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Ida Niederschuch, Juni 1938
Ida Niederschuch, Juni 1938
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Ida Niederschuch * 1877

Carl-Petersen-Straße 27 (Hamburg-Mitte, Hamm)


HIER WOHNTE
IDA NIEDERSCHUCH
JG. 1877
EINGEWIESEN 1887
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 1943
HEILANSTALT
AM STEINHOF / WIEN
TOT 14.10.1944

Ida Niederschuch, geb. 17.1.1877 in Hamburg, Aufnahme in den Alsterdorfer Anstalten am 6.2.1887, verlegt am 16.8.1943 in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien", Tod dort am 14.10.44

Carl-Petersen-Straße 27 (ehemals: Hinter der Landwehr 27)


Ida Niederschuch wurde am 6. Februar 1887 im Alter von zehn Jahren von Heinrich Sengelmann persönlich in den von ihm gegründeten "Alsterdorfer Anstalten" aufgenommen und lebte dort bis zu ihrer Verlegung nach Wien 56 Jahre lang. Heinrich Sengelmann hatte Mitte des 19. Jahrhunderts die Einrichtung zur pädagogischen Betreuung von Menschen mit Behinderungen geschaffen und mit seinem Privatvermögen ausgebaut. Ida Niederschuch wurde ihm erstmals am 10. November 1884 zur Untersuchung anvertraut und blieb bis zum 17. Dezember des Jahres in seiner Obhut. Ihre Einweisung war auf Veranlassung des Senators Georg Ferdinand Kunhardt zustande gekommen. Dieser hatte den Arzt der Allgemeinen Hamburger Armen-Anstalt beauftragt, Ida auf ihren Geisteszustand hin zu untersuchen.

Das Mädchen litt an epileptischen Anfällen, in deren Folge sie stürzte, wobei sie sich ständig neu verletzte. Der Arzt stellte zudem fest, dass ihre "Geisteskräfte erheblich zurückgeblieben" seien. Während sie sich mit der Mutter über einfache Dinge verständigen konnte, vermochte der Arzt von ihr keine befriedigenden Antworten auf seine Fragen zu erhalten, und obwohl sie inzwischen sieben Jahre alt war, zerbrach sie Spielsachen und zerriss Kleidungsstücke und andere Gegenstände. Das Gutachten endete, sie sei "ohne jegliches geistige Leben" und "eignet sich hiernach durchaus für die Alsterdorfer Anstalten". Nach der fünfwöchigen Beobachtungszeit kehrte Ida Niederschuch nach Hause zurück.

Idas Eltern waren der Müller Siegwart Niederschuch und seine Ehefrau Dorette, geb. Therkorn, beide "christlicher Religion", wie es in Idas Geburtsregistereintrag hieß, und wohnten damals in der Banksstraße 98 in Hammerbrook. Siegwart Niederschuch, Sohn eines Lehrers, stammte aus Punitz in der preußischen Provinz Posen und kam offenbar als einziger aus seiner Familie nach Hamburg, Dorette Niederschuch war aus Harsefeld bei Stade zuezogen. Die Eheleute ließen ihre Tochter Ida im Alter von sieben Jahren in der Kirchengemeinde St. Georg taufen. Zur Familie gehörte der fünf Jahre ältere Bruder Karl, der zunächst "Hülfsschreiber" und später Kanzlist am Landgericht wurde. Siegwart Niederschuch starb mit 49 Jahren am 8. Juni 1889, zwei Jahre nach Idas Aufnahme in "Alsterdorf". Seine Witwe verdingte sich als Haushälterin oder lebte bei ihrem Sohn, der 1895 heiratete und mit seiner Frau Emma, geb. Reichel, in Eppendorf wohnte. 1896 wurde ihr Sohn Siegfried geboren. Die Intensität des Kontaktes zu Ida wechselte über die Jahrzehnte.

Von Idas endgültiger Aufnahme in die damaligen Alsterdorfer Anstalten ist über die Standardpapiere hinaus eine handschriftliche Aktennotiz von Heinrich Sengelmann über das Eintrittskleidungsgeld in Höhe von 96 Mark erhalten.

Ida galt als "nicht bildungsfähig", zeigte Symptome von Hospitalismus und kratzte, biss, schlug, spuckte und zerriss ihre Kleidung. Das in den Augen des Personals einzig Positive an Idas Verhalten war ihre Achtsamkeit auf ihre eigene Sauberkeit. Als positive Reaktionen wurden vermerkt, dass sie nach Aufforderung etwas Herabgefallenes aufhob und sich allein auszog, während sie sich nicht allein anziehen und waschen konnte. Ihre Sinnesfähigkeiten waren sehr eng begrenzt: Sie hörte auf ihren Namen und schien ihre Mutter zu erkennten. Wurde sie angesprochen, wiederholte sie leise die letzten gesprochenen Worte. Im Jahresbericht vom Juli 1892 hieß es abschließend: "Um ihren Drang, alles zu zerreißen, in bessere Bahnen zu lenken, ist ihr Leinen u. ä. zum Zupfen gegeben; das tut sie auch ganz schön."

Ein Jahr später wurde festgehalten, dass sie körperlich viel gesunder geworden sei und auch ihr Zeug nicht mehr so viel zerreiße.

Wieder ein Jahr später war von allgemeinem Fortschritt die Rede. Obwohl Ida unter steifen Gelenken und geschwollenen Füßen litt, bewegte sie sich selbstständig. Ihre Sprache war über die Echosprache nicht hinaus gediehen, aber sie sang gern Melodien und zeigte überhaupt Freude an Musik. Im Unterschied zu ihren stereotypen Schaukelbewegungen konnte sie mit Bewegungen ihres Oberkörpers Freude ausdrücken. Sie hatte ihre frühere Scheu verloren und war ihren Mitpatientinnen gegenüber verträglicher geworden, zog sie allerdings noch gern an den Haaren. Krämpfe traten nur noch sehr selten auf.

Als Ida Niederschuch 18 Jahre alt war, im Jahr 1895, wurde in einem Gutachten ihr weiterer Verbleib in der Anstalt mit wiederkehrenden epileptischen Anfällen und ihrem körperlichen wie geistigen Rückstand begründet.

Einige Monate vor der Geburt ihres Enkels Siegfried zog Dorette Niederschuch bei ihrem Sohn aus und lebte bis Ende 1900 im Haushalt ihrer verwitweten Schwester in der Kieler Straße. Offenbar erkrankte sie psychisch, denn sie kam von dort zunächst in die "Irrenanstalt Friedrichsberg" und wurde kurze Zeit darauf in die "Irrenanstalt Langenhorn" verlegt, wo sie am 26. Januar 1924 verstarb.

Zwischen 1910 und 1913 musste Ida Niederschuch wiederholt wegen Krätze und Furunkeln auf der Krankenstation behandelt werden. Kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs, sie war inzwischen 37 Jahre alt, wurden Rückschritte in ihrem körperlichen und geistigen Befinden registriert. Sie erlitt alle zwei bis drei Wochen, fast immer nachts, schwere epileptische Krämpfe, bewegte ununterbrochen ihre Finger wie beim Geigenspiel und zerriss mit Vorliebe Schürzen. In welchem Maße sie Besuch bekommen hat und Kontakt zu ihrem Bruder hatte, lässt sich aus den Akten nicht erschließen.

Als Ida Niederschuch später sie an einer Gürtelrose erkrankte, nahm sie auf 37,5 kg Gewicht ab; es schwankte in den folgenden Jahren um 40 kg. Angaben über ihre Körpergröße gibt es nicht; offenbar war sie eine kleine zierliche Person.

1925 wurde Ida erstmals in eine "Schutzjacke" ("Zwangsjacke") gesteckt, um zu verhindern, dass sie sich ständig ihre Schuhe und Strümpfe auszog. Im Jahr darauf kam sie einmal ins Krankenhaus wegen eines Magendarmkatarrhs, ein anderes Mal wegen Herzschwäche. Ein besonders erwähntes Ereignis war die Zusendung eines Essenspakets von ihrem Bruder Carl im Jahr 1927.

Bis zum nächsten Aufenthalt auf der Krankenstation im Mai 1929 wegen einer Bronchitis war Idas Zustand unverändert. Sie litt an Essstörungen mit zeitweiligem fortgesetztem Erbrechen im Wechsel mit Appetitlosigkeit, dann wieder aß sie regelmäßig und nahm zu. Ihr Maximalgewicht erreichte sie im Sommer 1935 mit 50 kg, kurz nachdem sie wegen Magenblutens und des Verdachts auf Magenkrebs auf der Krankenstation gelegen hatte. Die Herzprobleme kehrten noch einmal zurück.

Am 26. April 1938 verlängerte die Sozialverwaltung Hamburg die Kostenübernahme für Ida Niederschuch um weitere zehn Jahre. Das Ende dieser Frist erlebte sie nicht mehr.

Insgesamt änderte sich an ihrem Zustand nichts, sie blieb hilflos und pflegebedürftig. Ihre Äußerungen beschränkten sich auf: "Ich kann nicht, ich will nicht", wenn es ums Essen ging, und "Ida mag nicht baden, Ida will nicht baden, neeeee", wenn sie nachmittags in die Badewanne sollte, im Gegensatz zu morgens, und sprach sonst nur, wenn sie zu Bett wollte. Aber Ida summte gern Melodien mit.

Ab März 1943 trug sie fast ständig eine Schutzjacke, weil sie sonst Papier, Garn etc. aß. Vielleicht war es diese schwere Pflegebedürftigkeit, die die Anstaltsleitung bewog, Ida Niederschuch nach der weitgehenden Zerstörung Hamburgs durch die Luftangriffe im Juli/August 1943, die auch die damaligen Alsterdorfer Anstalten beschädigten, zu verlegen.

Am 16. August wurde sie mit einem Transport von insgesamt 228 Mädchen und Frauen in die Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien geschickt, wo sie am folgenden Tag ankam.

Bei ihrer Aufnahme wurden ein Gewicht von 37 kg und eine Körpertemperatur von 36,4 Grad festgestellt und ihre Haltung als ruhig, aber widerstrebend und abweisend beschrieben. Als Diagnose wurde "Angeborener Schwachsinn" eingetragen bei fraglicher Erblichkeit.

Ida nahm weiter an Gewicht ab, blieb ängstlich im Bett liegen, spielte weniger mit ihren Fingern. Sie wurde auf eine andere Station verlegt, aß wieder gut, nahm zu, verfiel dann mehr und mehr und erkrankte an Lungentuberkulose, woran sie angeblich am 14. Oktober 1944 bei einem Körpergewicht von weniger als 29 kg starb. Der Sektionsbefund stellte eine Lungenentzündung, Herzschwäche und Nierenversagen bei allgemeiner Altersschwäche fest. Ida Niederschuch wurde 67 Jahre alt und auf dem Wiener Zentralfriedhof beerdigt.

Carl Niederschuch war ausgebombt und evakuiert worden, verlor alle Papiere und den Kontakt zu seiner Schwester. Verbunden mit einer Spende an die damaligen Alsterdorfer Anstalten, versuchte er 1957, die Dokumente mit Hilfe der Leitung der Anstalt zu ersetzen und zu ergänzen und wurde von ihr an die Anstaltsleitung in Wien verwiesen. Es dauerte danach noch viele Jahre, bis die Archive geöffnet und Spuren von Ida Niederschuchs Lebensgeschichte nachvollziehbar wurden.

© Hildegard Thevs

Quellen: Staatsarchiv Hamburg, 332-5 Standesämter, 1892-263/1877; 265-456/1889; 2854-393/1895; 332-8 Meldewesen, K 6667, K 6742; Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv, V 142; Wunder, Michael, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, 2. Aufl. Hamburg 1988; Wikipedia "Evangelische Stiftung Alsterdorf", Zugriff am 1.10.2011; Stadtteilarchiv Hamm; Hamburger Adressbücher; Grundkarten Hamm.

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