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Ida Rathjens (geborene Harder) * 1881

Brackdamm 1-3 (Hamburg-Mitte, Hammerbrook)


HIER WOHNTE
IDA RATHJENS
GEB. HARDER
JG. 1881
EINGEWIESEN 14.8.1943
’HEILANSTALT’
STEINHOF/WIEN
ERMORDET 10.4.1944

Ida Rathjens, geb. Harder, geb. 5.12.1881 in Güstrow/Mecklenburg, ermordet am 10.4.1944 in der "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien"

Ecke Brackdamm/Bullerdeich (Brackdamm 1)

Ida Harder wuchs in Güstrow als Arbeiterkind mit zwei Brüdern und einer Schwester auf;
ihre Mutter stammte aus Schweden. Sie besuchte die Volksschule und litt im Alter von zehn oder zwölf Jahren an einer Augenkrankheit, an der sie zu erblinden drohte. Ohne Schul­ab­schluss ging sie in Mecklenburg auf dem Land in Stellung, d. h., sie arbeitete als Dienst­mäd­chen.

Sie war eine kleine, zierliche Frau. Als sie volljährig wurde, kam sie nach Hamburg, ging auch dort "in Stellung" und lernte 1904 Bernhard Rathjens kennen. Sie heirateten 1905. Aus ihrer Ehe gingen zwei Töchter hervor, die das Erwachsenenalter erreichten, ein Sohn starb als Kind.

1912 begann Ida Rathjens zu ertauben, verbunden mit Schwindelgefühlen, sodass sie sich nur noch unsicher bewegen konnte. Mit der Schwerhörigkeit ging eine Wesensveränderung einher. Sie hörte auf, sich für Personen und Dinge zu interessieren und unterstellte anderen, dass sie über sie sprächen. Als sie 1918 nichts mehr hörte, führte sie es auf laut vernommene Geräusche wie Sausen, Klopfen, Musik und auf den Schwindel zurück. Daraufhin wurde sie im folgenden Jahr in der Ohrenklinik des Allgemeinen Krankenhauses St. Georg gründlich untersucht. Ein Hörtest ergab, dass sie absolut taub war. Mit der Diagnose "Otosklerose" und ohne Aussicht auf Besserung kehrte sie zu ihrer Familie zurück. Ida Rathjens konnte ohne die Hilfe ihres Mannes die Familie nicht mehr versorgen. Ihr Zustand deprimierte sie, machte sie misstrauisch und nervös.

Gequält von Gewissensbissen und Angst vor Entdeckung, weil sie, als sie 1904 in Hamburg in Stellung war, Geld entwendet hatte oder meinte, es getan zu haben, unternahm sie im Februar 1928 einen Selbsttötungsversuch mit Gas, der jedoch scheiterte. Erneut wurde sie ins Allgemeine Krankenhaus St. Georg eingewiesen und von dort nach einem Monat als "ge­bessert" entlassen.

Ihren häuslichen Pflichten konnte sie nicht mehr nachkommen, aß selbst kaum und ließ ihren Mann nachts keine Ruhe finden. Sie saß am Fenster und beobachtete, wie in den Fenstern auf der anderen Straßenseite Licht an- und ausging, was ihrer Meinung nach bedeutete, dass die Menschen nur darauf warteten, dass sie ins Bett ginge, um sie dann "nach Fried­richs­berg", die damalige Staatskrankenanstalt, zu schaffen. Sie bewarf ihren Mann mit Kissen, um das Licht zu verscheuchen, und berichtete von Geräuschen im Kopf.

Am 25. November 1930 brachte Bernhard Rathjens seine Frau schließlich nach "Friedrichsberg", von wo sie im Januar 1931 trotz der "paranoiden Schwerhörigkeit" wieder nach Hause entlassen wurde. Nach weiteren viereinhalb Jah­ren wurde sie erneut im Zustand schwerer Verwirrung und von Wahnvorstellungen verfolgt nach "Friedrichsberg" eingewiesen. Mit der Begrün­dung, dass ein Zusammenleben mit "Norma­len" nicht mehr möglich sei, wurde sie am 8. August 1935 in die damaligen Alsterdorfer Anstalten verlegt. Die Kosten für ihren Aufenthalt trug die Fürsorgebehörde. Zur Wahr­neh­mung ihrer Interessen bei der Ehescheidung im Juli 1936 wurde ihr ein Pfleger zugeordnet. Da ihr Leiden als er­worben galt, unterlag weder sie noch jemand aus ihrer Fa­milie irgendwelchen Verfolgungs­maß­nah­men gemäß dem Erbgesund­heits­gesetz.

Ida Rathjens arbeitete still und zufrieden in der Webklasse oder beschäftigte sich mit leichter Handarbeit, am liebsten häkelte sie. Beim Tanzen am 29. Dezember 1935 stürzte sie und brach sich den rechten Schenkelhals, woraufhin sie eine Bandage angelegt bekam. Da sie den Verband abriss, zog sich die Hei­lung lange hin; erst 1937 konnte sie sich wieder am Lauf­bock fortbewegen. Abgesehen von wiederholten Schweiß­drüsen­abszessen blieb sie körperlich gesund. Sie fiel nicht auf, zeigte wenig Interesse an ihrer Umwelt, sprach und aß wenig und benötigte lediglich bei der Körperpflege Hilfe. Ihre Arbeits­fähig­keit erlangte sie nicht zurück. Sie wurde auf die Station 36 verlegt, wo Frauen mit ähnlichen Behinderungen lebten.

Nach den schweren Zerstörungen Hamburgs durch die alliierten Luftangriffe im Juli 1943 bat Pastor Lensch die Hamburger Gesundheitsverwaltung um die Verlegung von Anstalts­in­sas­sen, um Platz für Obdachlose und verletzte Bombenopfer zu schaffen. "Die Gemeinnützige Kranken-Transport GmbH" in Berlin schickte zum 7., 10. und 14. August 1943 ihre Busse, um die Betroffenen nach Idstein, Mainkofen und Wien abzuholen. Die Transportlisten wurden von der Anstaltsleitung zusammengestellt. Man nutzte die Gelegenheit, sich der beson­ders schwer behinderten, pflegeintensiven oder sonst auffälligen Kranken zu entledigen. Ida Rathjens gehörte mit 21 Mitpatientinnen ihrer Station der letzten und mit 228 Personen größten Gruppe an, die in die "Landesheilanstalt Am Steinhof" bei Wien, inzwischen in "Wagner von Jauregg – Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" umbenannt, verbracht wurde. Das Personal kommunizierte mit ihr wegen ihrer Taubheit nur schriftlich. Sie zog sich meist ins Bett zurück. Ihre Stimmung schwankte zwischen Be­drü­ckung und spontanem Lachen. Sich selbst schenkte sie wenig Beachtung. Infolge der Hun­ger­ra­tio­nen magerte sie stetig ab und erkrankte im Frühjahr 1944 an einer beidseitigen Lun­gen­entzündung, an der sie am 10. April 1944 im Alter von 63 Jahren starb.

Auf ihre Anfrage nach dem Ergehen ihrer Mutter erhielt die Tochter Ende Mai 1944 die Nachricht: "Ihre Mutter war immer ruhig und zufrieden. Sie erkrankte am 30. März 1944 an einer Bronchitits, am 3. April wurde eine Lungenentzündung festgestellt. Am 10. April 1944 verstarb sie. Die Beisetzung erfolgte auf dem Wiener Zentralfriedhof."

© Hildegard Thevs

Quellen: Ev. Stiftung Alsterdorf, Archiv, V 255; Jenner, Meldebögen, in: Wunder/Genkel/Jenner, Ebene, S. 169–178; Wunder, Abtransporte, in: ebd., S. 181–188; ders., Exodus, ebd. S. 189–236.

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