von ihrem Sohn. Es wurde jedoch kein guter Weg für sie, ihr Sohn hatte zwar Geld genug, aber Frauen und Casino-Abende waren ihm wichtiger. Sie verlor den Mut zum Leben, davon später mehr.
[....]

Das Restaurant lief sehr gut und unter den Stammgästen dauerte es nicht lange und es wurde getuschelt und geredet: ich solle mich doch mit "Fritz" zusammentun, da wir beide tüchtig seien und den Laden so richtig in Schwung gebracht hätten.

Na ja, wie es so lief: tägliches Zusammensitzen, Überlegungen wie der nächste Tag geplant werden sollte und die harmonische Zusammenarbeit ergaben etwas, was man wohl nicht als die große Liebe, aber doch mehr als bloße Kameradschaft bezeichnen konnte.
Kurzum, es war doch ernster und im Dezember 1937 verlobten wir uns heimlich. Unsere Stammgäste sollten davon noch nichts erfahren, denn sie wollten ja unbedingt ihren Kuppelpelz verdienen.
[....]

Unser Weg in die Selbständigkeit war mühsam und kostete Kraft, denn das Restaurant sollte uns erst nach etwa 10 Jahren gehören, solange war eine Rentenzahlung vereinbart. Wir mußten erst unter Beweis stellen, was wir leisten konnten, das große Geld (Eigenkapital) fehlte.

Trotzdem schmiedeten wir große Pläne. Alles sollte renoviert werden und im Frühjahr 1938 fingen wir an: Malerarbeiten, völlige Erneuerung der Toiletten mit Kachelung und Stangenspülung, weiter neue Bilder, Sitzbänke und Ausbau einer Terrasse mit Treppe zum Garten. Dieser sah mit neuen Tannenbepflanzungen und Nischenbildung und Beleuchtung wirklich sehr hübsch aus.

Die Gäste waren sehr erstaunt, was wir in kurzer Zeit aus dem "Laden" gemacht hatten. Dann bestellten wir noch Porzellan mit einem grünen Dekor aus einem Hasenkopf und links und rechts je drei Kohlköpfen. Den entsprechenden Stempel fürs Geschäft gibt es heute noch.

Ich habe in dieser Zeit viel dazugelernt, denn die Selbständigkeit und die ganz anderen Arbeitsbedingungen erzwangen das geradezu. Außerdem war Adolf sehr genau, fast pedantisch, aber wenn alles perfekt war, freuten wir uns beide -und das Restaurant lief gut!

Ein Kellner war angestellt, er arbeitete mitags von 11 bis 14 Uhr und kam dann erneut um 17 Uhr und blieb bis Mitternacht, denn allein konnten wir zu den Hauptgeschäftszeiten die Arbeit nicht schaffen. Ich hatte in der Küche zu tun, mußte einkaufen, wobei die meisten Sachen allerdings ins Haus geliefert wurden.

Ich lernte von Adolf wie man ein Bierfaß von 75 Litern anrollt, es anzapft und auch wie man die Bierleitungen reinigt. Eine Putzfrau kümmerte sich um das Lokal, die Toiletten und die Küche. Ein Buchhalter kam im Monat für ein paar Tage, damit alles seine Ordnung hatte und half uns, die finanziellen Schwierigkeiten die wir hatten, zu meistern, denn wir hatten sehr viel Geld (und Arbeit) investiert.

Aber am Horizont tauchten dunkle Wolken auf, man sprach von Krieg und über die Juden wurde merkwürdig gemunkelt. Wir waren jedoch sehr mit uns und der neuen Situation beschäftigt und hatten kaum Zeit zum Nachdenken was um uns herum passierte. Da gab es wenig Freizeit, wir mußten hart arbeiten, andererseits waren wir jung und glücklich, voller Energie und konnten viel schaffen. Doch diese Zeit war viel zu kurz. 8)

Die NSDAP hatte sich breit gemacht und zwei Häuser weiter eine Parteistelle eingerichtet. Nach ihren abendlichen Sitzungen kamen sie zu uns, tagten im Klubzimmer weiter und tranken natürlich kräftig, was auch unsere Einnahmen deutlich erhöhte. Und das konnten wir bei unseren Umbaumaßnahmen gut gebrauchen.

Die Parteileute drängten uns, in die Partei einzutreten, was wir dann auch aus Geschäftsinteresse taten. Als erstes mußten wir das Schild "Juden unerwünscht" an der Eingangstür anbringen. Anderen Geschäftsleuten erging es genauso, wollten sie ihren Betrieb unbehelligt fortführen.

Wir hatten anfangs viele Juden als Gäste, Adolf kannte durch seine längere Dienstzeit viele Juden im Stadtviertel. Eine zeitlang verabredeten wir uns mit einigen von ihnen abends an einem bestimmten Platz und tauschten Siphons für 2-3 Liter Bier (das waren grüne Flaschen mit Metallringen und Griff). Das ging gut, bis wir einen Brief bekamen, daß auch dieses heimlich geduldete Geschäft streng verboten sei. Viele Juden verreisten, es wurden weniger und schließlich waren sie aus dem Umkreis verschwunden...

Dann kamen SA-Leute, auch welche von der SS und schließlich immer mehr Soldaten.

Im Herbst 1939 begann der Krieg mit dem Polenfeldzug. Zunächst war es unheimlich, man hatte doch Angst - aber diese Siegesfeiern und die sich überschlagende Propaganda brachte alle in einen merkwürdigen Taumel: man dachte nicht mehr nach!

Ich erinnere mich an einen SS-Mann, hart und herrisch im Auftreten, der im Funkhaus an der Rothenbaumchaussee arbeitete und der mich einlud, das Funkhaus zu besichtigen. Das war schon recht interessant, ich wurde sogar abgeholt und dann durch die Räume geführt. Dieser Gast stand häufig am Tresen, um sich zu unterhalten.

Als die "Reichskristallnacht" [9.11.1938] vorüber war und viele jüdische Geschäfte und Synagogen brannten (auch bei uns in der Nähe befand sich eine große Synagoge, die ich sogar noch betreten hatte, als ich bei der jüdischen Familie Marcus in Stellung war), stand auch dieser SS-Mann am Tresen und mir kamen plötzlich die Worte heraus: "Hoffentlich müssen wir da nicht eines Tages für büßen!" Dieser Mann hatte mich bloß angesehen und Angst kroch an mir hoch.

Ich war wohl verwirrt und beschäftigte mich mit den Gläsern und anderen Arbeiten. Er blieb nicht mehr lange, bezahlte nicht gerade höflich und ging fort.
Mir war sehr unwohl: wenn der dich nun abholen läßt! Noch einige Tage hielt das an, besonders wenn ein Militärauto vor dem Lokal stoppte. Der Mann kam dann noch einige Male und wurde schließlich versetzt.

Überhaupt kamen viele Gäste aus dem Bereich Militär, Polizei und Verwaltung, denn in der Nähe an der Bundesstraße befand sich eine Polizei- und Wehrmachtskaserne. Selbst Maate der Marine, die auch in der Legion Condor am Spanienfeldzug teilgenommen hatten, trafen sich hier und freundeten sich mit anderen Gästen an. Es war ein beliebter Treffpunkt.

An einen Polizei-Stabsarzt erinnere ich mich noch, der seinen Steingut-Bierseidel mit Deckel bei uns zu hängen hatte, aus dem er dann fast täglich sein Wittinger-Pils trank. Das war sein Brauch seit der Studentenzeit. Auch einige andere Gäste hatten ihren Bierseidel bei uns zu hängen, das waren durchweg alles sehr gute Gäste.

© Michael Kohlhaas

1) Carl Albert Lange (1892-1952) war Lyriker u. Journalist in Hamburg, heute fast vergessen. Verheiratet war er mit Frieda Dudler (1894-1978), die beiden Kinder waren Harald (1920-1990) und Hartmut (1922- ).

2) Otto Tetjus Tügel, seinerzeit bekannter Malerpoet, (1892-1973), er lebte hauptsächlich in Worpswede.

3) Familie Lange wohnte in der Neumünstersche Straße 32, Hptr., in Eimsbüttel. Im Zeugnis war die Beschäftigungszeit angegeben: vom 10.5.1934 bis zum 15.9.1934.

4) Heute eine Rasenfläche zwischen den Grindelhochhäusern, in diesem Abschnitt existiert die Klosterallee nicht mehr.

5) Nach Recherchen im Internet (ahnenreich.de von Georg Stockschlaeder und Johann-Hinrich Möller, Aktion Stolpersteine) war dies Hugo Marcus, geb. am 7.12.1873 in Hamburg und Gretchen Marcus, geb. Daltrop,geb. am 21.12.1888 in Hamburg? Beide wurden hiernach am 6.12.1941 nach Riga-Jungfernhof deportiert und kamen dort 1942 im Feuer des Holocaust um. Fritz, geb. am 15.4.1912, war nach Angaben aus einer Steuerkarte von 1934 (JGHH No. 17250, Beruf Kaufmann) mit Jaffa Taradaika verheiratet und 1938 nach Argentinien ausgewandert. Über Lotte, geb. 8.3.1920, heißt es: "verheiratet 1939 nach Brasilien".
Im Februar 2009 wurden von mir zwei Stolpersteine für die Klosterallee gespendet, die im Juli 2009 allerdings in der Kottwitzstraße 14 eingelassen wurden, einem früheren Wohnort der Familie Marcus.

6) Wenn die Silberhochzeit z.B. 1936 stattgefunden hat, wäre die Hochzeit also 1911 gewesen und die beiden Kinder danach geboren.

7) Es liegt kein Beschäftigungsnachweis oder Zeugnis aus dieser Zeit vor. Vermutlich war meine Mutter von September 1934 bis Sommer 1937 in der Pension tätig.

8) Das Restaurant wurde im Juli 1943 bei den großen Luftangriffen zerstört. Zuvor hatte meine Mutter seit 1941 bei der Luftwaffe als Nachrichtenhelferin gedient.

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