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Bereits verlegte Stolpersteine



Porträt Alice Nelki
Alice Nelki
© Privatbesitz

Alice Nelki * 1886

Schellingstraße 12 (Wandsbek, Eilbek)


HIER WOHNTE
ALICE NELKI
JG. 1886
DEPORTIERT 1941
RIGA
ERMORDET

Weitere Stolpersteine in Schellingstraße 12:
Elisabeth Olga Nelki

Elisabeth Olga Esther Nelki, geb. 29.5.1861 in Berlin, deportiert am 19.7.1942 nach Theresienstadt, dort gestorben am 2.2.1943
Alice Nelki, geb. 5.5.1886 in Hamburg, deportiert am 6.12.1941 nach Riga

Schellingstraße 12 (Ottostraße 12)

Elisabeth und Alice Nelki waren zwei Frauen jüdischer Herkunft, die unterschiedlichen Generationen einer großen in Hamburg, Berlin und in England ansässigen Familie angehörten. Beide wurden Opfer der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten.

Die erste dokumentierte Spur der Familie Nelki – damals noch Nelky – findet sich auf einem Trauschein von Vorfahren aus der Altmark aus dem Jahre 1759. Im Laufe der Jahrhunderte verstreute sich die Familie in verschiedene europäische Länder, z. B. nach Ungarn und Großbritannien. Einzelne Familienzweige verschlug es bis nach Mexiko, Kanada und Australien. Insbesondere der englische und der deutsche Familienzweig halten bis heute engen Verwandtenkontakt.

Der in Deutschland verbliebene 1825 geborene Jacob Julius Nelky, Vater von Elisabeth und Großvater von Alice Nelki, änderte die Schreibweise des Familiennamens. Seitdem schreibt sich der auf ihn zurückzuführende Familienzweig mit "i" statt mit "y".

Jacob Julius Nelki verdiente seinen Lebensunterhalt zunächst mit der von ihm hergestellten "Periostin" genannten Medizin gegen Zahnschmerzen, die er auf Märkten verkaufte. Er war auch als Chiropodist (Fußpfleger) tätig. Später gründete er einen Zirkus und reiste in Europa und Nordafrika umher. Zu dieser Zeit bezeichnete er sich als "Kavalarisso", womit vielleicht "Reiter" gemeint sein könnte. Jacob Julius Nelki war zweimal verheiratet und hatte zwölf Kinder, darunter neben der in Theresienstadt verstorbenen Elisabeth Nelki auch Alice Nelkis Vater Leopold Nelki. Jacob Julius Nelki starb 1908 in Rom.

Elisabeth Nelki wurde am 29. Mai 1861 in Berlin geboren und lebte dort bis 1934, wahrscheinlich bei ihrem Bruder, dem Zahnarzt Hermann Nelki, in der Augsburger Straße 25 (Bezirk W 50). Sie war unverheiratet. Als Hermann Nelki 1934 mit seiner Tochter und seinen Söhnen nach London emigrierte, blieb Elisabeth Nelki allein in Berlin zurück. Sie hatte in den Jahren vorher immer Kontakt zu ihren Verwandten in Hamburg gehalten. So lag es nahe, nach Hamburg zu übersiedeln. Hermann Nelki bezahlte ihr das Fahrgeld. Nach ihrer Ankunft in Hamburg zog Elisabeth zunächst zu ihrem Neffen Conrad Nelki in der Heitmannstraße 19 in Barmbek-Süd.

Hier wohnten bereits mehrere Mitglieder der Familie, auch Alice Nelki. Später wechselte Elisabeth Nelki zu einem weiteren Familienzweig der großen Hamburger Nelki-Familie mit dem Nachnamen Kruse in der Papenstraße 47, vermutlich in der trügerischen Hoffnung, dass dieser Name weniger auffallen und so Schutz bieten würde. Ein Vorfahre der Familie Kruse hatte schon 1857 in die Familie Nelki eingeheiratet. Zudem war eine von Elisabeths Schwestern mit einem Mit­glied der Familie Kruse verheiratet.

Ein "lediges Fräulein" ohne Berufsausbildung wie Elisabeth Nelki hatte es damals nicht leicht. Sie bekam von Verwandten abgelegte Kleider und andere nützliche Dinge, die sie sich nicht selbst leisten konnte. Sie behalf sich mit einfachsten Mitteln, um sich zurechtzumachen. Elisabeth Nelki, die immer nur "Liese" genannt wurde, war in ihrer Familie sehr beliebt. Bei Verwandtenbesuchen hatte sie immer Süßigkeiten in der Tasche. Die Kinder standen dann erwartungsvoll am Fenster. Wenn "Liese" um die Ecke kam, riefen sie: "Unsere Zuckertante kommt."

Während der Volkszählung im Mai 1939 war Elisabeth Untermieterin in der Ottostraße 12 in Eilbek. Sie bewohnte dort ein ärmlich eingerichtetes Zimmer mit Kochplatte, Holzschemel, Waschschüssel und Bett.

Anfang November 1940 wechselte sie als Untermieterin zu Frieda Warnecke (s. unten) in die Straße Rutschbahn 15 im Stadtteil Rotherbaum – ein späteres "Judenhaus". Ab Mai 1941 ist die Isestraße 27 als Adresse in Elisabeth Nelkis Kultussteuerkarteikarte der jüdischen Gemeinde – offiziell des Jüdischen Religionsverbandes – vermerkt. Die letzte bekannte Station auf Elisabeth Nelkis Odyssee durch Hamburg bildete die Westerstraße 27 im Stadtteil Hammerbrook (ehemals Klostertor) – ebenfalls ein so genanntes Judenhaus. Hier erhielt sie im Juli 1942 den Deportationsbefehl.

Elisabeth Nelki wurde im Alter von 81 Jahren am 19. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. Sie verstarb dort sechs Monate später am 2. Februar 1943 laut Todesfallanzeige an "Marasmus univ. und allgemeinem Kräfteverfall". Es ist anzunehmen, dass Elisabeth Nelki in Theresienstadt verhungerte.

Alice Nelki, Elisabeth Nelkis Nichte, war das neunte der fünfzehn Kinder des Geschäftsreisenden und Annoncenwerbers Leopold Nelki und seiner Frau Sara.

Leopold Nelki war am 27. März 1855 in Berlin als Sohn von Jacob Julius Nelki geboren worden. Seine Ehefrau Sara Nelki, geborene Behrend, kam am 12. Mai 1853 in Hamburg zur Welt. Sara Behrend und Leopold Nelki heirateten am 19. April 1876 in Dewsbury in der Grafschaft West Yorkshire in England. Am 24. April 1876, noch in Dewsbury, wurde Tochter Rosalie als erstes von insgesamt fünfzehn Kindern geboren.

Die Familie Nelki war vollkommen assimiliert. Nicht jüdische, sondern die aus dem christlichen Umfeld bekannten Feste, wie z. B. Weihnachten, wurden gefeiert, der Sabbat ignoriert. Auf koscheres Essen legte sie keinen Wert. Auch die wichtigen religiösen Stationen von Kindern und Heranwachsenden, wie Beschneidung und Bar Mitzwa waren in der Familie ohne Bedeutung, sie wurden übergangen. In der Mitgliederliste der Jüdischen Gemeinde von 1935 erschienen nur drei der Kinder von Leopold und Sara Nelki, die Eltern selbst nicht. Ein Sohn wurde mit noch nicht vier Jahren christlich getauft. Mindestens drei der Söhne nahmen als Soldaten am Ersten Weltkrieg teil.

Die Kinder von Leopold und Sara Nelki kamen mit Ausnahme des ältesten Kindes Rosalie in Hamburg zur Welt. Die Familie Nelki zog kurz vor oder nach der Geburt jedes der Kinder in eine andere Wohnung, manchmal nur wenige Häuser oder Straßen weiter. Der Grund dafür lag weniger in dem Bestreben, mehr Raum für die wachsende Familie zu finden, sondern die Umzüge wurden nach Erzählungen der Nachkommen vielmehr dadurch ausgelöst, dass die Mieten für die bisherigen Unterkünfte nicht mehr aufgebracht werden konnten und die Mietkosten durch "Trockenwohnen" gerade fertiger Neubauten niedrig gehalten werden sollten.

Über Alice Nelkis Kindheit sowie Schul- und Berufsausbildung ist nichts überliefert. Als Erwachsene blieb sie unverheiratet und wohnte zunächst einige Jahre in der Familie ihres Bruders Conrad in der Heitmannstraße 19 in Barmbek-Süd. Sie erlebte nicht nur die zunehmenden Einschränkungen und Diffamierungen durch antijüdische Maßnahmen nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten, sie musste auch mit ansehen, wie sich ihre Familie in alle Richtungen zerstreute oder schwer unter den Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten litt. Ob sie für sich selbst eine Flucht aus Deutschland in Betracht zog, ist unklar.

Offiziell lebte Alice Nelki zum Zeitpunkt der Volkszählung im Mai 1939 bei ihrer Tante Elisabeth in der Ottostraße 12. Tatsächlich zog sie laut Kultussteuerkarteikarte aber erst am 10. November 1940 dorthin.

Alice Nelkis Aufenthalt in dem von ihrer Tante Elisabeth übernommenen Zimmer in der Ottostraße 12 in Eilbek war nur von kurzer Dauer. Sie wohnte zuletzt in der Sierichstraße 92 bei Wulf(f). Die Anschrift ergibt sich aus der Deportationsliste. Danach war Alice Nelki bis zu ihrer Deportation bei Albert und Clara Wulff als Hausangestellte tätig.

Am 4. Dezember 1941 hatte Alice Nelki sich im Gebäude der Provinzialloge Niedersachsen in der Moorweidenstraße einzufinden. Nachdem sie zwei Nächte mit den vielen dort zusammengepferchten Menschen im Logengebäude unter unwürdigen Umständen verbracht hatte, wurde sie am Morgen des 6. Dezember 1941 zusammen mit 752 weiteren Leidensgenossen nach Riga deportiert.

Zu diesem Transport gehörte auch Frieda Warnecke aus der Rutschbahn 15, bei der Alices Tante Elisabeth Nelki gewohnt hatte. Der Zug kam am 9. Dezember am Bahnhof Skirotava in der Nähe von Riga an. Von dort wurden die Unglücklichen in das Lager Jungfernhof, einem aufgelassenen Gutshof, getrieben.

Über Alice Nelkis Schicksal nach ihrer Ankunft in Riga ist nichts bekannt. Von ihr gab es nie wieder ein Lebenszeichen.

Das Schicksal der Geschwister von Alice Nelki

Alice Nelkis älterer Bruder Oswald (geboren 1882) starb 1938 im Alter von 55 Jahren im Krankenhaus Altona an einer Lungentuberkulose und einem Lungenödem in Folge von schwersten körperlichen Pflichtarbeiten auf Waltershof und an anderen Orten.

Vor 1933 hatte Oswald Nelki den Lebensunterhalt für seine Familie als Annoncenakquisiteur für Hamburger Tageszeitungen verdient. Ab Anfang 1933 fand er immer weniger Arbeit, bis er bald seinen Beruf nicht mehr ausüben durfte. Die Familie lebte nun von Wohlfahrtsunterstützung und musste 1934 ihre bisherige großzügige Wohnung in der Quickbornstraße 50 in Hoheluft-West gegen eine kleine in der Eduardstraße 13 in Eimsbüttel tauschen. Das Schulgeld für die Privatschule der Kinder konnte nicht mehr aufgebracht werden. Die so genannte öffentliche Fürsorge betrug pro Woche 11 RM für das Ehepaar und 2,60 RM für jedes Kind. Doch auch diese geringe Unterstützung wurde in Frage gestellt. Von staatlicher Seite hieß es, man könne die Familie Nelki doch nicht ewig ernähren, Oswald Nelki solle sich eine Arbeit suchen. Er erlitt einen Nervenzusammenbruch mit der Folge dauernder Schwermut. Seine Ehefrau Ella später: "Da mein Mann nicht wusste, was er beginnen sollte, wurde er zur Zwangsarbeit nach Waltershof geschickt. Bei Wind und Wetter musste er dann morgens früh mit dem ‚Judendampfer‘ – ein Dampfer war extra für die Juden eingesetzt – nach Waltershof und Erdarbeiten verrichten." Die Abteilung Arbeitsfürsorge der Hamburger Sozialbehörde sonderte Juden ab 1935 von den anderen so genannten Unterstützungsarbeitern ab und richtete Extraarbeitsplätze nur für jüdische Unterstützungsempfänger ein. Sie wurden zu schwersten Erdarbeiten herangezogen. Auf Waltershof mussten sie auf einem Schlickfeld Sport- und Spielplätze für die Kindertageskolonie und ein Kleingartengelände errichten. Die Männer standen bis zu den Hüften im Schlamm.

Oswald Nelki – ohnehin körperlich geschwächt – zog sich auf Waltershof eine schwere Erkältung mit nachfolgender Tuberkulose zu. In der Lungenheilanstalt Geesthacht wurde er von Patienten, die "nicht neben einem Juden liegen und sitzen wollten", diskriminiert. Sein psychischer Zustand wurde immer kritischer. Er isolierte sich und flüchtete nach Hause. Wegen Infektionsgefahr wurde Oswald Nelki in das Barmbeker Krankenhaus eingeliefert. Er litt an Zwangsvorstellungen und Minderwertigkeitsgefühlen. Hinzu kam die Sorge um seinen im KZ Dachau inhaftierten Bruder Max Nelki (s. unten). Oswald Nelki verweigerte die Nahrungsaufnahme. Er glaubte, es würde der Familie besser gehen, wenn er nicht mehr lebe und der "Haushaltungsvorstand arisch wäre". Damit meinte er seine nichtjüdische Ehefrau Ella. Verlegt in das Altonaer Krankenhaus, wurde er völlig bettlägerig. Er erholte sich nicht mehr und starb am 17. März 1938.

Die Verfolgungsmaßnahmen setzten sich für die Familie fort. Oswald Nelkis Sohn Lothar durfte als "Halbjude" keine höhere Schule besuchen. Kurz vor Kriegsende verloren auch die beiden Töchter Oswalda und Ursula ihre Arbeit. Ella Nelki und ihre drei Kinder überlebten den Krieg. Sie wurden zweimal (1941 und 1943) ausgebombt.

Zwei der Nelki-Brüder, Walter und Hans, konnten mit ihren Familien ebenso wie ihre Schwester Rosalie mit ihrem Sohn Fritz rechtzeitig nach Belgien emigrieren.

Der am 13. September 1890 geborene Walter Nelki war als Vertreter für Wirtschafts- und Haushaltsartikel für mehrere Firmen tätig. 1914 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen und erlitt eine Verletzung am linken Oberschenkel. Nach dem Ersten Weltkrieg wohnte er mit seiner Familie wie die Familie Oswald Nelki in der Eduardstraße 13 in Hamburg-Eimsbüttel. Walter Nelki emigrierte Ende Juli 1938 gemeinsam mit seiner evangelischen Ehefrau Johanna, geborene Lüttmann, geboren am 31. März 1893 in Lübeck, und seiner Tochter Gisela, geboren am 9. Juni 1922 in Hamburg, wie schon vorher seine Geschwister Rosalie und der jüngere Bruder Hans nach Antwerpen. Am 31. Oktober 1939 wurden Walter Nelki, seiner Frau Johanna und der Tochter Gisela die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen.

Da Walter Nelki in Belgien keine Arbeitserlaubnis erhielt, fehlte ihm jede Verdienstmöglichkeit. Am Tag des Einmarsches der deutschen Truppen, dem 10. Mai 1940, wurde er von den belgischen Behörden verhaftet und in das Internierungslager St. Cyprien in Südfrankreich gebracht.

Das Camp de Concentration de Saint-Cyprien (Konzentrationslager Saint-Cyprien) genannte am Strand von Saint-Cyprien in Südfrankreich an der spanischen Grenze gelegene Internierungslager wurde von 1939 bis 1940 betrieben. In den Monaten Mai und Juni 1940 füllte es sich mit Deutschen und Flüchtlingen anderer Nationen, mehrheitlich jüdischer Abstammung insbesondere aus Belgien.

In St. Cyprien wurde Walter Nelki zunächst einigermaßen gut behandelt. Das änderte sich, als nach der Besetzung Frankreichs durch deutsche Truppen das Lager im Juni 1940 von der SS bewacht wurde. Nun erhielt er Faustschläge und Peitschenhiebe, wurde mehrfach zu Boden gestoßen.

Auch Fritz Nelki, der oben erwähnte Sohn von Rosalie Nelki, wurde nach St. Cyprien verschleppt.

Nach sieben Monaten wurden Walter und Fritz Nelki aus St. Cyprien entlassen. Sie kamen nach Antwerpen zurück. Von dort wurde die Familie nach Brüssel gebracht und musste sich fortan zweimal am Tag bei der deutschen Polizei melden.

Nach dem Einmarsch der alliierten Truppen im Herbst 1944 wurden die Angehörigen der Familie Nelki befreit. Walter Nelki kehrte mit seiner Familie im September 1945 nach Hamburg zurück. Die nach Belgien geflüchteten Angehörigen der Familie Nelki überlebten den Nationalsozialismus. Mehrere blieben in Belgien.

Alice Nelki half ihrem jüngeren Bruder Max bei dessen unfreiwilliger Emigration nach Shanghai. Sie brachte sich dadurch möglicherweise um ihre eigene Ausreise.

Max Nelki, geboren am 3. Oktober 1894 in der Straße Rutschbahn 24 in Eimsbüttel, hatte das Matthias-Claudius Gymnasium in Wandsbek bis zur Unterprima besucht. Auch er diente im Ersten Weltkrieg als Soldat. Aus seiner ersten Ehe mit Louise Jane, geborene Reynolds, aus Hull in England gingen zwei Kinder, Ingeborg und Alexander, hervor. Max Nelki arbeitete als Zeitungsannoncenwerber wie schon sein Vater und sein Bruder Oswald. Er bezeichnete sich selbst für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg als Kaufmann. Nach der Scheidung von seiner ersten Frau war Max Nelki im Jahre 1935 einer nichtjüdischen Freundin zugetan. Die Nürnberger Rassengesetze kriminalisierten und untersagten solche Beziehungen.

Als Max Nelki trotz Verbotes eine Nacht bei seiner Freundin verbracht hatte, wurde er wahrscheinlich denunziert und Ende 1935 zur Gestapo im Hamburger Stadthaus vorgeladen. Die Gestapo konnte ihm jedoch nichts nachweisen und ließ ihn begleitet von Drohungen gehen. Offenbar stand er aber weiter unter Überwachung. Als er am 19. Februar 1936 bei seiner Freundin mit anderen Gästen ihren Geburtstag feierte, wurde er dort verhaftet. Die nächsten 14 Tage verbrachte er in "Schutzhaft" in dem berüchtigten Kola-Fu (Polizeigefängnis Fuhlsbüttel). Ab März 1936 kam er für über drei Monate in das Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis 3. Die Freundin "gestand" das "Verbrechen Rassenschande". Die Umstände und Mittel, mit denen das "Geständnis" herbeigeführt wurde, sind nicht überliefert. Aus anderen "Rassenschande"-Verfahren ist bekannt, dass die Verhörmethoden trickreich und brutal waren. Einem anderen Gefangenen wurden, wie Max Nelki berichtete, nach seiner Verhaftung bei der Gestapo im Hamburger Stadthaus 20 Zähne ausgeschlagen und die Lippe gespalten. Die Verwundung im Mund sei dann notdürftig genäht worden.

Max Nelkis Urteil vom 10. Juni 1936 lautete auf 18 Monate Zuchthausstrafe wegen "Rassenschande". Die Haftzeit verbrachte er zunächst in einer Einzelzelle, dann mit vielen Inhaftierten in einer viel zu kleinen Zelle. Die Mithäftlinge waren zu seiner Erleichterung keine Kriminellen, sondern erwiesen sich als inhaftierte Juden wie er selbst.

Während der Haftzeit starben Max Nelkis geschiedene Frau Louise Jane (am 12.10.1936) und seine inzwischen 16-jährige Tochter Ingeborg (am 7.6.1937). Sein noch minderjähriger Sohn Alexander kam auf Umwegen zu den bereits in Antwerpen lebenden Verwandten Rosalie und Fritz Nelki.

Nach der Strafverbüßung wurde Max Nelki nicht etwa auf freien Fuß gesetzt, sondern am 11. September 1937 in das KZ Dachau eingeliefert. Dort lernte Max Nelki den heute hoch angesehenen Rechtsanwalt und Strafverteidiger Hans Litten kennen, der wegen seines konsequenten Auftretens gegen die Nationalsozialisten in der Nacht des Reichstagsbrandes in "Schutzhaft" genommen worden war. Hans Litten nahm sich am 5. Februar 1938 im KZ Dachau das Leben.

Nachdem im Laufe des September 1938 etwa 2000 österreichische Juden in das KZ Dachau eingeliefert worden waren, wurde Max Nelki am 22. September 1938 in das Konzentrationslager Buchenwald überstellt. Als so genannter Rassenschänder wurde er der Strafkompanie mit der Folge erhöhter Arbeitsanforderung zugeteilt. Die Gefangenen wurden nachts um drei Uhr geweckt. Oft mussten sie morgens antreten und bis abends stehen. Es gab nichts zu essen, gesprochen werden durfte auch nicht. Bei seiner Entlassung am 14. April 1939 erteilte die Gestapo ihm die Auflage, Deutschland umgehend zu verlassen. Mit dieser Auflage wurde in den Jahren 1938 und 1939 ein Teil der Juden aus den Konzentrationslagern entlassen. Bei der Flucht von Max Nelki aus Deutschland halfen die Geschwister Albrecht und Alice. Albrecht bemühte sich bei den Hamburger Behörden intensiv um eine Ausreiseerlaubnis nach Shanghai. Alice beschaffte die notwendigen Devisen über jüdische Hilfsorganisationen. Ausgestattet mit wenigen gebrauchten Kleidungsstücken verließ Max Nelki am 22. August 1939 Deutschland.

Er bestieg in Genua die SS "Conte Biancamano" und erreichte Shanghai am 12. September 1939. 1940 wurde Max Nelki wie alle Emigranten ausgebürgert. Er hatte Deutschland gerade noch rechtzeitig verlassen können und überlebte im Getto in Shanghai. Hier heiratete Max Nelki am 14. Juli 1942 erneut. Eine standesamtliche Registrierung fand nicht statt. Die Ehe wurde kurze Zeit später geschieden. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit Englisch-Unterricht für Emigranten. 1949 kehrte Max Nelki nach Hamburg zurück.

Alice Nelkis Bruder Albrecht, der Max Nelki bei der Flucht aus Deutschland geholfen hatte, starb 1940 an einem Schlaganfall im jüdischen Krankenhaus in der Johnsallee 68. Der 1879 geborene und 1903 getaufte Bruder Conrad überlebte den Nationalsozialismus ebenso wie sein 1883 geborener Bruder Karl in Hamburg. Es ist nicht bekannt, wie ihnen dies angesichts des massiven Verfolgungsdrucks gelungen ist.

Fünf der 14 Geschwister von Alice Nelki starben im Säuglings- bzw. Kindesalter, ein Bruder mit 18 Jahren.

Für Elisabeth und Alice Nelki liegen Stolpersteine vor dem Wohnhaus Schellingstraße 12.

Stand Februar 2014
© Ingo Wille

Quellen: 1; 3; 4; 5; 6; 7; 8; 9; AB; StaH 332-5 Standesämter 1931-2453/1878, 195-52/1937, 934-58/1928, 1070-236/1937, 1954-2338/1879, 1983-4739/1880, 2030-3061/1882, 2088-375/1885, 2435-4121/1897, 2942-245/1907, 3378-111/1920, 5412-415/1938, 6454-73/1907, 7175-30/1935, 8168-220/1940; 8168-2414/1883, 8980-3563/1883, 9010-2041/1886, 9044-61/1889, 9055-1152/1890, 9080-1110/1892, 9099-1768/1894, 9112-2237/1895, 13086-240/1899; 351-11 Amt für Wiedergutmachung 1657, 3515, 4199, 6111, 12489, 16157; 522-1 Jüdische Gemeinden 992 e Deportationslisten; Bästlein u. a., "Für Führer, Volk und Vaterland", S. 281ff.; Bettelheim, Erziehung zum Überleben, S. 26; Deutschland-Berichte (Sopade) 1936, S. 1660ff; Discher, Eine stumme Generation berichtet; Englard, Vom Waisenhaus zum Jungfernhof; Grabitz u. a., "Von Gewohnheitsverbrechern, Volksschädlingen und Asozialen ...", S. 105, 111f.; Lohalm, Uwe, Fürsorge und Verfolgung, S. 34f.; Nelki, Erna und Wolfgang, Geschichten aus dem Umbruch der deutschen Geschichte; Nelki, Max, Persönlicher Bericht über seine Haft im Kola-Fu, KZ Dachau, KZ Buchenwald sowie seine Emigrationszeit in Shanghai, 1952, unveröffentlicht; Robinsohn, Justiz als politische Verfolgung, Die Rechtsprechung in "Rassenschandefällen", S. 15, 23; Sielemann, Die Deportation aus Hamburg und Schleswig-Holstein am 6. Dezember 1941 in Baltisches Gedenkbuch, S. 599; Bervoets, La liste de Sait-Cyprien, S. 389; www.wikipedia.org Saint-Cyprien (Zugriff am 26.2.2013); Dank an Brigitte Kruse, Monika Martens, Sabine Rapaz, Mirjam Nelki und Greta Heinecke für mündliche und schriftliche Berichte sowie Fotos.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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