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Bereits verlegte Stolpersteine



Antje Hinrichs * 1940

Marckmannstraße 135 (ehemalige Kinderklinik) (Hamburg-Mitte, Rothenburgsort)


ANTJE HINRICHS
GEB. 16.1.1940
ERMORDET 27.10.1944

Weitere Stolpersteine in Marckmannstraße 135 (ehemalige Kinderklinik):
Andreas Ahlemann, Rita Ahrens, Ursula Bade, Hermann Beekhuis, Ute Conrad, Helga Deede, Jürgen Dobbert, Anneliese Drost, Siegfried Findelkind, Rolf Förster, Volker Grimm, Lisa Huesmann, Gundula Johns, Peter Löding, Angela Lucassen, Elfriede Maaker, Renate Müller, Werner Nohr, Harald Noll, Agnes Petersen, Renate Pöhls, Gebhard Pribbernow, Hannelore Scholz, Doris Schreiber, Ilse Angelika Schultz, Dagmar Schulz, Magdalene Schütte, Gretel Schwieger, Brunhild Stobbe, Hans Tammling, Peter Timm, Heinz Weidenhausen, Renate Wilken, Horst Willhöft

Kinderkrankenhaus Rothenburgsort

Im früheren Kinderkrankenhaus Rothenburgsort setzten die Nationalsozialisten ihr "Euthanasie-Programm" seit Anfang der 1940er Jahre um.
33 Namen hat Hildegard Thevs recherchieren können.

Eine Tafel am Gebäude erinnert seit 1999 an die mehr als 50 ermordeten Babys und Kinder:

In diesem Gebäude
wurden zwischen 1941 und 1945
mehr als 50 behinderte Kinder getötet.
Ein Gutachterausschuss stufte sie
als "unwertes Leben" ein und wies sie
zur Tötung in Kinderfachabteilungen ein.
Die Hamburger Gesundheitsverwaltung
war daran beteiligt.
Hamburger Amtsärzte überwachten
die Einweisung und Tötung der Kinder.
Ärzte des Kinderkrankenhauses
führten sie durch.
Keiner der Beteiligten
wurde dafür gerichtlich belangt.



Weitere Informationen im Internet unter:

35 Stolpersteine für Rothenburgsort – Hamburger Abendblatt 10.10.2009

Stolpersteine für ermordete Kinder – ND 10.10.2009

Stolpersteine gegen das Vergessen – Pressestelle des Senats 09.10.2009

Die toten Kinder von Rothenburgsort – Nordelbien.de 09.10.2009

35 Stolpersteine verlegt – Hamburg 1 mit Video 09.10.2009


Wikipedia - Institut für Hygiene und Umwelt

Gedenken an mehr als 50 ermordete Kinder - Die Welt 10.11.1999

Euthanasie-Opfer der Nazis - Beitrag NDR Fernsehen 29.05.2010

Hitler und das "lebensunwerte Leben" - Andreas Schlebach NDR 24.08.2009
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Antje Hinrichs, geb. 16.1.1940 in Hamburg, ermordet am 27.10.1944

Antje Hinrichs kam als zweites von drei Kindern des Handelsvertreters Reinhold Hinrichs, geboren 1890 in Hamburg, und seiner 22 Jahre jüngeren Ehefrau Gertrud, einer Säuglingsschwester aus Altona, im Jerusalem-Krankenhaus in Hamburg-Eimsbüttel zur Welt. Sie wurde in der evangelischen Kirche getauft. Ihre Eltern wohnten in der Diagonalstraße 14 in Hamm. Schon vor dem "Feuersturm" vom 27./28. Juli 1943, der ihr Zuhause zerstörte, unterbrachen fast tägliche Luftalarme den Alltag. Gertrud Hinrichs und ihre Kinder wurden ausgebombt, sie fanden eine vorübergehende Unterkunft in Meldorf in Dithmarschen, während der 53-jährige Vater in Hamburg als reaktivierter Revieroberwachtmeister der Schutzpolizei beim 55. Polizeirevier in Hamburg-Horn Dienst tat. Er lebte nun in der ehemaligen Volksschule für Jungen, Morahtstraße 4 in Horn, vermutlich eine Notunterbringung seines Dienstherrn. Nach dem "Feuersturm" und der Evakuierung der betroffenen Bevölkerung stand die Schule leer.

Am 27. September 1943, Antje Hinrichs war inzwischen fast vier Jahre alt, wies sie der Meldorfer Arzt Hans Behrends in die damaligen Alsterdorfer Anstalten ein, weil sie "nervenleidend" sei. Laut ärztlicher Diagnose lief sie nicht selbstständig, sprach nicht und wurde weder sauber noch trocken.

Ihre Eltern hatten vom ersten Lebensjahr an bemerkt, dass Antje sich nicht wie andere Kinder entwickelte, doch sie spielte gern und freute sich, wenn andere sich mit ihr beschäftigten, hatte ein ruhiges und umgängliches Wesen, kannte ihren Namen, andere Personen und ihre Umgebung. Außer Keuchhusten hatte sie keine Krankheiten durchgemacht.

Niemand hatte sie beim "Reichsausschuss" gemeldet, denn ihre Behinderung war körperlich unauffällig, und sie fügte sich verträglich in das Familienleben ein. Wir wissen nicht, ob die Eltern vielleicht wegen der prekären Wohnsituation Antjes Anstaltsaufenthalt zustimmten.

Mitte August 1943, nach den Zerstörungen durch die Luftangriffe auf Hamburg, hatte die Leitung der damaligen Alsterdorfer Anstalten mehrere hundert Kranker in andere Anstalten verlegt und so Raum für etwaige weitere Kriegsopfer geschaffen. Der Leiter Friedrich Lensch bemühte sich, wie er seinem Kollegen Friedrich von Bodelschwingh in Bethel am 9. September 1943 mitteilte, "durch weitere Verlegungen Vorsorge für etwaige neue Katastrophen" zu treffen. Statt weitere Kranke zu verlegen, nahm er, wenn auch nur wenige, neue Patientinnen und Patienten auf. Es ist anzunehmen, dass Antje durch den "Reichsausschuss" hier eingewiesen wurde, denn nach der Schließung der "Kinderfachabteilung" Langenhorn und der schweren Beschädigung des Kinderkrankenhauses Rothenburgsort gab es in Hamburg keine "Beobachtungsstation" für ein Kind mit Behinderungen. Eine Alternative wäre die Einweisung nach Schleswig-Stadtfeld gewesen, dem aber der Aufenthalt zumindest eines Elternteils in der Nähe entgegen stand. Die Eltern brachten Antje, bemerkenswert gut mit Kleidung ausgestattet, am 29. September 1943 nach "Alsterdorf" und gaben bei ihrer Aufnahme an, dass in der Familie keine besonderen Erkrankungen vorlägen. Antjes ein Jahr älterer Bruder sei gesund, die Schwangerschaft und Antjes Geburt seien normal verlaufen.

Der Leitende Oberarzt, Gerhard Kreyenberg, bescheinigte für die Betriebskrankenkasse der Hansestadt Hamburg, dass Antje Hinrichs "zur Beobachtung auf Schwachsinn" aufgenommen worden sei. Man müsse mit einem Aufenthalt von mindestens einem Vierteljahr rechnen. Danach übernahm die Sozialverwaltung die Kosten. Im Aufnahmebefund beschrieb er Antje als "dunkelblondes Mädchen mit ‚kindlich erstauntem’ Ausdruck", das körperlich altersgemäß entwickelt sei, dem jedoch die entsprechenden geistigen Fähigkeiten fehlten. Er stellte die Diagnose "Imbezillität" ("Schwachsinn mittleren Grades").

Die Beobachtungszeit verlängerte sich. Am 4. Mai 1944 schickte Kreyenberg ein ärztliches Gutachten an "Herrn Dr. Stuhlmann, Gesundheitsamt Altona": "Antje Hinrichs, geb. 16.1.40, leidet an einem Schwachsinn erheblichen Grades (Idiotie). Sie kann nicht sprechen, gibt nur Töne von sich meist auf den Vokal a, greift nach blanken Gegenständen. Sie muss völlig besorgt, an- und ausgezogen werden, gefüttert werden und lässt unter sich."

Sechs Wochen später traf das Antwortschreiben mit der Anweisung ein:
Antje Hinrichs sollte auf Weisung des Amtsarztes Walter Stuhlmann vom Gesundheitsamt Altona nach einer Verfügung des "Reichsausschusses" ins Kinderkrankenhaus Rothenburgsort verlegt werden. Am 29. Juni 1944 meldete die Anstaltsleitung der Sozialverwaltung, dies sei geschehen und informierte einen Tag später ihre Mutter, die sich zu dem Zeitpunkt in Polkau in der Altmark aufhielt, dass "Ihre Tochter laut Mitteilung des Reichsausschuss am 28.06. 1944 von unseren Anstalten in das Kinderkrankenhaus Rothenburgsort, Marckmannstraße verlegt" worden ist. Ob die Mutter je darüber aufgeklärt wurde, was es mit dem "Reichsausschuss" auf sich hatte, geht aus den Unterlagen nicht hervor.

Antje kam zusammen mit Gebhard Pribbernow (s. ders.) nach Rothenburgsort. Während er bereits Anfang Juli ermordet wurde, wurde sie nach sechswöchigem Aufenthalt am 8. August 1944 nach Alsterdorf, laut Transportmeldung des D.R.K. in "ihre Wohnung", zurück gebracht "bis zur endgültigen Klärung über die weiteren Maßnahmen", wie die Ärztin Lotte Albers erläuterte. "Bei entsprechender Nachricht aus Berlin wird das Kind wieder angefordert werden."

Über diesen ersten Aufenthalt von ca. sechs Wochen im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort, als Antje beobachtet wurde, existieren keine Unterlagen. Sie wurde untersucht, und der Ergebnisbericht an den "Reichsausschuss" geschickt. Über Antjes Schicksal war also noch nicht entschieden. Ihre Behinderung war für die Gutachter offenbar nicht eindeutig, ebenso wenig, ob eine weitere Beobachtung erfolgen solle. Bis zu der Entscheidung darüber war es kostengünstiger, Antje in einer Heil- und Pflegeanstalt unterzubringen, als sie im Krankenhaus zu belassen.

Am 15. September 1944 wurde Antje in das Kinderkrankenhaus Rothenburgsort "beurlaubt", wie es hieß, um eine Myelographie (s. Erläuterungen) durchzuführen. Sie wurde auf der chirurgischen Station von Lotte Albers aufgenommen. Das Myelogramm, am dritten Tag ihres Aufenthalts erstellt, zeigte eine Verengung des Wirbelkanals im Lendenwirbelbereich und die Wiederholung zehn Tage später eine im Brustwirbelbereich. Zwischenzeitlich stieg Antjes Körpertemperatur an, möglicherweise als eine Folge der Untersuchungen, ohne dass sie sonstige Beschwerden hatte. Am 1. Oktober übergab Lotte Albers die Station an Ingeborg Wetzel. Diese nahm am folgenden Tag eine Untersuchung der Rückenmarksflüssigkeit auf eine Reizung durch das Kontrastmittel (Jodipin) vor. Antje vertrug das Jodipin.

Am 10. Oktober 1944 erkrankte Antje Hinrichs infolge einer Hausinfektion an Scharlach und wurde auf die Infektionsabteilung zu Ortrud von Lamezan verlegt, die bei der Übergabe darüber informiert wurde, dass es sich bei Antje Hinrichs um ein "Reichsausschusskind" handle und der Antrag auf "Ermächtigung zur Behandlung" bereits von anderer Seite gestellt worden sei.

Trotz der akuten Infektion wurden in den folgenden Tagen die sehr eingreifenden und quälenden Untersuchungen fortgeführt mit dem Ergebnis, dass Antje "keine Veränderungen. Keine Lähmungen" aufwies, die "Reflexe gut auslösbar" blieben und als Fazit: "Im Wesen ist das Kind nicht anders als sonst." Aufgrund der Verlaufsnotizen muss angenommen werden, dass es bei diesen Untersuchungen um die Erforschung der Risiken der Myelographie überhaupt und etwaige Nebenwirkungen des Kontrastmittels Jodipin ging, wie schon bei Ursula Bade.

Einige Tage nach der letzten Untersuchung erhielt Ortrud von Lamezan einen Zettel mit den Worten "Genehmigung für Antje Hinrichs liegt vor." Assistiert von Felicitas Holzhausen, gab sie ihr eine Spritze von 10 ccm Luminal. Am 27. Oktober 1944 starb Antje Hinrichs.

Über die Ursache von Antje Hinrichs’ Entwicklungsstörung lässt sich keine sichere Aussage machen. Sie wurde vier Jahre und 10 Monate alt.

Reinhold Hinrichs, inzwischen in Altona wohnhaft, zeigte den Tod seiner Tochter fünf Tage nach dessen Eintritt beim Standesamt Billbrook an, das die Zuständigkeit für Rothenburgsort übernommen hatte. Als Todesursache wurde "Entwicklungshemmung, Lungenentzündung" eingetragen. Die Auseinandersetzungen um die Kostenübernahme für die Beerdigung zogen sich bis März 1945 hin.

Im Ermittlungsverfahren gab Walter Stuhlmann, der Antjes Einweisung veranlasst hatte, nur zu, diese weitergegeben und unterschrieben zu haben. Der Grund dafür sei ihm entfallen, denn die Eltern hätten nicht in seinem Bezirk gelebt und er sei auch kein Gutachter gewesen. Ähnlich wie er erinnerte sich kaum einer der Amtsärzte an seine Mitwirkung.

© Hildegard Thevs

Quellen: Ev. Stiftung Alsterdorf, Archiv, V 265; StaH 213-12 Staatsanwaltschaft Landgericht NSG, 0017-001; 0017-005; 332-5 Standesämter, 1237+397/1944.

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