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Bereits verlegte Stolpersteine




Stolpertonstein

Erzähler: Thomas Karallus
Sprecher/in: Ute Smith & Achim Schülke
Clara und Theodor Tuch
© Privatbesitz

Dr. Theodor Tuch * 1865

Billbrookdeich 152 (vormals Haus Nr. 49) (Hamburg-Mitte, Billbrook)


HIER WOHNTE UND
ARBEITETE
DR. THEODOR TUCH
JG. 1865
DEPORTIERT 1942
THERESIENSTADT
TREBLINKA
ERMORDET

Weitere Stolpersteine in Billbrookdeich 152 (vormals Haus Nr. 49):
Clara Tuch

Theodor Tuch, Dr. phil., geb. 20.4.1865 in Hamburg, deportiert am 19.7.1942 nach Theresienstadt, am 21.9.1942 weiter deportiert nach Treblinka
Clara Tuch, geb. Levie, geb. 12.5.1875 in Hamburg, deportiert am 19.7.1942 nach Theresienstadt, am 21.9.1942 weiter deportiert nach Treblinka

Billbrookdeich 152 (Billbrookdeich 49)

Zum Hamburger Straßenbild gehörten in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts kleine rote Lieferwagen mit dem Firmenlogo "H. C. J. Karstadt" im Hamburgwappen, die zwischen den 41 Filialen und ca. 300 Annahmestellen der Firma, die ihren Sitz am Billbrookdeich 49 in Billbrook hatte, verkehrten. Im Volksmund hieß die Firma "Karstadt – Porges". Die Autos transportierten Textilien, die gefärbt, gewaschen oder chemisch gereinigt wurden. Der Firmenname mit seinem Anklang an die Rudolph Karstadt AG ging auf den 1847 von Johann Hinrich Carl Karstadt als einer der ersten im späteren Industriegebiet Billbrook gegründeten Betriebe zurück, eine handwerkliche Färberei für "Lappen", damaliger Ausdruck für Zuschnitte und genähte Kleidung.

Billbrook gehörte zu den Hamburger Landgemeinden. Entlang der Bille errichteten Hamburger Kaufleute ihre Landsitze mit großen landwirtschaftlich genutzten Lände­reien.

Als Billbrook seit Mitte des 19. Jahrhunderts für Gewerbe und Industrie erschlossen wurde, erwarb auch der in Galesburg/Illinois geborene Jude George Porges mehrere Flurstücke. Er gehörte zu den Gründern der "Henry-Jones-Loge zum Gruße". 1889 übernahm er die an seinen Grundbesitz angrenzende Firma "Johann Hinrich Carl Karstadt" als neuer Inhaber, leitete den Wandel vom Gewerbe- zum Industriebetrieb ein und änderte den Namen in J. H. C. Karstadt. George Porges begründete ein mittelständisches Familienunternehmen. Er heiratete 1888 Helene Tuch, die zwei Jahre jüngere Schwester Theodor Tuchs. 1892 machte er seinen 24-jährigen Schwager zu seinem Prokuristen. Helene wie Theodor erhielten von ihrem Vater je 25000 Goldmark, die sie in die Firma investierten.

Theodor Tuch wurde am 20. April 1865 als ältestes der fünf Kinder von Gustav Tuch und Caroline, geb. Hildesheim, in Hamburg geboren (s. "Stolpersteine in Hamburg-Hamm, S. 154ff., "Stolpersteine in Hamburg-Wandsbek, S. 146–151). Er verließ Hamburg zum Studium der Philosophie und Mathematik an verschiedenen deutschen Universitäten und kehrte nach seiner Promotion in Jena nach Hamburg zurück, um eine Leitungsfunktion in der "Größten Dampf-Färberei Hamburgs", wie George Porges seine Firma bei der Industrie- und Gewerbeausstellung 1889 annoncierte, zu übernehmen. 1896 heiratete Theodor Tuch die zehn Jahre jüngere Clara Levie. Am 27. Juni 1897 wurde ihr Sohn Hans geboren, am 7. Juni 1901 Tochter Edith.

Um die Jahrhundertwende wurde Billbrook weiträumig durch Aufhöhung des Geländes, Begradigung von Deichen, Aushebung von Kanälen, Anlage von Eisenbahngleisen und Straßen den Erfordernissen der Industrialisierung angepasst. Das betraf den Porgesschen Grundbesitz insofern, als wegen der Begradigung und Verlegung des Billwärder Billdeiches ein Arealaustausch im Norden und mit der Aufhöhung des Südteils und der Anlage der heutigen Berzeliusstraße ebenfalls ein Gebietsaustausch verbunden war. Das Betriebsgelände von J. H. C. Karstadt, im Winkel zwischen Billbrookdeich und Moorflether Straße gelegen, blieb von diesen Maßnahmen ausgenommen.

Die rasante Entwicklung der chemischen Industrie auf dem Gebiet der synthetischen Farbstoffe seit Mitte des 19. Jahrhunderts erforderte für ihre industrielle Anwendung einen großen technischen Aufwand, den George Porges und Theodor Tuch auf ihrem damals verkehrsmäßig noch schlecht angebundenen Werksgelände trieben; erst 1907 bot die Billwärder Industriebahn einen Gleisanschluss für die Kesselwaggons und Güterwagen. Unter den Sattel- und blendfreien "Sheddächern" – Sägedächern mit nach Norden gerichteten Fensterbändern – neuer Werkshallen installierten sie damals modernste Technologie wie rotierende Trommelbehälter zum Waschen und Färben, Heißdruckkammern, sogenannte Autoklaven, und beheizte Mangeln, sogenannte Kalander. Die dafür nötige Energie lieferte Heißdampf aus eigenen Kesselanlagen mit damals beachtlichen 55 PS Leistung. Für die z. T. hoch gefährlichen Chemikalien richteten sie, durch ein Röhrenleitungssystem mit den Werkhallen verbunden, extra Lagerräume ein und produzierten Antibenzinpyrin, ein Mittel gegen die Selbstentzündung von Benzin. Generell spielte der Arbeitsschutz der bis zu 230 Beschäftigten in ihrer Betriebsführung eine wichtige Rolle. Ein Meister stand der Färberei vor, die Qualitäts- und Verfahrenskontrolle oblag einem eigenen chemischen Labor unter der Leitung von promovierten Chemikern.

Trotz aller Vorkehrungen ereignete sich 1907 ein Unglück: Der gesamte Vorrat an Waschbenzin entzündete sich und verbrannte, offenbar ohne weiteren Schaden anzurichten. Die Feuerversicherungsgesellschaften ersetzten die Kosten der 5147,90 kg Benzin, der Bundesrat des Deutschen Reichs den darauf liegenden Zoll von 398,40 Mark. Von weiteren derartigen Unglücken in der Firmengeschichte ist nichts bekannt. Anders in der Familiengeschichte: Die einzigen Söhne, Herbert Porges und Hans Tuch, wurden im Ersten Weltkrieg als Soldaten getötet.

Auf dem Firmengelände lebte der Färbermeister. George Porges wohnte in der Hamburger Innenstadt, später in der Oberstraße, Theodor Tuch wechselte mehrfach die Adresse im Bereich Borgfelde und Hamm.

1918 wandelten George Porges und Theodor Tuch den Betrieb in eine GmbH um und gaben für das Handelsregister als Zweckbestimmung an: "Gegenstand des Unternehmens ist die Übernahme und Fortführung der unter der Firma J. H. C. Karstadt in Hamburg betriebenen Färberei und Reinigerei sowie der Betrieb der mit diesem Gegenstand des Unternehmens zusammenhängenden Handelsgeschäfte. (Die Angliederung anderer gleichartiger Unternehmungen und die Beteiligung an solchen gelten als mit dem Gegenstand des Unternehmens zusammenhängende Geschäfte.)" Geschäftsführer wurde Theodor Tuch, George Porges sein Stellvertreter. Hiermit eröffneten sich die beiden Gesellschafter mögliche Ausweitungen ihres Geschäftes in verschiedene Richtungen. Theodor Tuch führte die Firma erfolgreich durch die Inflationsjahre. Da sich George Porges einer zweiten Firma, der Kommanditgesellschaft George Porges, widmete, traten Prokuristen an die Seite Theodor Tuchs, im Januar 1928 sein Schwiegersohn Otto-Erich Blumenfeld und Alfred Lehmann. Edith Tuch hatte 1924 den Färber und Kaufmann Otto-Erich Blumenfeld geheiratet.

Einer der bekanntesten Konkurrenten der Firma, die Färberei J. H. Busch, geriet durch die Weltwirtschaftskrise in finanzielle Schwierigkeiten und trat 1931 an die Firma J. H. C. Karstadt mbH heran, um mit ihr eine Betriebsgemeinschaft einzugehen. Die Firma Busch legte ihren Betrieb still und ließ die in ihren Läden angenommenen Aufträge im Betrieb der J. H. C. Karstadt bearbeiten. Die Zusammenarbeit erbrachte nicht die erhofften Einsparungen. Um den Konkurs der Firma Busch abzuwenden, stellte ihr die Firma J. H. C. Karstadt ein nicht unerhebliches Kapital zur Verfügung, um die Gläubiger zu befriedigen, wodurch sie selbst in finanzielle Schwierigkeiten geriet, die Firma Busch aber dennoch nicht retten konnte. Privat erlitt Theodor Tuch 1932 den Verlust seiner Schwester Helene Porges, die am 3. November starb.

Nach der sogenannten Machtergreifung 1933 wechselten die Eigentümer: Otto-Erich Blumenfeld übernahm den Besitz von George Porges und zog auf das Firmengelände, 1934 folgte ihm Theodor Tuch dorthin. Zu dem Zeitpunkt besaß er von dem Stammkapital von nominal 50000 RM noch 48000 RM Geschäftsanteile, den beiden Prokuristen Otto-Erich Blumenfeld und Alfred Lehmann gehörten jeweils 1000 RM. Da alle drei Gesellschafter als Juden galten, Otto-Erich Blumenfeld zwar als "Mischling 1. Grades", schränkten langjährige große Kunden wie die Hamburger Schifffahrts-Linien und die Theater ihre Aufträge auf Anweisung der Parteistellen und Behörden zunächst ein; später durften diese Kunden überhaupt keine Aufträge mehr erteilen. Auch viele Privatkunden zogen sich zurück. Das Unternehmen arbeitete trotzdem ohne Verluste, hatte aber bei verminderten Gewinnen noch die Schulden aus der Zusammenarbeit mit der Firma Busch zu tragen, weshalb der Konkurs drohte. Trotz aller Widrigkeiten führte Theodor Tuch zusammen mit seinem Schwiegersohn Otto-Erich Blumenfeld die Firma erfolgreich weiter. Der zweite Prokurist, Alfred Lehmann, emigrierte in die Niederlande. Theodor Tuchs persönliche Einkünfte waren so gering, dass er steuerlich nicht veranlagt wurde.

Nach dem Novemberpogrom 1938 wurde Otto-Erich Blumenfeld verhaftet und am 15. Dezem­ber 1938 aus dem KZ Sachsenhausen mit der Auflage, auszuwandern, entlassen. Daraufhin betrieb er seine Emigration in die USA zusammen mit seiner Frau Edith und den Kindern René, geb. 10. September 1928, und Malkah, geb. 17. April 1932. Etwa zur gleichen Zeit erfasste die Devisenstelle des Oberfinanzpräsidenten auch Theodor Tuch und seine Firma. Da Theodor Tuch glaubhaft keine Auswanderungsabsichten hegte, wurde ihm gestattet, angesichts der erheblichen Zahl von ca. 200 Beschäftigten die Geschäfte im bisherigen Rahmen weiterzuführen. Die Bedingungen für die Verfügung über sein Kapital und seine Einkünfte legte der Oberfinanzpräsident in der "Sicherungsanordnung" vom 3. Dezember 1938 wie folgt fest:

"Herr Dr. Tuch darf über seinen Gesellschaftsanteil von RM 49000 und über das Darlehen aus demselben von etwa RM 10000 und sonstige Forderungen gegen die Fa. J. H. C. Karstadt nur mit Genehmigung unter obigem Geschäftszeichen verfügen.

Herr Dr. Tuch kann ohne Genehmigung bei der Fa. J. H. C. Karstadt zu Lasten seines Privatkontos (unlesbar) RM 600 für den Lebensunterhalt sowie die öffentlichen Abgaben und israelitische Gemeindesteuer, sofern diese unmittelbar an die Gläubiger gezahlt werden, verfügen."

Zu den Abgaben gehörten die "Sühneleistung" und die "Judenvermögensabgabe" von 6400 RM, die er mit einer Schuldverschreibung abgalt. Die komplexen Ansprüche Otto-Erich Blumenfelds gegen die Firma trat er an seine "arische" Mutter und seinen jüdischen Vater Moses Blumenfeld ab.

Ein halbes Jahr später gehörte das Lebenswerk Theodor Tuchs Hermann Friedrich Schneider aus Pinneberg. Durch einen Vertrag vom 20. Mai 1939 wurden sämtliche Geschäftsanteile der J. H. C. Karstadt mbH an ihn übertragen. Ihm wurde auferlegt, "70 Prozent des noch zu ermittelnden Entjudungsgewinnes als Ausgleichsabgabe zu Gunsten des Deutschen Reiches zu entrichten". Dieser Vertrag wurde mit Datum vom 31. Juli 1939 vom Reichsstatthalter Karl Kaufmann genehmigt. Das Ehepaar Tuch blieb bis 1941 zusammen mit dem langjährigen Fär­bermeister H. Randig auf dem Gelände wohnen. Die zunächst 600 RM für ihren Lebensunterhalt wurden bereits im September 1939 auf 500 RM reduziert; Sonderausgaben wurden auf Antrag bewilligt, wie die Zahlungen an die Makler, Börsenumsatzsteuer und das Honorar für den Konsulenten Dr. Haas. Im Februar 1940 wurde der Freibetrag erneut gesenkt – auf 450 RM bei nachgewiesenen monatlichen Ausgaben von 500 RM.

Theodor und Clara Tuch wurden zusammen mit der Lehrerin Gella Streim in Volksdorf bei Gustav Jordan in seinem Einfamilienhaus Horstlooge 35, einquartiert. Ihre dortige Zeit ist sehr gut dokumentiert (s. Publikation "Stolpersteine in Hamburg-Wandsbek"). Von dem Grund- und Betriebsvermögen der Firma J. H. C. Karstadt, die Theodor Tuch ein halbes Jahrhundert lang erfolgreich führte, standen bei seiner "Evakuierung" in das Getto von Theresienstadt für ihn und seine Frau noch 5858 RM zur Verfügung, die er für ihre Heimeinkaufsverträge an den Jüdischen Religionsverband in Hamburg abtreten musste. Sie wurden im Alter von 77 bzw. 67 Jahren am 15. Juli 1942 nach Theresienstadt und bereits am 21. September 1942 ins Vernichtungslager Treblinka deportiert, wo sie vermutlich unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet wurden. Mit ihrem Abtran­port verfiel das abgelieferte Silber – es handelte sich um elf Besteckteile mit einem Schätzpreis von 22,50 RM – dem Reich. Es wurde bereits am 18. August versteigert und erbrachte 40 RM, die nach Abzug von Gebühren dem Oberfinanzpräsidenten überwiesen wurden.

George Porges heiratete nach dem Tod seiner Frau Helene am 31. November 1932 die Witwe Recha Würzburg. Er nahm sich am 2. Februar 1942 das Leben. Recha Porges wurde ebenfalls am 15. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. Sie gelangte, 85-jährig, im Februar 1945 mit dem einzigen in die Schweiz führenden Transport in die Freiheit.

Epilog: Die Firma J. H. C. Karstadt wurde im Restitutionsverfahren nach Ende des "Dritten Reiches" zu 50 Prozent an Edith Blumenfeld zurückgegeben und am 31. Dezember 1965 geschlossen. Ein Gutachter beurteilte um 1980 den Zustand der Gebäude, die von einer Spedition genutzt wurden, als gut und empfahl dem Denkmalschutz eine Prüfung der "fast amorphen Gebäudegruppierung", die "in die kleinmaßstäbliche Bebauung des Billbrookdeichs" überleitete. Die Baubehörde entschied, dass es sich nicht um "erhaltenswerte Gebäude der Industrie und Technik" handelte und gestattete den Abriss.

© Hildegard Thevs mit Ulrich Bauche

Quellen: 1; 2 R1938/2465, R 1938/3333; 4; 5; 7; diverse Adressbücher; StaH, 132-1 I Senatskommission f. d. Reichs- und auswärtigen Angelegenheiten, 1257 UA 59; 214-1 Gerichtsvollzieherakten, 683; 231-3 Handelsregister, A 12, Bd 20; 231-7 Handelsregister, A1 Band 78, 19124; 311-2 IV Finanzdeputation IV, DV VI A 1 b XXVD, DV VI A 1 b XXVM; 351-8 Aufsicht über Stiftungen, B 276; 351-11 AfW, 707, 24620; 413-3/1 Landschaft Billwärder, 38 b; 522-1 Jüdische Gemeinden, 872 III 1927, Nr. 2; Bezirksamt Hmb-Mitte, Bauprüfabt. Billstedt, Bauakte: Billbrookdeich 152/158; Frühauf, Fabrikarchitektur; Hamburgs Handel und Verkehr, 1897–1899 und 1901–1903; Zwirner, Gutachten.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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