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Erna Lieske * 1900

Armgartstraße 20 (Hamburg-Nord, Hohenfelde)


HIER WOHNTE
ERNA LIESKE
JG. 1900
‚SCHUTZHAFT’ 1937
KZ FUHLSBÜTTEL
1938 GEFÄNGNIS COTTBUS
"SICHERUNGSVERWAHRUNG"
DEPORTIERT 1943
1943 AUSCHWITZ
ERMORDET 24.4.1943

Erna Minna Lieske, geb. am 22.4.1900 in Groß Lubs, mehrfach inhaftiert, vom Frauenzuchthaus und "Frauenverwahrungsanstalt" Aichach/Oberbayern 1943 in das KZ und Vernichtungslager Auschwitz deportiert, dort am 24.4.1943 ermordet

Armgartstraße 20

Meine Großmutter Erna wurde am 22. April 1900 geboren. Ihre Mutter Minna brachte sie im 424-Seelen-Dorf Groß Lubs, damals Pommern (heute Lubcz Wielki, Polen), zur Welt, wo sie als Dienstmädchen arbeitete. Der Vater ist laut Geburtsurkunde unbekannt – vielleicht ihr Dienstherr oder ein mittelloser Knecht? Beides denkbar; was bleibt, sind Spekulationen. Wie so vieles dunkel bleibt in Ernas Leben, das ausschließlich durch Gerichtsakten überliefert ist.

Was war das für ein Mensch, diese Erna, die meine Großmutter ist – die Mutter meines Vaters, der sie nie kennengelernt hat. Erna hat ihn in Halle zur Welt gebracht, er kam als Baby in das Waisenhaus Arnstadt und wuchs dort auf. Sein Leben lang suchte er nach seiner Mutter und erst nach dem Krieg erfuhr er, dass sie in Auschwitz ermordet wurde. Warum, hat er nie erfahren.

Erna wurde bereits mit 17 Jahren wegen Betruges zu drei Tagen Gefängnis in Driesen (heute Drezdenko, Polen) verurteilt, etwa 20 Kilometer von ihrem Geburtsort entfernt. Was macht ein 17-jähriges Mädchen im Ersten Weltkrieg – allein und wahrscheinlich ohne Geld? Wie sah ihr "Zuhause" aus, in dem die Mutter Dienstmädchen war?

Die preußische Gesindeordnung war gekennzeichnet durch die Unterwerfung des Gesindes unter die Willkür der Herrschaft. Die Dienstboten unterstanden der polizeilichen Aufsicht. Die Arbeitskraft der Dienstboten hatte der Herrschaft vollständig zur Verfügung zu stehen. Vorgesehen war zwar alle 14 Tage das Recht auf einen Sonntagsausgang, aber dieses konnte jederzeit aufgehoben werden. Nur ein Teil des Lohns wurde ausgezahlt, der Rest wurde in Naturalien, insbesondere Kost und Logis, erbracht. Der Herrschaft stand Züchtigungsrecht zu; gegen körperliche Übergriffe durfte sich das Gesinde nur im Falle der Gefährdung des eigenen Lebens wehren.

Vor diesem Hintergrund ist nicht anzunehmen, dass Ernas Mutter einen eigenen Haushalt hatte, sodass Erna wahrscheinlich nicht bei ihr bleiben konnte und sich allein durchschlagen musste – ohne familiäre Unterstützung.

Ab 1918 wurde sie in der Provinz Posen um Bromberg (heute Bydgoszcz, Polen) immer wieder wegen Betrugs, Diebstahls, Unterschlagung und Urkundenfälschung verhaftet. In jener Zeit – also gleich nach dem Ersten Weltkrieg – fand in dieser Provinz der Posener Aufstand der polnischen Bevölkerungsmehrheit gegen die deutsche Herrschaft statt. Am 28. Juni 1919 trat die deutsche Regierung den Landkreis Bromberg an Polen ab. Erna war noch am 11. Juni zu sechs Wochen Gefängnis wegen Unterschlagung verurteilt worden. Nach ihrer Entlassung war Bromberg polnisch und wahrscheinlich ging sie deshalb nach Thüringen.

Im November 1920 wurde sie vom Amtsgericht Gotha zu 20 Wochen Gefängnis wegen Diebstahls, Betrugs und Unterschlagung verurteilt. Sie hatte ihr drei Monate altes Baby bei sich – ihre Tochter Ruth war am 5. August 1920 in Gotha zur Welt gekommen. Obwohl diese von 1921 bis zu ihrer Volljährigkeit 1941 einen Amtsvormund hatte und einige Zeit im Jugendpflegeheim Gotha verbrachte, suchte Erna immer wieder den Kontakt zu ihr.

Meinen Vater Hans-Joachim brachte sie Silvester 1924 in der Frauenklinik Halle zur Welt. Bei seiner Taufe neun Tage später waren als Paten zwei Angestellte der Klinik anwesend, danach wurde er ins Waisenhaus nach Arnstadt gebracht. Erna hat ihren Sohn nie wieder gesehen.

In den nächsten Jahren folgten weitere Festnahmen in verschiedenen Städten Thüringens und Sachsens. Erna blieb offensichtlich nie lange an einem Ort. Alles, was sie besaß, trug sie in einer großen Kofferhandtasche bei sich.

1932 tauchte Erna in Hamburg auf – der Stadt, wo später ihr Sohn, mein Vater, mit seiner Familie leben würde (1964 erhielt er in Hamburg ein Engagement an der Staatsoper). Meine Großmutter kam über Groß Lubs, Thüringen, Sachsen dorthin; bei meinem Vater führte der Weg von Arnstadt/Thüringen über Hof/Oberfranken und Bremerhaven. In Hamburg wurde Erna am 26. Mai 1932 wegen "Rückfallbetrugs" und Urkundenfälschung zu drei Jahren und zwei Monaten Zuchthaus verurteilt. Nach ihrer Haftentlassung 1935 arbeitete sie bei der Druckerei Gebauer in der Katharinenstraße als "Anlegerin": Sie musste Druckpressen mit Papier befüllen.

Bereits seit 1932 wohnte sie zur Untermiete bei Hedwig Knaack, zunächst im Mundsburger Damm 39. Etwa 1936 zog diese nach Bergedorf und im April 1937 in die Armgartstraße 20 – immer nahm sie Erna mit. Möglicherweise war Hedwig Knaack, die selbst keine Kinder hatte, für Erna die Mutter, die sie nie hatte.

Diese Zeit hätte ein Wendepunkt in Ernas Leben sein können: Sie hatte Arbeit, einen Verlobten und ein Zuhause.

Dann (wahrscheinlich Ende April 1937) fuhr Hedwig Knaack für längere Zeit zu ihrem Bruder nach Weinböhla/Sachsen. Während ihrer Abwesenheit zog am 4. August 1937 eine Bekannte von ihr, die 58-jährige ehemalige Postbeamtin Ulla Krohn, als weitere Untermieterin in die Armgartstraße. Ende August verlor Erna ihre Arbeit und war wieder arbeitslos. Auch trennte sich ihr Verlobter von ihr.

Die neue Untermieterin Ulla Krohn erzählte später gegenüber der Polizei, dass Hedwig Knaack "ihre Wohnung mit Einrichtung und Schlüsseln der Lieske übergeben (hat). Die Lieske hatte dann ein Verhältnis mit einem Polizeioberwachtmeister und wollte sich mit diesem verheiraten, warum der Polizeibeamte bereits mit ihr zusammen wohnte. Als ich dann den Polizeibeamten über die Lieske aufklärte, hat dieser das Verhältnis sofort gelöst."

Erna war seit Mai 1937 mit dem Polizisten zusammen; dieser löste die Beziehung zu ihr nach der "Aufklärung" durch Frau Krohn am 1. Oktober 1937. Bis dahin hielt er "sie für ein anständiges Mädchen und kannte ihr Vorleben nicht".

Nun ohne Arbeit und ohne Freund zog Erna heimlich aus und nahm nach Aussagen von Ulla Krohn einen Pelzmantel von Hedwig Knaack und die Wohnungsschlüssel mit.

Als Hedwig Knaack später zu dem "Einmietdiebstahl" vernommen wurde, wollte sie keine Anzeige erstatten. Sie beschrieb Erna bei der Vernehmung durch die Polizei als "sehr fleißiges und peinlich sauberes Mädchen" und äußerte Verständnis: "Sie ist nach meiner Wahrnehmung zeitweise nicht ganz normal und es machen sich bei ihr Größenwahngedanken bemerkbar. Im vorliegenden Fall wird die Lieske wahrscheinlich erwerbslos gewesen sein, ist dadurch in wirtschaftliche Bedrängnis gekommen und hat sich in ihrer Not sicherlich nicht zu helfen gewusst. Ich erstatte deshalb gegen die Lieske keine Strafanzeige wegen des vermutlich unterschlagenen Pelzmantels."

Am 21. Oktober 1937 bezog Erna ein Zimmer zur Untermiete in der Grindelallee 148 für 45 Reichsmark im Monat. Nach knapp zwei Wochen verschwand sie und stahl Silbersachen (6 Kuchengabeln, 6 Gabeln, 6 Messer), Wäsche (4–6 Küchenhandtücher, 2–3 Tischtücher, 6 Servietten, 2 Betttücher, 1 Schrankdeckchen) und Kleidung (1 Regencape, 1 Mantel, 1 Jackenkleid mit Bluse), die sie im Pfandhaus Grindelallee/Rutschbahn versetzte. "Ich wollte aus Hamburg weg, um mein Kind zu besuchen und brauchte daher Geld", so Ernas Erklärung später vor dem Amtsgericht Hamburg.

Am 4. November 1937 war Erna in Berlin, das auf dem Weg nach Küstrin (östlich von Berlin, heute Kostrzyn nad Odra) liegt, wo ihre Tochter Ruth zu jener Zeit lebte. Warum sie dann aber nach Stettin weiterfuhr, also wieder nach Norden, bleibt unklar.

In Stettin lernte sie einen pensionierten Eisenbahnschaffner kennen, der ihr anbot, bei ihm und seiner Frau zu übernachten. Im Gegenzug sollte er bei ihr in Hamburg unterkommen können, da sein Schwager dort wohnte und er noch einen Freifahrschein von der Bahn zu bekommen hätte. So fuhr er zusammen mit Erna am 23. November 1937 Richtung Hamburg. In Berlin auf dem Stettiner Bahnhof war Erna plötzlich verschwunden. Der pensionierte Schaffner fuhr weiter nach Hamburg, um sie in der Armgartstraße anzutreffen. Dort gab sich die Untermieterin Ulla Krohn ihm gegenüber als Wohnungsinhaberin aus und sagte ihm, dass Erna bei ihr nicht mehr wohne und die Schlüssel von der Wohnung mitgenommen hätte. Weiter hätte sie von einer Dame einen Pelzmantel und Geld gestohlen. Gegenüber der Polizei sagte Ulla Krohn später aus: "Ich war verreist, als der Trieloff (der Eisenbahnschaffner) hier war. (…) Von Diebstahl von Geld ist mir nichts bekannt."

Mitte Dezember 1937 ließ die Frau des früheren Schaffners durch ihren Bruder Anzeige bei der Polizei erstatten, da Erna ihr folgende Sachen "abgeschwindelt" hätte: "1 RM für das Opferbuch des Winterhilfswerks, einen Pullover, eine Strickjacke, ein Paar Schuhe, ein Wollkleid, 5 RM zum Frisieren, für Getränke 2 RM, für Unterwäsche 3,65 RM, einen Stadtkoffer, zum Ausgehen 3 RM". Weiterhin hätte Erna einen Morgenrock und eine Uhr entwendet. Später sagte sie selbst bei der Polizei aus, dass sie Erna den Pullover, die Strickjacke und die Schuhe für 20 RM verkauft, das Geld aber nicht erhalten hätte: "Die Sachen hatte ich auf dem Jahrmarkt in Stettin gekauft und waren mir zu klein."

Statt mit dem pensionierten Eisenbahner weiter nach Hamburg zu fahren, hatte Erna von Berlin aus den Zug nach Küstrin genommen. Ihre Tochter konnte sie dort jedoch nicht mehr sehen, da sie am 13. Dezember 1937 bei einer Razzia in einem Küstriner Café festgenommen und "in Schutzhaft genommen wurde wegen Verstoßes gegen die ihr als Berufsverbrecherin erteilten polizeilichen Auflagen". Am 29. Dezember 1937 wurde sie in das KZ Hamburg-Fuhlsbüttel überführt und blieb in "Schutzhaft".

Beide polizeilichen Maßnahmen basierten auf dem bereits am 24. November 1933 von den Nationalsozialisten verabschiedeten "Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung". Ein Gesetz, so der Jurist Karl-Ulrich Scheib 2012, dass zu genau den NS-Strafgesetzen zählte, "mit denen ‚Asoziale, Parasiten und Arbeitslose‘, die nicht dem Bild der NS-Ideologie entsprachen, für lange Zeit durch hohe Freiheitsstrafen oder Sicherungsverwahrung aus der Volksgemeinschaft dauerhaft entfernt werden sollten".

Am 4. April 1938 teilte das Polizeigefängnis Fuhlsbüttel dem Landgericht Hamburg mit, dass "die L. ihre Anklageschrift zerrissen hat." Am 25. April 1938 fand der Prozess gegen Erna vor dem Landgericht Hamburg statt. Das Urteil: Als "gefährliche Gewohnheitsverbrecherin" wurde sie zu drei Jahren Zuchthaus mit anschließender "Sicherungsverwahrung" sowie Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte für fünf Jahre verurteilt.

Ihr Verteidiger, Rechtsanwalt Max Blunck, hatte beantragt, "die Angeklagte wegen der Notlage milder zu behandeln". Zu Protokoll wurde gegeben, dass "die Angeklagte ihre Verfehlungen in allen wesentlichen Punkten zugegeben (hat). Sie hat diese Taten, wie auch ihre früheren Verfehlungen damit entschuldigt, dass sie elternlos aufgewachsen sei und keinen Halt gehabt habe". Das Gericht räumte zwar ein: "Es kann möglich sein, dass sie zuweilen aus Not gehandelt hat." Aber sie hätte "(…) ihre Bedürfnisse für den Lebensunterhalt fast ausschließlich durch Betrügereien erlangt, sei es, dass sie sich Kleidungsstücke, sei es, dass sie sich Kost und Logis, sei es aber auch, dass sie sich bares Geld erschwindelt hat". Daraus folgert das Gericht: "Den Werdegang der Beschuldigten kann man nur damit erklären, dass in ihr ein unbezähmbarer Hang zum fortgesetzten Begehen von Straftaten wurzelt. Sie bildet daher eine außerordentliche Gefahr für die Volksgemeinschaft, da sie niemals den Rechtsfrieden innerhalb der Volksgemeinschaft wird wahren können. Ihre Entfernung aus dieser Gemeinschaft, d.h. ihre Sicherungsverwahrung ist daher erforderlich."

Erwähnenswert ist, dass beim Prozess auf "die Zeugin Knaack verzichtet" wurde – Ernas frühere Vermieterin in der Armgartstraße in Hamburg und die einzige Person, die sich gegenüber der Polizei positiv über sie geäußert hatte.

Bemerkenswert ist auch, dass Vorstrafen für Taten herangezogen wurden, die Erna möglicherweise gar nicht verübt hatte: So wurde zum Beispiel eine "Arbeiterin Liselotte Lieske" wegen Betrugs verurteilt, das entsprechende Aktenzeichen befand sich aber in Ernas Gerichtsakte in Hamburg.

Und: Laut Hamburger Gerichtsakte wurde sie sowohl am 25. Februar 1918 in Bromberg (heute Bydgoszcz, Polen) zu zehn Wochen Gefängnis verurteilt, als auch am 19. März 1918 zu zwei Wochen Gefängnis in Landsberg (heute Gorzow Wielkopolski, Polen) – zu einer Zeit also, in der sie bereits in Bromberg inhaftiert war.

Und: Laut Akten verbüßte sie vom 17. Juni 1926 bis 13. Mai 1929 eine Strafe in Arnstadt/Thüringen, während sie – ebenfalls laut Akten – zeitgleich im Jahr 1928 in Sagan (heute Zagan, Polen) im Gefängnis saß. Beide Orte liegen knapp 400 km auseinander.

Am 2. Juni 1938 kam Erna zur Verbüßung der ihr vom Landgericht Hamburg auferlegten Strafe in die Frauenhaftanstalt Lübeck-Lauerhof. Der dortige Gefängnispastor wandte sich Mitte Februar 1939 an Ernas Verteidiger mit der Bitte, beim zuständigen Staatsanwalt in Hamburg Rücksprache zu nehmen, "ob nicht auf dem Gnadenwege die Sicherungsverwahrung noch einmal von ihr genommen werden könnte. Sie weist darauf hin, dass sie lediglich aus wirtschaftlicher Not gehandelt hat (die wöchentliche Unterstützung betrug 6 RM). (…) Arbeit kann sie bei der Firma P. A. H. Gebauer, Druckerei, Hamburg, Katharinenstr. 6, erhalten, bei der sie schon früher Jahre lang gearbeitet hat. Sie will der Behörde gern durch Bewährung zeigen, dass sie ein brauchbarer Mensch ist". Rechtsanwalt Blunck kam dieser Bitte nach, doch bis eine Entscheidung fiel, vergingen Monate.

Ende März 1939 wurde Erna in das Frauenzuchthaus Cottbus gebracht. Dort erkrankte sie offenbar schwer, denn im März 1940 wurde sie ins Lazarett des Untersuchungsgefängnisses Berlin-Moabit verlegt, wo sie ein halbes Jahr lang lag. Von dort schrieb sie am 1. September 1940 ein Gnadengesuch an die Oberstaatsanwaltschaft in Hamburg und bezeugte, dass sie ihre Taten "aus Not und nicht verbrecherischer Neigung" begangen hätte. Sie hätte damals 6 Reichsmark pro Woche bekommen und davon auch für ihr Kind sorgen müssen. Gerade habe sie zwei Operationen hinter sich, eine stünde noch bevor. Sie habe "körperlich sehr gelitten" und sei "körperlich sehr geschwächt."

Am 20. September 1940 wurde sie wieder ins Frauenzuchthaus Cottbus überführt. Bezüglich des Gnadengesuchs schreibt der Vorstand dieses Zuchthauses an den Oberstaatsanwalt in Hamburg: "Sie wird in der hiesigen Anstalt mit Nähen von Militärmänteln beschäftigt. Ihre Arbeit verrichtet sie mit Fleiß zur Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten. Es hat sich aber gezeigt, dass sie auch in der Anstalt versucht auf eine ,süssliche’ Art die Beamtinnen zu gewinnen, um aus einem Vertrauensverhältnis Vorteile zu ziehen, wie es auch im Urteil angegeben ist. Wegen dieser Charaktereigenschaft kann die Aufhebung der Sicherungsverwahrung nicht befürwortet werden." Offensichtlich hatte Erna keine Chance: War sie nett, blieb sie eine Gefahr für die "Volksgemeinschaft" und weiter in "Sicherungsverwahrung". War sie es nicht, wäre es bestimmt auch nachteilig für sie gewesen.

Am 20. November 1940 lehnte das Hamburger Landgericht Ernas Gnadengesuch ab.

Am 23. Dezember 1940 hatte sie ihre Strafe in dem Frauenzuchthaus Cottbus verbüßt. Anschließend wurde sie jedoch nicht frei gelassen, sondern zur "Sicherungsverwahrung" in die Sicherungsanstalt Lübeck-Lauerhof überführt. Mitte Oktober 1942 wurde sie in die Frauenverwahrungsanstalt Aichach in Oberbayern verlegt. Von dort wurde Erna am 26. März 1943 der Gestapo übergeben: "Die Strafunterbrechung wurde vom Reichsjustizministerium angeordnet."

Gemeint ist hier der Beschluss des Reichsjustizministers Otto Thierack in Absprache mit dem Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda Joseph Goebbels und dem Reichsführer SS Heinrich Himmler vom 18. September 1942: "Auslieferung asozialer Elemente aus dem Strafvollzug an den Reichsführer SS zur Vernichtung durch Arbeit. Es werden restlos ausgeliefert die Sicherungsverwahrten, Juden, Zigeuner, Russen und Ukrainer." Im NS-Staat galten die "Sicherungsverwahrten" als "unwertes Leben in höchster Potenz".

Am 4. Mai 1943 teilte die Kriminalpolizeileitstelle Augsburg der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hamburg mit, dass Erna Lieske am 24. April 1943 im KZ Auschwitz "gestorben" sei.

Die Sterbeurkunde in Auschwitz hatte der SS-Obersturmführer und Lagerarzt Werner Rohde unterschrieben. Er wurde 1946 von einem britischen Militärgericht zum Tode verurteilt und gehängt. In Auschwitz hatte er bereits an der Rampe die ankommenden Menschen selektiert und "Zehntausende dem Tod überantwortet", so Ella Lingens-Reiner, Ärztin und Auschwitz-Gefangene, im März 1964 während des ersten Frankfurter Auschwitzprozesses.

Als Todesursache ist in Ernas Sterbeurkunde "Durchfall mit Herzschwäche" angegeben. Wieslaw Kielar, als Häftling Nr. 290 in Auschwitz unter anderem als Krankenpfleger, Leichenträger und Schreiber eingesetzt, berichtete später: "Erschossen, abgespritzt, vergast: Jeder mußte seine Krankheitsgeschichte haben – eine fiktive selbstverständlich. Das verlangten die Lagerbehörden, und das befahl man mir zu tun. Zuerst schrieb ich bei den Häftlingen, von denen ich wußte, daß sie erschossen worden waren, ,Herzschlag‘; später kam ich zur Überzeugung, daß es zu viele Herzschläge gegeben hatte, was für mich schlecht ausgehen könnte, wenn es die Politische Abteilung bemerkte. Ich schrieb also die Totenmeldungen so, wie sie es wünschten: Bei einem Erschossenen schrieb ich zum Beispiel ,Durchfall‘, bei einem an Durchfall Verstorbenen schrieb ich ,Herzschlag‘, bei einem mit der Spritze Getöteten ,Nierenentzündung‘. Es war eine perfide Fälschung der Sterbeurkunden, ein Verwischen der Spuren von Massenmorden, die an den wehrlosen Häftlingen begangen wurden."

Stand: Mai 2016
© Liane Lieske, mit Unterstützung von Frauke Steinhäuser

Quellen: StaH 213-11 Staatsanwaltschaft Landgericht – Strafsachen, 6002/38; Wolfgang Ayass, "Asoziale" im Nationalsozialismus, Stuttgart, 1995, S. 175f.; Karl Ulrich Scheib, Justiz unterm Hakenkreuz, Strafjustiz im Nationalsozialismus bei der Staatsanwaltschaft Ulm und den Gerichten im Landgerichtsbezirk Ulm, Ulm, 2012; Angelika Ebbinghaus, Heidrun Kaupen-Haas, Karl Heinz Roth, Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg, Hamburg 1984; Wieslaw Kielar, Niemand kommt hier raus. Vernichtungslager Auschwitz, Häftling Nr. 290, Wieslaw Kielar, berichtet, in: Der Spiegel, Nr. 6/1979 v. 5.2.1979, S. 36–49, online unter: www.spiegel.de/spiegel/print/d-40350720.html (letzter Zugriff 13.9.2015); Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933, RGBl I, Nr. 133 vom 27. November 1933; Auslieferung an den Reichsführer SS zur Vernichtung durch Arbeit, Nürnberger Dokument, PS-654, online unter: NS-Archiv, Dokumente zum Nationalsozialismus, www.ns-archiv.de/imt/ps0501-ps1000/654-ps.php (letzter Zugriff 13.6.2015); E-Mail-Auskunft Standesamt Gotha vom 19.11.2013; "Gesindeordnung", in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 26. Januar 2015, 21:18 UTC, URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Gesindeordnung&oldid=138199084 (letzter Zugriff 13. Juni 2015).

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