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Bereits verlegte Stolpersteine



Helene Weissfeiler (geborene Schaingold) * 1875

Mühlendamm 47 (Hamburg-Nord, Hohenfelde)


HIER WOHNTE
HELENE WEISSFEILER
GEB. SCHAINGOLD
JG. 1875
DEPORTIERT 1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 23.2.1943

Weitere Stolpersteine in Mühlendamm 47:
Hans Prawitt, Erwin Weissfeiler

Erwin Josef Weissfeiler, geb. am 31.10.1900 in Berlin, deportiert am 29.11.1942 von Berlin in das KZ und Vernichtungslager Auschwitz, dort ermordet
Helene Weissfeiler, geb. Schaingold, geb. am 13.11.1875 in Hamburg, deportiert am 9.7.1942 ab Berlin in das Getto Theresienstadt, dort umgekommen am 23.2.1943

Mühlendamm 47

Helene Weissfeilers Vater war der Weiß- und Manufacturwarenhändler Salomon Schaingold. Er kam aus Warschau, wo man ihn noch unter dem Vornamen Szlama kannte. Als er am 7.Mai 1847 dort geboren wurde, war Warschau noch die Hauptstadt des Königreichs Polen, auch Kongresspolen genannt. Dieses stand damals allerdings bereits de facto unter russischer Herrschaft. Ende 1864 wurde es endgültig aufgelöst und zu einem Teil von Russland. Damit erhielt Salomon Schaingold die russische Staatsangehörigkeit. Auch Helene Weissfeilers Mutter Rieke war in Warschau zur Welt gekommen und wurde später Russin. Sie stammte aus einer Familie Josephson und war mit ihrem Geburtsdatum 18. November 1844 zweieinhalb Jahre älter als ihr Mann. Szlama und Rieke Schaingold heirateten auch noch in Warschau, und zwar am 14. Oktober 1870. Bereits zwei Jahre später aber verließen sie die Stadt und zogen nach Hamburg. Hier wurde mit Helene ihr erstes Kind geboren. Bis 1878 lebte die Familie an der Elbe, dann zog sie nach Stettin. Dort wurden Szlama, Rieke und Helene Schaingold eingebürgert und erhielten die preußische Staatsangehörigkeit. Im Zuge dieser Einbürgerung änderte Szlama Schaingold seinen Vornamen offiziell in Salomon.

In Stettin kam Salomon und Rieke Schaingolds zweites Kind zur Welt, ebenfalls ein Mädchen: Hulda Schaingold wurde am letzten Tag des Jahres 1878 geboren, an Silvester. Stettin schien Salomon Schaingold jedoch keine dauerhafte berufliche Zukunft zu bieten, sodass die inzwischen vierköpfige Familie schon zwei Jahre später nach Hamburg zurückkehrte. Im darauffolgenden Jahr bekamen Helene und Hulda Schaingold noch einen kleinen Bruder: Am 16. Juli 1881 wurde Isidor geboren. Acht Jahre später bekräftigten Salomon und Rieke Schaingold ihren Entschluss, in Hamburg bleiben zu wollen, indem Salomon für sich und seine Familie im Mai 1889 die Aufnahme in den Hamburgischen Staatsverband beantragte. Am 1. Dezember desselben Jahres wurden er und seine Frau zusammen mit ihren Kindern Helene, Hulda und Isidor Hamburger Bürgerinnen und Bürger.

Alle drei Kinder gingen auch in Hamburg zur Schule, Hulda und Isidor absolvierten anschließend noch eine kaufmännische Ausbildung. Dann trennten sich ihre Wege. 1898, sie war erst 20 Jahre, wanderte Hulda Schaingold nach Argentinien aus, offensichtlich ohne Begleitung. Am 12. Oktober jenes Jahres reiste sie erster Klasse mit der "San Nicolas" von Hamburg nach La Plata in der Provinz Buenos Aires. Möglicherweise war Abenteuerlust ihre Antriebsfeder oder der Drang nach Unabhängigkeit und der Wille, sich allein als Frau in der Fremde zu behaupten. Möglicherweise gab es aber auch bereits familiäre Verbindungen, durch die sie dort gleich eingebunden war und die es ihr erleichterten, Arbeit zu finden und für sich selbst zu sorgen. Sie kehrte jedenfalls nicht mehr nach Deutschland zurück.

Helene Schaingold verließ Hamburg ebenfalls, doch sie zog es nicht so weit fort. Im März 1899 verlobte sie sich mit dem Kaufmann Salomon "Salo" Weissfeiler, was ihre Eltern mit einer Anzeige in der Neuen Hamburger Zeitung bekanntgaben. Die Heirat fand am 4. Dezember 1899 in Berlin-Schöneberg statt, wo das Ehepaar fortan auch zusammen lebte. Salo Weissfeiler war am 20. April 1875 als Sohn des jüdischen Gastwirts Jakob Weissfeiler und dessen ebenfalls jüdischer Frau Fani, geborene Horschitz, in Racistorf (deutsch Ratzersdorf) bei Pressburg zur Welt gekommen und hatte noch zwei Brüder, David und Simon. Pressburg war zu jener Zeit die zweitwichtigste Industriestadt des Königreichs Ungarn, gehörte nach dem Ersten Weltkrieg unter dem Namen Bratislava zur neu gegründeten Tschechoslowakei und ist seit 1993 die Hauptstadt des Staates Slowakei. Racistorf, ein durch die Jahrhunderte vom Weinbau geprägter Ort mit großem deutschsprachigen Bevölkerungsanteil, wurde 1946 Stadtteil von Bratislava und heißt seither Raca. Bis zur Hochzeit hatte Salo ebenso wie Helene zur Untermiete gewohnt, er in Berlin-Kreuzberg in der Hagelsbergerstraße 22, sie auf Hamburg-St.Pauli in der Sophienstraße 44.

Nicht einmal vier Wochen nach Helenes und Salos Hochzeit, am 8. Januar 1900, starb in Berlin Helenes Vater Salomon Schaingold. Er lernte seinen Enkel nicht mehr kennen: Am 31.Oktober des Jahres kam der kleine Erwin Josef Weissfeiler zur Welt. Zu der Zeit lebten seine Eltern in Berlin-Schöneberg in der Feurigstraße. Auch Salomon Weissfeilers Brüder bekamen Kinder: Davids Tochter wurde Irene genannt, Simons Sohn Karol.

Helenes Bruder Isidor Schaingold wiederum folgte Hulda. Im Sommer 1903 fuhr er von Hamburg aus auf der "Tijuca" ebenfalls nach La Plata. Vorher war aber auch er schon nach Berlin-Schöneberg gezogen. Doch er blieb nicht auf Dauer in Buenos Aires. Im Juli 1919, mit fast 38 Jahren, heiratete er in Berlin Lucia Räsener aus Schwedt an der Oder. Sie wurde kurz nach der Hochzeit 34 Jahre alt. Zu der Zeit wohnte Isidor bei seiner Schwester und ihrem Mann in der Feurigstraße.

1923 starb Salo Weissfeiler im Alter von nur 48 Jahren. Helene, die nun mit ebenfalls erst 48 Jahren Witwe war, behielt die Wohnung an der Feurigstraße und führte die gemeinsame Teppichhandlung noch ein Jahr weiter. Dann gab sie sie auf. Erwin fuhr in jener Zeit oft nach Ratzersdorf zu seinen dort lebenden Verwandten; seine Cousine Irene hatte inzwischen geheiratet, ihr Mann hieß Emil Schwarz. Emil betrieb Weinbau als Hobby und immer wenn Erwin in Ratzersdorf war, half er ihm bei der Pflege der Weinstöcke. Beide waren gute Freunde geworden.

Um 1927 zog es Erwin aus Berlin nach Hamburg. Dort hatte er eine Stelle als Filmvertreter gefunden und trat der jüdischen Gemeinde bei. Er lebte zur Untermiete, erst in der Uhlandstraße 85, dann am Mühlendamm 13 und zuletzt am Mühlendamm 47.

Am 31. Januar 1933 übergab Reichspräsident Hindenburg die Macht in Deutschland den Nationalsozialisten und Adolf Hitler wurde Reichskanzler. Nicht einmal vier Monate später, am 3.Mai 1933, verließ Erwin Weissfeiler Hamburg wieder und zog zu seiner Mutter Helene nach Berlin. Bis 1938 lebten beide noch zusammen in der Feurigstraße in Schöneberg, dann zogen sie zur Untermiete in die Keithstraße, die ebenfalls in Schöneberg liegt. Offensichtlich konnten sie sich die bisherige Wohnung, in der Helene Weissfeiler fast 40 Jahre lang gewohnt hatte, nicht mehr leisten. Zahlreiche jüdische Einzelhändler hatten ihre Geschäfte infolge des Boykotts vom 1. April 1933 schließen müssen; ab 1936 wurden zudem immer mehr Jüdinnen und Juden von ihren Arbeitsgebern entlassen und lebten von schlecht bezahlten Gelegenheitsjobs und unterstützt von der Wohlfahrtsbehörde oder der jüdischen Gemeinde.

Am 27. November 1941 wurden Helene Weissfeilers Bruder Isidor Schaingold und seine Frau Lucia von Berlin aus in das Getto Riga deportiert. In dem Transport befanden sich auch Lucias Bruder Max, dessen Ehefrau Meta und die gemeinsame Tochter Asta. Sie hatten auch in Berlin gelebt. Alle Angehörigen dieses Transports wurden direkt nach ihrer Ankunft in dem Getto ermordet. Sie gehörten zu den insgesamt 27500 Jüdinnen und Juden, die an zwei Tagen – am 30. November und am 8. Dezember 1941 – im Wald von Rumbula im gleichnamigen Rigaer Stadtteil erschossen wurden. Die Täter waren Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, unterstützt durch Mitglieder eines lettischen Hilfspolizeikommandos sowie anderer lettischer Polizeieinheiten. Sie zwangen die Jüdinnen und Juden, sich in der eisigen Kälte zu entkleiden und in ausgehobene Gruben zu steigen. Dann schossen sie ihnen aus kurzer Distanz in den Hinterkopf.

Helene Weissfeiler wurde am 9. Juli 1942 mit dem "18. Alterstransport" von Berlin aus nach Theresienstadt deportiert. Den Deportationsbefehl bekam sie in die Keithstraße. Sie überlebte in dem Getto kein Jahr. Am 23. Februar 1943 starb sie an den Folgen eines Magengeschwürs.

Erwin Weissfeiler wohnte ebenfalls bis zuletzt in der Keithstraße. Er wurde am 29. November 1942 mit dem "23. Osttransport" nach Auschwitz verbracht. Dort wurde er ermordet.

Am Freitag, den 9. August 1946, erschien in der deutsch-jüdischen Wochenzeitung "Aufbau", die 1934 in New York gegründet wurde, die Anzeige einer Bertha Lewin aus Los Angeles. Sie suchte Helene Weissfeiler sowie Erwin Weissfeiler und dessen Frau, außerdem Helenes Bruder Isidor Schaingold und dessen Frau Lucia. Offenbar kannten sich alle aus Berlin. Ob Erwin Weissfeiler tatsächlich verheiratet war, ließ sich nicht nachvollziehen. Bertha Lewins Suchanzeige und die damit verbundene Hoffnung auf ein Überleben der vermissten Freundinnen und Freunde waren jedoch vergebens.

Im September 2015 besuchten Hanna Hareli (geborene Schwarz/Sochor) und ihr Mann Mordechai (ehemals Paul Herzog/Pavel Hora) aus Modiin in Israel Hamburg. Hanna Harelis Mutter Irene war die zuvor erwähnte Cousine Erwin Weissfeilers. Eine Internetrecherche hatte das Ehepaar auf die Website www.stolpersteine-hamburg.de geführt und auf diese Weise erfuhren sie von den für Erwin und seine Mutter Helene verlegten Stolpersteinen. Hanna und Mordechai Hareli hatten als Jugendliche mit ihren Eltern die Shoah überlebt, Mordechai und seine Familie im Getto Theresienstadt, Hanna und ihre Familie in einem Versteck in den Bergen bei Bratislava. Sechs ihrer acht Großeltern sowie weitere Verwandte wurden ermordet. Mordechai Hareli ist noch heute in Israel aktiv als Vorsitzender der "Organization of Forced Laborers unter the Nazi Occupation" (Organisation von Zwangsarbeitern unter der Nazi-Besatzung).

Stand: Mai 2016
© Frauke Steinhäuser

Quellen: 1; 3; 4; 5; 8; StaH 332-7 Staatsangehörigkeitsaufsicht B III 32851; StaH 373-7 I, VIII Auswanderungsamt I, Band 100, Mikrofilmnummer K_1759; StaH 373-7 I, VIII Auswanderungsamt I, Band 100, Mikrofilmnummer K_1781; Heiratsregister der Berliner Standesämter 1874–1920, Standesamt Berlin IVa, Urkunde Nr. 657, Archivsequenznummer 416; Heiratsregister der Berliner Standesämter 1874–1920, Standesamt Berlin IVa, Urkunde Nr. 663, Archivsequenznummer 528; Sterberegister der Berliner Standesämter 1874–1920, Standesamt Berlin, Schöneberg I, Urkunde Nr. 26, Archivsequenznummer 179; Freie Universität Berlin, Zentralinstitut für die sozialwissenschaftliche Forschung (Hrsg.), Gedenkbuch Berlins der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, 1995; Berliner Adressbücher; ausführliches Gespräch mit Hanna und Mordechai Hareli am 17.9.2015 in Hamburg; E-Mail-Korrespondenz mit Helmuth Lölhöffel, Stolperstein Initiative Berlin-Charlottenburg und Wilmersdorf, 7.9.2015; Anna Hajkova, Mutmaßungen über deutsche Juden. Alte Menschen aus Deutschland im Theresienstädter Ghetto, in: Doris Bergen, Andrea Löw, Anna Hájková (Hrsg.), Alltag im Holocaust. Jüdisches Leben im Großdeutschen Reich 1941–1945, München, 2013, (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte), S. 179–198; Brigitte Heidenhain, Juden in Schwedt. Ihr Leben in der Stadt von 1672 bis 1942 und ihr Friedhof, Potsdam, 2010 (Pri ha-Pardes, Bd. 7); "Aufbau", 9.8.1946, S. 33; Hilary Leila Krieger, "Holocaust victims feel cheated by the commission. Mordechai Hareli wanted to recover what was due to him, his wife and their siblings and cousins.", in: The Jerusalem Post, 17.11.2005, online: www.jpost.com/Jewish-World/Jewish-News/Holocaust-victims-feel-cheated-by-commission (letzter Zugriff 10.10.2015); The Todesfallanzeige Helene Weissfeiler, Nationalarchiv Prag, Zidovske matriky, Ohledaci listy – ghetto Terezin, Band 81, online: www2.holocaust.cz/de/document/DOCUMENT.ITI.17215 (letzter Zugriff 20.3.2015); Statistik und Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich, Berlin, 23. Osttransport, online: www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_ber_ot23.html (letzter Zugriff 20.3.2015); Statistik und Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich, Berlin, 18. Alterstransport, online: www.statistik-des-holocaust.de/AT18-3.jpg (letzter Zugriff 20.3.2015).
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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