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Hermann Müller * 1888

Bürgerweide 54 (Hamburg-Mitte, Borgfelde)


HIER WOHNTE
HERMANN MÜLLER
JG. 1888
EINGEWIESEN
’HEILANSTALT’ HADAMAR
ERMORDET 29.10.1943

Hermann Müller, geb. 11.7.1888 in Grambow/Mecklenburg, ermordet am 29.10.1943 in der Heil- und Pflegeanstalt Hadamar/Hessen

Bürgerweide 56 (Bürgerweidenstieg 2)

Hermann Müllers Vater, der Torfmeister Theodor Müller, bekleidete am Grambower Moor, einige Kilometer westlich von Schwerin in Mecklenburg gelegen, ein verantwortungsvolles Amt. Aus seiner Ehe mit Catharina Scheve gingen neben Hermann zwei weitere Söhne und zwei Töchter hervor. Sie alle besuchten die örtliche Dorfschule und schlossen sie, der damaligen Zählung der Klassen entsprechend, mit der ersten Klasse ab. Die Söhne wurden selbstständiger Landwirt, Schuhmacher und Glaser; die beiden Töchter heirateten.

Hermann Müller absolvierte eine dreijährige Glaserlehre in Crivitz und ging anschließend auf Wanderschaft. Dabei hielt er sich zwei Jahre lang in Bochum und drei Jahre in Schwerin auf. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges, 26 Jahre alt, wurde er eingezogen. Während der ge­samten Kriegszeit war er an der Front im Einsatz, ohne je befördert oder schwerer verletzt zu werden. Einmal erlitt er eine leichte Durchschusswunde am linken Oberschenkel.

Nach Kriegsende machte sich Hermann Müller in Hamburg als Glaser selbstständig. Am 21. Ok­tober 1920 heiratete er die Witwe Emma Baasch, geb. Sass, die eine Tochter mit in die Ehe brachte. Als erstes gemeinsames Kind wurde ein Sohn geboren. Von ihren insgesamt fünf Kindern starben zwei bereits im ersten Lebensjahr. Die Familie wohnte in der damals im Volksmund sogenannten Bürgerweidenallee, amtlich Bürgerweidenstieg, Nr. 2.

Hermann Müller führte sein Geschäft durch die Inflationszeit hindurch, gab es aber 1925 auf und arbeitete danach als Glasergehilfe. 1927 erlitt er einen Beinbruch und lag ein halbes Jahr im Krankenhaus St. Georg. Nach seiner Genesung fand er eine Anstellung als Straßenkehrer beim Hamburger Staat, wurde aber wegen Arbeitsmangels nach einem Jahr entlassen. Er fand mehrmals für kurze Zeit Arbeit in seinem erlernten Beruf, bevor er erwerbslos und von der öffentlichen Fürsorge abhängig wurde. Der Niedergang seines Geschäfts und seiner Be­rufstätigkeit ging einher mit der Entwicklung einer Alkoholerkrankung, deretwegen er bereits 1926 vorübergehend in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg behandelt worden war. Weil er Wohlfahrtsleistungen für sich verbrauchte, wurden die Kinder zeitweilig im Waisenhaus untergebracht. Er begann verwirrt zu reden und seine Frau zu misshandeln. Am 20. Juli 1931 ließ sie sich wegen "gänzlicher Zerrüttung der Ehe" scheiden.

Hermann Müller wurde als Obdachloser und Bettler kurze Zeit später in das "Versorgungs­heim Farmsen" eingewiesen, der Beginn einer mehrjährigen Odyssee durch Heime und Anstalten. In Farmsen gehörte er der Kolonne für Feldarbeit an. Er wurde als "friedlich" mit Tendenz zur Absonderung beschrieben, der mit Flüsterstimme spreche. Bald jedoch entwich er. Ein­wei­sung und Flucht wiederholten sich, bis er am 23. Januar 1933 wegen seines seelisch-geistigen Zustands in die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg überwiesen wurde. Er hatte sich von fremden Ideen beeinflusst gefühlt, handelte und reagierte zerfahren, verschroben und wurde gelegentlich aus einer Erregung heraus gewalttätig. Doch meist verhielt er sich freundlich, war ansprechbar, wenn er auch weiter nur flüsterte. Oft vertiefte er sich in Bücher, ohne wirk­lich zu lesen. Sein Verhalten wechselte laut ärztlicher Beschreibung zwischen Un­auf­fäl­ligkeit und manischer Erregung, Misstrauen, Freundlichkeit und Gleichgültigkeit. Gern sei er singend im Garten umhergezogen. Nach fast zwei Jahren wurde Hermann Müller in die Heil- und Pflegeanstalt Langen­horn verlegt, die ihn zwei Mo­na­te später wieder ins Versor­gungs­heim Farmsen entließ, wo er nunmehr gewalttätige Tendenzen zeigte. Im August 1935 muss­te sich Hermann Müller im Allgemeinen Kranken­haus Barm­bek der Zwangs­sterilisation unterziehen.

Ein letztes Mal wurde er im Februar 1936 von "Farmsen" nach "Langenhorn" überwiesen. Dort führte er leichte Tätig­kei­ten aus. Seine frühere Ehefrau hielt Kontakt zu ihm, beantragte vergeblich Urlaub für ihn, doch wurde ihr gestattet, ihn zu besuchen.

Hermann Müllers Zustand, nun als Schizophrenie diagnostiziert, verschlechterte sich und führte im Dezember 1938 zu seiner Entmündigung. Am 28. August 1939 wurde er in die damaligen Alsterdorfer Anstalten verlegt, wo er die folgenden vier Jahre verbrachte. Bei seiner Auf­nahme in "Alsterdorf" wog er 65,5 kg bei einer Größe von 166 cm, vier Jahre später 43,2 kg, obwohl er ein starker Esser gewesen sein soll. Im April 1940 hielt ein Akteneintrag fest: "Außer kleinen Erregungszuständen, die selten in dieser Art wie heute auftreten (An­griff auf einen Pfleger), macht er im allgemeinen keine Schwierigkeiten, arbeitet fleißig den ganzen Tag. Hat er keinen Tabak, verweigert er die Arbeit. Von den Mitpatienten sammelt er Kippen, wirft sie brennend in den Mund und meint, dafür habe er extra einen hohlen Zahn im Mund."

Hermann Müllers Geschwister und seine drei Kinder lebten in Hamburg, doch gab es kaum Kontakt. Auch die Verbindung zu seiner geschiedenen Frau brach vorübergehend ab, als sie erkrankte und deswegen ihren Mann nicht besuchen konnte. Ob ihre Nachricht an ihn, dass die beiden Söhne im Felde standen, in Hermann Müllers Bewusstsein eindrang, lässt sich nicht feststellen. Am 18. Januar 1942 wurde sei­ne Anstaltsbedürftigkeit seitens der Sozial­­ver­waltung vorerst bis zum 31. Dezember 1946 be­stä­tigt. Doch diesen Tag erlebte er nicht mehr.

Hermann Müller wurde am 7. Au­gust 1943 mit einem Transport von 128 Kindern und Män­nern von Als­terdorf in die Heil- und Pfle­ge­anstalt Eichberg im Rheingau ver­legt. Sie gehörte zu den An­stal­ten, aus denen Patien­ten im Rah­men der Aktion T 4 bis zu deren Ein­stel­lung im August 1941 der Tö­­tungs­anstalt Hadamar zugeführt wurden. In beiden Ein­rich­tungen wur­de die Ermor­dung von Behin­der­ten fortgesetzt. Her­mann Mül­ler kam am 12. Oktober 1943 in die Heil- und Pflegeanstalt Ha­da­mar und verstarb dort nach kurzem Aufent­halt am 29. Ok­to­ber 1943. Er wurde auf dem An­stalts­­friedhof bei­gesetzt.

Emma Müller fand nach ihrer Aus­bombung im Juli 1943 mit ihrer zwölfjährigen Tochter Unter­kunft in Plön. Sie erfuhr im März 1944 von der Leitung der dama­ligen Alsterdorfer Anstalten von der Verlegung ihres Mannes und wandte sich an die Anstaltsleitung Eichberg mit der Bitte um Auskunft, "wie es mit dem Befinden meines Mannes ist. … Meine Kinder möchten dieses auch gerne wissen, wie es dem Vater geht und ist überhaupt an eine Heilung zu denken." Sie erhielt umgehend die Nachricht von seinem Tod und auf mehrfache Anfragen zu den näheren Umständen den Zweizeiler: "Ihr Mann war an einer Grippe mit hohem Fieber erkrankt. Eine Herzschwäche führte den Tod herbei. Der Verstorbene ist ruhig, ohne Todes­kampf verschieden. Gez. der Chef­arzt, Provinzialobermedizinalrat."

© Hildegard Thevs

Quellen: Ev. Stiftung Alsterdorf, Archiv, V 100; StaH, 332-5 Standesämter, 3382+1134/1920; Jenner, Meldebögen, in: Wunder/Genkel/Jenner, Ebene, S. 169–178; Wunder, Abtransporte, in: ebd., S. 181–188; ders., Exodus, ebd. S. 189–236.

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