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Bereits verlegte Stolpersteine



Irmgard Löwenthal * 1930

Angerstraße 44 (Hamburg-Nord, Hohenfelde)

1943 Theresienstadt
ermordet Auschwitz

Weitere Stolpersteine in Angerstraße 44:
Arnold Löwenthal

Arnold Löwenthal, geb. am 17.3.1931 in Hamburg, deportiert am 23.6.1943 in das Getto Theresienstadt, am 23.10.1944 in das KZ und Vernichtungslager Auschwitz, dort ermordet
Irmgard Löwenthal, geb. am 5.1.1930 in Hamburg, deportiert am 23.6.1943 nach Theresienstadt, am 23.10.1944 in das KZ und Vernichtungslager Auschwitz, dort ermordet

Angerstraße 44

Auf der Liste des 14. Transports von Hamburger Jüdinnen und Juden in den Osten stehen unter den Nummern 74 und 75 die Namen von zwei Kindern: Irmgard und Arnold Löwenthal. Es handelte sich um einen 109 Personen umfassenden Transport in das Getto Theresienstadt. Er verließ Hamburg am 23. Juni 1943 und traf als Transport VI/8 am 25. Juni 1943 am Zielort ein. Das Ungewöhnliche war, dass die Kinder aus der Angerstraße in Hohenfelde, ihrem vertrauten Umfeld, deportiert wurden, ohne zuvor in einem "Judenhaus" gelebt zu haben. Außerdem reisten sie ohne erkennbare Bezugspersonen. Zu dem Transport gehörten weder Menschen desselben Namens noch mit derselben Adresse. Es fanden sich auch sonst keine Unterlagen mit den Namen der beiden Kinder. Bei der Volkszählung vom Mai 1939 wurden unter Angerstraße 44 eine Martha Lorenz, geborene Löwthe, "Volljüdin", und zwei "halbjüdische" Kinder mit dem Nachnamen Lorenz eingetragen. Die schwer lesbare Karte der Hausbewohnerkartei aus den 1930er-Jahren liefert schließlich eine erste Erklärung. Als Bewohner einer 3-Zimmer-Wohnung im 2. Stock des Hauses 9 in der Angerstraße 44 sind fünf Namen aufgeführt: Lorenz, Adolf, geb. 20.11.1877, ev.-luth., Lorenz, Martha Sarah, geb. Löwenthal, geb. 10.8.1895, Lorenz, Alfons, geb. 27.1.1920, luth., Lorenz, Irmgard, geb. 5.1.1930, luth. und Lorenz, Arnold, geb. 17.3.1931, luth., darunter als klein geschriebener Nachtrag "Löwenthal". Demnach hieß die Mutter der beiden Kinder Martha Lorenz, geb. Löwenthal.

Martha Löwenthal trat am 28. März 1919 in die Deutsch-Israelitische Gemeinde in Hamburg ein. Im Jahr darauf kam ihr Sohn Alfons zur Welt. Am 6. Juli 1922 heiratete sie Adolf Lorenz, der sich zu seiner Vaterschaft bekannte. Er war von Beruf Hafen- und Lagerarbeiter, 22 Jahre älter als Martha Lorenz und evangelisch-lutherisch, wie auch alle gemeinsamen Kinder es sein würden. Noch im Jahr ihrer Eheschließung, am 13. August 1922, wurde die Tochter Edith geboren. Am 17. Mai 1925 kam der Sohn Alexander zur Welt. Er starb noch als Kleinkind. 1929 trennten sich Adolf und Martha Lorenz. In den folgenden vier Jahren lebte sie mit dem 30 Jahre älteren Joseph Melhausen zusammen, in Rothenburgsort, Billhorner Röhrendamm 185. Joseph Melhausen war ledig, jüdisch und arbeitete als Zigarrenmacher. Er wurde der Vater von Irmgard und Arnold, erkannte aber seine Vaterschaft nicht an. Irmgards Geburtsurkunde wurde vom Standesamt Uhlenhorst ausgestellt, die Arnolds vom Standesamt Hammerbrook. Als Geburtsnamen trugen beide Kinder den Geburtsnamen ihrer Mutter, Löwenthal.

Nach dem Tod Joseph Melhausens am 26. Mai 1933 zogen Adolf und Martha Lorenz wieder zusammen. Ihr gemeinsamer Haushalt bestand nun aus sechs Personen; Adolf Lorenz ließ die Kinder auf seinen Namen eintragen.

Als Irmgard 1936 eingeschult wurde, war die Familie bereits nach Hohenfelde gezogen. Zuständig für die Kinder waren die Volksschulen für Mädchen und Jungen Angerstraße 33. Martha Lorenz hatte selbst eine jüdische Mädchenschule besucht und blieb der jüdischen Gemeinde verbunden. Sie versuchte aber – die Nationalsozialisten waren inzwischen an der Macht – ihre eigene jüdische Abkunft und insbesondere die ihrer Kinder zu verbergen, selbst der jüdischen Gemeinde gegenüber. Dort wurde nur Arnold Löwenthal mit einem kleinen Fragezeichen registriert. Er gehörte auch zeitweise dem Jungvolk an, der Jugendorganisation der Hitler-Jugend für Jungen zwischen zehn und vierzehn Jahren. Als die Gemeinde Martha Lorenz 1937 steuerlich veranlagen wollte, stellte sie fest, dass sie über keinerlei Einkommen verfügte. Offenbar reichte Adolf Lorenz‘ Lohn, um die Miete und den Lebensunterhalt zu bestreiten.

Spätestens seit der Einführung von Kennkarten für Jüdinnen und Juden am 22. Juli 1938 bemühte sich Martha Lorenz, auch ihre eigene jüdische Abkunft zu verbergen. Sie ignorierte ebenso die Anordnung, bei der Polizeibehörde die Kennkarte zu beantragen, wie jene, den Zwangsnamen "Sara" zu benutzen. Deswegen 1941 angeklagt, verwies sie auf ihre ungeklärte Abkunft als unehelich geborenes Kind, um als "Mischling ersten Grades" anerkannt zu werden. Doch mit Hinweis auf ihre jüdische Erziehung und Gemeindezugehörigkeit sah das Amtsgericht sie als Jüdin an und verurteilte sie am 4. Juni 1941 zu einer Geldstrafe von 30 Reichsmark, ersatzweise 10 Tage Gefängnishaft. Martha Lorenz zahlte die Strafe in Raten.

Martha Lorenz’ ältester Sohn Alfons war landwirtschaftlicher Arbeiter geworden. Er hatte Anfang 1940 bei einem Arbeitgeber in Segelitz aufgehört und zwei Monate später bei einem neuen in Tötensen angefangen. Während dieser beiden Monate wohnte er bei seinen Eltern und den beiden jüngeren Halbgeschwistern. Als das Deutsche Reich am 22. Juni 1941 den Krieg gegen die Sowjetunion begann, wurde er Soldat. Rund eine Woche später, am 3. Juli 1941, kam er im Alter von 21 Jahren bei Kämpfen in Bessarabien ums Leben.

Die Tochter Edith Lorenz verdiente ihr Geld als Näherin und lebte ab 1942 in ihrer eigenen Wohnung in einem Nachbarhaus.

Am 30. Juni 1942 erging ein allgemeines Verbot von schulischem Unterricht für jüdische Schülerinnen und Schüler. Dennoch nahm Arnold im Frühjahr 1943 unter dem Namen Arnold Lorenz an einer Kinderlandverschickung in die Jugendherberge in Gera in Thüringen teil. Von dort sandte er seinen Eltern und Geschwistern eine Ansichtskarte, einen Ostergruß, bat um seine Sachen, ein Paket, "zumindest meinen Renzel (Ranzen)", und überhaupt um Post.

Die Schritte, die aus Irmgard und Arnold Lorenz wieder Irmgard und Arnold Löwenthal machten, sind im Einzelnen nicht nachzuvollziehen. Im Juni 1943 wurden sie in das Getto Theresienstadt deportiert. Dabei handelte es sich um den Transport, zudem auch die letzten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der ehemals jüdischen Gemeinde gehörten. Irmgard schrieb während der Zugfahrt eine Postkarte an ihre Eltern und ihre Schwester Edith:
"Mir geht es gut. Wir sind bald in Theresienstadt. Hier sind noch mehr Kinder. Heute, Freitag, sind wir vielleicht schon dort. Wir haben jeder ein ganzes Brot bekommen. Gut geschlafen haben wir alle nicht gerade. Sonst geht es mir gut. Dasselbe hoffe ich auch von Euch. Ich kann leider nicht besser schreiben, der Zug hält oft an, dann gibt es immer einen Ruck. Wir hatten in Dresden ein paar Stunden Aufenthalt.
Nun seid noch einmal herzlich gegrüßt von Irmgard."

Diese Karte steckte sie offenbar am Ende der Zugfahrt bei der Ankunft am Bahnhof von Bohusovice in den Briefkasten, bevor sie das Getto von Theresienstadt erreichten. Weitere Post musste über die jüdische Gemeinde in Hamburg laufen. Von dort erhielten Irmgard und Arnold ein Paket, für das sich Arnold am 20. Juli 1943 mit einer Postkarte an Harry Goldstein, Dillstraße 16, bedankte:
"Über das Paket haben wir uns sehr gefreut. Meine Schwester und ich sind weiter gesund, was ich auch von Ihnen hoffe.
Viele Grüße an unsere Eltern.
Herzliche Grüße sendet Ihnen Arnold."

Danach gab es keinen weiteren Briefwechsel.

Als Irmgard und Arnold nach Theresienstadt deportiert wurden, lebten in Hamburg noch 1257 karteimäßig erfasste Juden, meist in "Mischehen" und als "Mischjuden". Zu ihnen gehörte auch Martha Lorenz. Im Juli 1943 wurden sie und Adolf in der Angerstraße ausgebombt und zogen in Adolfs Heimatdorf Klein-Rheide bei Schleswig. Die Schreiberlaubnis für die Kinder beschränkte sich auf eine Karte alle sechs Wochen.

Irmgard und Arnold Löwenthal sowie die beiden Jungen Peter Perls und Ewald Marcus, die ebenfalls allein und ohne Angehörige demselben Transport angehörten (s. "Stolpersteine in Hamburg-Eimsbüttel" und www.stolpersteine-hamburg.de) wurden in Theresienstadt dem Haus Q 609 zugewiesen. Es stand unter der Leitung von Beppo Krämer. Beppo (eigentlich Jirka) Krämer, war Tscheche, seine Stellvertreterin war Else Timendorfer, eine Erzieherin aus Berlin. Bei dem Haus Q 609 – Q von Querstraße –, handelte es sich um ein Eckhaus gleich neben der Unterkunft der SS, es hatte etwa 15 Räume.

Die Kinder und Jugendlichen im Getto Theresienstadt wurden getrennt nach Geschlecht, Nationalität (Tschechen, Deutsche und Österreicher) und Alter jeweils einem sogenannten Heim zugewiesen. Dabei handelte es sich um einen Raum, der mit einem Buchstaben gekennzeichnet war. Die Betreuerinnen und Betreuer wohnten unter dem Dach. Irmgard Löwenthal gehörte zu Heim G. Arnold Löwenthal, Peter Perls und Ewald Marcus wurden neben 12 Jugendlichen, die aus Berlin, Wien, Erfurt und anderen Städten stammten, im Heim F untergebracht. Es standen jeweils drei Betten übereinander; Platz für eine Intimsphäre gab es nicht.

Kaum war Irmgard Löwenthal angekommen, lernte sie schon das Wort "Dysenterie" in seiner schrecklichen Bedeutung kennen. Im ganzen Haus gab es nur ein WC und das war meist abgeschlossen. Die Waschmöglichkeiten beschränkten sich auf wenige Waschbecken mit nur dünnem Wasserstrahl. Der Notdurft diente eine mehrsitzige Latrine unter einem Baum im Hof, oft zu weit entfernt, um sie noch rechtzeitig zu erreichen, und abstoßend verschmutzt.

14 Tage vor Irmgard und Arnold Löwenthal waren der damals etwa 10 Jahre alte Gerhard Lilienfeld und sein viereinhalb Jahre jüngerer Bruder Hansjürgen in Theresienstadt eingetroffen. Sie wurden zunächst für rund drei Wochen mit tschechischen Kindern in einem Raum in der Hamburger Kaserne untergebracht. Es war nach dem 6. Juli 1943, Gerhard Lilienfelds Bruder war sechs Jahre alt geworden, als die Brüder Lilienfeld in das Haus Q 609 übersiedelten und getrennt wurden. Sie stammten aus Bremerhaven und fühlten sich zu den norddeutschen Kindern hingezogen.

Die hübsch aussehende Irmgard Löwenthal weckte in Gerhard eine starke Zuneigung. Arnold wirkte auf ihn dicklich und bequem, Irmgard hingegen sportlich. Sie trug ihr brünettes Haar in einer Prinz-Eisenherz-Frisur. Obschon drei Jahre älter als Gerhard Lilienfeld, war sie nicht größer. Auf Gerhards Frage, ob sie seine Freundin werden wolle, antwortete sie mit einem rätselhaften Schreiben. Sie half Gerhards Verwirrung zu lösen, indem sie ihm nahe legte, den Zettel vor einen Spiegel zu halten. Was er las, erfüllte ihn mit Stolz: "Lieber Gerhard. Ich liebe Dich von Herzen mit Schmerzen." Das half, den Alltag zu ertragen.

Es gab nur selten genug zu essen. Trotz der Trennung der deutschen und tschechischen Kinder voneinander herrschten ständig Spannungen zwischen ihnen. Wanzen, Läuse und Flöhe machten ihnen gleichermaßen das Leben unerträglich. Eines Tages wurden die Kinder aus Q 609 auf andere Häuser verteilt, damit das Gebäude "entwest" werden konnte – was bedeutete, dass das Ungeziefer vergiftet wurde. Es dauerte nicht lange, bis die Plagen zurückkehrten.

Beschäftigung und Ablenkung gab es offiziell ebenso wenig wie Unterricht für die Kinder. Religiöses Leben, ob jüdisch oder christlich, spielte nur für wenige Kinder eine Rolle. Die religiösen Feiertage mit ihren unvertrauten Begriffen und Traditionen lösten bei den jeweils Anderen Befremden aus. Allerdings kamen Beppo Krämer und ein Junge aus Wien, der sehr gut sang, oft abends zur Freude der Kinder in die Zimmer. Die jüdische Selbstverwaltung setzte der geistigen Verwahrlosung ein Programm entgegen, das in den Räumen durchgeführt wurde, in denen die Kinder schliefen und aßen. Ein Professor Hahn erteilte Malunterricht, Professor Heller lehrte Rechnen, immer in Angst vor einer Kontrolle durch die SS. Ein großer Verlust für die Kinder war Else Timendorfers Tod am 4. April 1944.

Im Sommer 1944 fanden in Theresienstadt allgemeine "Verschönerungsaktionen" statt. Sie hatten ihre Ursache in dem geplanten Besuch des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes am 23. Juni 1944. In diesem Rahmen entstanden auch die von Gerhard Lilienfeld später so bezeichneten "Bilder und Texte des Grauens". Er nannte sie so, weil kaum ein Zeichner oder Texter, kaum eine Zeichnerin oder Texterin überlebt hat. Anlässlich des Geburtstags von Beppo Krämer am 19. April 1944 wurde ein Album angelegt. Viele Kinder aus Q 609 beteiligten sich daran. So schrieb Peter Perls, der "Professor", in Gedichtform einen ausführlichen Bericht über das Heimleben. Irmgard Löwenthal, Gerhard Lilienfeld und viele andere trugen Zeichnungen und weitere Texte bei. Kunstvolle Collagen schmückten Deck- und Titelblatt. Die Qualität von Irmgard Löwenthals Zeichnung lässt vermuten, dass sie nicht erst in Theresienstadt Zeichnen lernte.

Die allgemeine Euphorie des Lagers Theresienstadt erfasste auch die Kinder und Jugendlichen. Alle oder doch die meisten glaubten, dass es besser werden und sich zum Guten wenden würde. Auf Anweisung der Lagerleitung durften die Kinder und Jugendlichen Fußballmannschaften bilden, allerdings mit nur je sieben Spielern – weil das Spielfeld auf der Bastei sehr klein war, vielleicht aber auch, weil es nicht mehr als sieben vorzeigbare Jungen gab. Dass es auch darum ging, lässt sich vermuten. Denn der Mannschaftsführer beispielsweise war kein guter Fußballer, sah aber gut aus. Die Mannschaft der deutschen Jugendlichen nannte sich "Condor". Künstler traten auf, wenn auch meist nur für Erwachsene und tschechische Gettobewohnerinnen und -bewohner.

Wie geplant kam das Rote-Kreuz-Komitee am 23. Juni 1944 in das Getto. Es besichtigte unter anderem die extra für den Besuch geschaffenen Cafés sowie den ebenfalls nur für diesen Zweck eingerichteten "Kinderpavillon" und wohnte einer Aufführung der Kinderoper "Brundibar" bei. Im Anschluss an den Besuch wurde noch ein Propagandafilm namens "Theresienstadt. Ein Dokumentartfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet" gedreht. Er sollte die angeblich guten Lebensverhältnisse der Jüdinnen und Juden unter dem Schutz der Nationalsozialisten zeigen und damit die Vernichtungspolitik des NS-Regimes verschleiern.

Spätestens nach Abschluss der Dreharbeiten fand die allgemeine Zuversicht im Getto ein Ende. Gerüchte kamen auf, dass neue Transporte geplant seien, größer und zahlreicher als zuvor. Im Oktober 1944 war es dann so weit. Das Grauen hielt Einzug, als wieder Transporte nach Auschwitz abgingen. Neben vielen anderen standen die Namen von Irmgard und Arnold Löwenthal, Peter Perls, Ewald Marcus, Gerhard und Hansjürgen Lilienfeld auf einer Transportliste. Die Lilienfeld-Brüder wurden jedoch wieder ausgereiht, vielleicht weil ihre Mutter inzwischen aus dem KZ entlassen worden war. Sie bedauerten es damals, weil sie von ihren Freunden getrennt wurden. Die vier Hamburger Kinder kamen mit dem Transport ET-911 vom 23. Oktober 1944 in das KZ Auschwitz. Dieser Transport gilt als sogenannter Todestransport, von dem weniger als zehn Prozent der Deportierten überlebten.

Das mit viel Liebe angefertigte Album musste Beppo Krämer, der auch dem Transport zugehörte, zurücklassen. Das Haus Q 609 mit seinen vielen Heimen war nun weitgehend menschenleer. Als Gerhard Lilienfeld durch die leeren Räume ging, fand er das Album, nahm es an sich und behielt es bis zu seiner Rückkehr nach Bremerhaven.

Nach der Befreiung des Gettos am 8. Mai 1945 durch die Rote Armee blieben die Lilienfeld-Kinder zunächst in Theresienstadt. Sie galten als Waisen, da niemand wusste, was aus den Eltern geworden war und ob die Großeltern in Bremerhaven die Bombenangriffe überlebt hatten. Im Juli 1945 trafen Autos der Hamburger Polizei in Theresienstadt ein. Mit diesen wollten Gerhard und Hansjürgen Lilienfeld zurück nach Hamburg fahren. Sie mussten sich jedoch erst eine Art Vormund suchen und benennen, bevor man sie mitfahren ließ. Diesen Vormund fanden sie in der Person Frau Lahmanns, deren nichtjüdischer Mann bei der Bremerhavener Polizei arbeitete. In Hamburg angekommen, wurden die beiden Jungen zusammen mit den meisten Insassen des Rücktransports für eine Nacht in einer Schule in Wandsbek untergebracht. Da erschien eine kleine Frau und rief in den Raum, ob jemand Irmgard und Arnold Löwenthal kenne. Gerhard Lilienfeld antwortete ihr im Gettojargon, sie seien in den Transport gekommen und in Auschwitz vermutlich vergast worden. Daraufhin schrie die Frau auf. Es dürfte Irmgard und Arnold Löwenthals Mutter Martha Lorenz gewesen sein. Die beiden Kinder wurden 1953 auf den 8. Mai 1945 für tot erklärt.

Adolf Lorenz starb am 6. Januar 1950 in seinem Heimatort in Holstein, Martha Lorenz, geborene Löwenthal, mit fast 102 Jahren im jüdischen Altenheim in Hamburg am 6. Januar 1997. Sie erhielt für ihre ermordeten Kinder und den im Krieg umgekommenen Sohn eine Elternrente. Ihre Tochter Edith Lorenz heiratete 1950 und hat einen Sohn.

Epilog Gerhard Lilienfeld wurde Gewerkschafter und unternahm im Rahmen seiner Berufstätigkeit Informationsfahrten nach Theresienstadt. Dabei informierten die einheimischen Reiseführer lange Zeit nur über tschechische Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer und nicht über verfolgte Jüdinnen und Juden. Nachdem er in der tschechischen Betreuerin Gerda Janikowa eine zuverlässige Partnerin gefunden hatte, händigte Gerhard Lilienfeld ihr das Album von Q 609 aus, das sie wiederum dem jüdischen Museum in Theresienstadt übergab. 50 Jahre nach seiner Deportation besuchte er 1993 das Museum und erhielt von der Leitung Fotokopien des Albums für sich und seinen Bruder. Im Jahr darauf begann er, über seine Leidenszeit und die Ausgrenzung vor der Deportation nach Theresienstadt zu jungen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten zu sprechen.

Gerhard Lilienfeld übernahm die Patenschaften für die Stolpersteine für Irmgard Löwenthal und seine Hamburger Gefährten, die in Auschwitz ermordet wurden. Er starb am 10. Juni 2009.

Stand: Mai 2016
© Hildegard Thevs mit Gerhard Lilienfeld(†)

Quellen: 1; 4; 5; 7; 9; StaH 213-14, 1431/42; StaH 332-8 Meldewesen, Hausbewohnerkartei K 2410 L; StaH 351-11 AfW, 17424; StaH 552-1 Jüdische Gemeinden 992 e 2, Bd. 5; Hamburger Adressbücher; H. G. Adler, Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, Göttingen, 2005; Beate Meyer, "Jüdische Mischlinge". Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945, 2. Aufl., Hamburg, München, 2002, S. 333–346; Mitteilungen u. Dokumente freundlicherweise von Clemens Kleiber und Gerhard Löwenthal zur Verfügung gestellt, 2007 bis 2014.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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