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Bereits verlegte Stolpersteine



Annemarie Stövhase mit ihrem Sohn (1920er Jahre)
© Joachim Lankow

Annemarie Stövhase (geborene Kahl) * 1890

Erdkampsweg 85 (Hamburg-Nord, Fuhlsbüttel)

1943 Heilanstalt Steinhof Wien
ermordet am 8.1.1944

Annemarie Stövhase, geb. Kahl, geb. am 30.9.1890 in Neukloster, aufgenommen am 25.9.1934 in die "Alsterdorfer Anstalten", "verlegt" am 16.8.1943 in die "Wagner von Jauregg Heil- und Pflegeanstalten Wien", Steinhof, dort umgekommen am 26.11.1944

Erdkampsweg 85

Annemarie Stövhase liebte Hamburg über alles – so ist sie ihrem Neffen Joachim Lankow in Erinnerung geblieben.

Anna Maria Lucie Johanna Kahl kam am 30. September 1890 in Neukloster bei Wismar, Mecklenburg, als Tochter der Eheleute Karolina, geb. Kollmorgen, und Johann Kahl zur Welt. Ihr Vater besaß das dortige Sägewerk. Ein Jahr nach ihrer Geburt nahm er sich das Leben. Ihre Mutter führte den Betrieb weiter und heiratete, als Annemarie sieben Jahre alt war, in zweiter Ehe Helmut Stapelmann. Im selben Jahr wurde Annemaries Schwester Elisabeth und ein Jahr später ihre Schwester Ella geboren. Annemarie und ihre beiden Schwestern besuchten bis zur mittleren Reife eine private höhere Töchterschule in Neukloster. Annemarie sollte auf Wunsch ihrer Eltern anschließend zu Hause Haushaltsführung und in dem eigenen Sägewerk die Betriebsführung erlernen. Jedoch empfand sie dies als Zwang und lehnte sich dagegen auf. Das häusliche Zusammenleben wurde schwierig. Eine in Aussicht stehende Heirat lehnte sie ab, verließ ihr Elternhaus und zog nach Hamburg. In dieser Stadt fühlte Annemarie sich frei.

Sie bekam eine Anstellung bei der Post; dort lernte sie ihren zukünftigen Ehemann kennen. Am 13. Oktober 1921 heiratete sie den ein Jahr jüngeren Oberpostsekretär Otto Karl Friedrich Stövhase. Sie bezogen eine Erdgeschosswohnung am Erdkampsweg 85, innerhalb der Siedlung "Am weißen Berge", die der gemeinnützigen Baugesellschaft des Mietervereins Groß-Hamburg von 1890 e.G.m.b.H. gehörte. Die Siedlungshäuser Erdkampsweg 83–87 wurden ausschließlich von Postbeamten bewohnt. In ihrem Haus mit den sechs Wohnungen waren alle fünf Nachbarn Postinspektoren. Mit dem Tod ihrer Mutter im Jahre 1923 verlor Annemarie einen wichtigen Halt. Vier Jahre später brachte Annemarie Stövhase am 30. Juni 1927 ihren Sohn Horst zur Welt. Zu dieser Zeit kriselte ihre Ehe bereits.

Im Juni 1934 leitete Annemaries Ehemann auf Anraten des Oberarztes Dr. Lottig vom Jugendamt das Ehescheidungsverfahren ein. Am 15. September 1934 wurde auf Drängen des Jugendamtes die Trennung von Mutter und Kind durchgeführt. Horst kam zu seinem Vater. Ende September 1934 wurde Annemarie auffällig. Bei ihrer Einlieferung in die damaligen "Alsterdorfer Anstalten" in Hamburg-Alsterdorf am 25. September 1934 befand sich laut Protokoll die Wohnung in einem auffallend unordentlichen Zustand; Annemarie wehrte sich, sie blieb auf ihren Sachen sitzen und wollte die Wohnung nicht verlassen, sie weinte und lachte abwechselnd. Nach Angaben der Nachbarn soll sie zuvor schon tagelang verwirrt umhergeirrt sein und in Lauben übernachtet haben. Eine Pflegerin brachte sie vom Erdkampsweg in die damaligen "Alsterdorfer Anstalten"; dort kam sie in Behandlung zu Dr. Kreyenberg. Die Diagnose "Schizophrenie" stand für ihn nach vier Tagen fest.

Am 10. Oktober 1934 wurde Annemarie zu einer Nervenwasseruntersuchung in die "Staatskrankenanstalt Friedrichsberg" überstellt. Das Ergebnis der dortigen Diagnose lautete Paralyse. Es sollte sich um eine progressive Paralyse mit fortschreitender Demenz als Folge von Syphilis handeln. Im Protokoll vom 19. November 1934 ist nachzulesen, wie sich Annemarie Stövhase gegen Dr. Kreyenbergs angeordnete Behandlung auflehnte: "Ich bleib nicht hier. Ich nehme keine Spritzen mehr. Die können Sie ja Ihrer Frau geben, aber nicht mir, verstanden! Die Spritzen machen einen ja krank. Sie sagen, davon wird man gesund? Krank wird man davon! Davon kriege ich ja Fieber." Annemarie wollte nach Hause
und hatte Sehnsucht nach ihrem kleinen Sohn Horst. Sträubte sie sich gegen die Behandlung, wurde sie zur Ruhigstellung in den "Wachsaal" verlegt, in die Abteilung für "Erregte Schwachsinnige". Das bedeutete Strafe und Isolierung. Dort wurden Dauerbäder, Schlaf- und Fieberkuren durchgeführt. Annemarie erhielt eine Fiebertherapie, Herzmittel, Malariablut und Salvarsan – eine Arsenverbindung, damalige Maßnahmen gegen Syphilis (Lues). Häufiger drohte sie an, sich das Leben zu nehmen, wenn sie nicht nach Hause dürfe.

Im Januar 1935 wurde Annemarie Stövhase vorläufig entmündigt und eine Pflegerin als Vormund bestellt. Eine Sterilisation wegen angeblicher Erbkrankheit, die ein Amtsarzt nach einem Gutachten von Oberarzt Dr. Lottig beantragt hatte, wurde vom Erbgesundheitsgericht Hamburg im Dezember 1934 abgelehnt.

Die Ehe wurde rechtskräftig am 19. September 1935 wegen ihrer Geisteskrankheit, als Ursache Paralyse, geschieden. Annemaries geschiedener Ehemann versuchte seine Zahlungsverpflichtung für die Verpflegungskosten abzuwälzen. Auf Antrag des Oberstaatsanwaltes wurde vor dem Amtsgericht am 19. August 1936 die Entmündigung endgültig beschieden. In der Begründung hieß es u. a.: "Mit ihrer Entmündigung, deren Bedeutung sie wohl kaum übersehen kann, ist sie einverstanden."

Ihre Schwester versuchte, ihr so gut es ging zu helfen. Des Öfteren bat sie um Urlaub für Annemarie. Ein Brief des Schwagers Alfred Lankow vom Januar 1936 an die Vormündin Frau Dr. Ellen Zahn lassen seine Sorgen und die der Schwester über die Unterbringung und den Gemütszustand von Annemarie Stövhase erkennen:
"Über die Lage meiner unglücklichen Schwägerin haben meine Frau und ich während unseren letzten Besuchs im Oktober ein Bild gewonnen, das den ganzen Jammer ihres Daseins enthüllte. Inzwischen sind Briefe von ihr und von anderer Seite an uns gelangt, deren Inhalt der immer wiederkehrende Wunsch ist, sie herauszunehmen aus der furchtbaren Umgebung, die ja auch tatsächlich in der Zusammenhäufung soviel menschlichen Elends für einen Menschen, der nicht ganz in geistige Umnachtung versunken ist, was man von Frau St. doch nicht behaupten kann, ein Ort des Entsetzens ist. Sie empfindet den Aufenthalt als ein Lebendbegrabensein und droht, wen[n] keine Rettung kommt, ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Wir sind, wie Sie verstehen werden, auf das tiefste erschüttert, und sind, zumal uns der Vorwurf gemacht wird, dass wir uns nicht genug für sie einsetzen, im Zweifel, was zu tun ist, um das Los der Armen zu bessern. Herr Dr. Kreyenberg und auch Frl. Dr. Hansing haben dringend abgeraten, sie aus der Anstalt zu nehmen, ganz abgesehen davon, dass dies ohne Ihre Zustimmung überhaupt nicht möglich wäre. Bei der Art ihres Leidens hat uns der Arzt keine Besserung in Aussicht gestellt und die Möglichkeit ihrer Unterbringung in häuslicher Gemeinschaft – etwa bei uns – verneint. […] vielleicht lässt sich im gegenseitigen Zusammenarbeiten doch noch ein Weg finden, der meiner Schwägerin die Ruhe wiedergibt. Herr Kreyenberg war s. Zt. damit einverstanden, dass Frau St. etwa einmal im Monat den Jungen sieht. In ihrem letzten Brief schreibt sie wieder davon, dass man ihr das Kind vorenthalte. Ich darf Sie freundlichst noch bitten, sich der Sache u.U. anzunehmen."

Im Februar 1936 bat Elisabeth Lankow in einem Brief an Dr. Hansing eindringlich und wiederholt um Urlaub für ihre Schwester.
"Wie Sie auch wissen werden, hat die Ärmste seit vielen Wochen den glühenden Wunsch auf Urlaub zu ihrem Vater zu reisen. Sie schreibt in flehender Weise immer wieder an meinen Vater, er möchte sie doch auf ein paar Wochen zu sich holen. Vater würde ihr nun so gerne ihren Wunsch erfüllen, aber als er im Februar mit meinem Mann zusammen dort war und mein Mann wegen dieses Urlaubs mit Ihnen sprach, erklärten Sie es ja leider als unmöglich. Wir sind nun aber ganz erschüttert von den vielen flehentlichen Bitten der Ärmsten und möchten ihr doch so sehr gerne die kleine Freude des Urlaubs machen. [...] Eine wirklich gute, in jeder Weise zuverlässige Betreuung hätte ich auch dort, und schließlich gemeingefährlich ist sie doch nicht. [...] Ich bitte Sie nochmals, Frl. Doktor, besprechen Sie diese Angelegenheit mit dem Oberarzt, vielleicht gestattet es ihr Zustand doch, den Urlaub zu bewilligen. Es würde uns allen eine Last von der Seele genommen. Ihr vieles Flehen und Bitten, ihr Elternhaus wiederzusehen, bedrückt uns so sehr."

Auch dieses Gesuch wurde von Dr. Kreyenberg abgelehnt.

Annemarie Stövhase verbrachte zunächst fast vier Jahre in den ehemaligen "Alsterdorfer Anstalten", bis sie am 31. Juni 1939 versuchsweise entlassen wurde.In der nachfolgenden Zeit war Annemarie Stövhase jedoch wieder zur Behandlung in die "Heilanstalt Langenhorn" und zwischenzeitlich auch in die "Psychiatrische und Nervenklinik der Hanseatischen Universität Eilbecktal" eingeliefert worden. Am 7. März 1941 wurde sie erneut in die "Alsterdorfer Anstalten" verlegt. Etwa einen Monat später fand man Annemarie mit zerrissenen Kleidern im Schwesterngarten auf; sie hatte versucht, aus der Anstalt zu entkommen. Daraufhin wurde sie in den Wachsaal verbracht. Wehrte sie sich oder war sehr unruhig, wurde sie angegurtet.

Noch am vorletzten Tag in den "Alsterdorfer Anstalten" steht über Annemarie im Protokoll: "[...] arbeitet in der Gemüsestube, sie ist dort immer fleißig. Sie mag nicht ohne Beschäftigung sein, muß sie mal aussetzen, bittet sie ständig, wieder hingehen zu dürfen. Sie ist ruhig [...]." Im letzten Protokoll von Dr. Kreyenberg vom 16. August 1943 ist vermerkt: "Wegen schwerer Beschädigung der Anstalten durch Fliegerangriff verlegt nach Wien". Diese Bombenbeschädigungen sollen nie stattgefunden haben.

Annemarie Stövhase wurde am 16. August 1943 zusammen mit 227 Mädchen und Frauen von den "Alsterdorfer Anstalten" in Bussen zum Bahnhof und per Sonderzug gemeinsam mit Patienten aus der "Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn" in die "Wagner von Jauregg Heil- und Pflegeanstalten der Stadt Wien" transportiert, wo sie einen Tag später eintrafen. Zu ihrer Aufnahmebesprechung bei Dr. Wunderer kam Annemarie Stövhase laut Protokoll mit einem Zettel, auf dem "Wiener Versorgungsheim" stand. Dorthin wolle sie kommen, sie wolle ins Waschhaus kommen, habe immer dort gearbeitet. Ihr Sohn sei 17 Jahre alt. Sie arbeite gern umsonst, es mache ihr große Freude. Am 6. September 1943 wurde protokolliert: "Von der Wäscherei als unbrauchbar zurückgeschickt." Die Vormündin war anscheinend nicht von dieser überstürzten "Verlegeaktion" informiert worden, denn am 27. August 1943 erkundigte sich deren Ehemann für sie in einem Schreiben an die ehemaligen "Alsterdorfer Anstalten" nach dem Verbleib und dem Zustand von Annemarie Stövhase.
Mitte September 1944 wurde bei Annemarie Stövhase ein Gewicht von 38 kg protokolliert. Seit ihrer Einlieferung hatte sie durch die Mangelernährung innerhalb eines Jahres 11 kg an Gewicht verloren. Am 9. Oktober 1944 wurde sie in die "Pflegeanstalt übersetzt".

Elisabeth Lankow versuchte vergeblich, ihre Schwester von Wien zu sich nach Hause zu holen. Im Protokoll der "Jaureggschen Anstalten" vom 23. November 1944 wurde eine Nachricht festgehalten, die am 13. November 1944 für Annemaries Schwester Elisabeth Lankow verfasst wurde: "Ihrer Schwester A. St. geht es weiterhin körperl. schlecht eine Überführung nach Mecklenburg dürfte sie in ihrem jetzigen Zustand nicht aushalten. Mit ihrem Tod ist zu rechnen. Dr. Wunderer" Annemaries Tod wurde am 26. November 1944 mit "Exitus letalis um 9:20" und "Progressive Paralyse" protokolliert. Annemarie Stövhase war 54 Jahre alt. Der tödliche Ausgang war nicht Ergebnis eines natürlichen Verlaufs einer Krankheit. Annemarie Stövhase wurde Opfer im "Euthanasieprogramm" des nationalsozialistischen Staates. Ihre Schwester Elisabeth Lankow überwies 300,- RM für ein Begräbnis in einer Einzelgrabstätte in Wien. Eine Überführung zur Bestattung in ihrem Heimatort war nicht möglich. Spätere Nachforschungen der Stiftung Alsterdorf haben ergeben, dass weder ein Grab noch Eintragungen darüber zu finden sind. Elisabeth Lankow ließ nach dem Krieg eine Inschrift mit dem Namen ihrer Schwester Annemarie Stövhase in den Familiengrabstein auf dem Friedhof ihres Geburtsortes Neukloster einmeißeln.

Stand: Januar 2023
© Margot Löhr

Quellen: 5; Evangelische Stiftung Alsterdorf, Auskünfte Dr. Michael Wunder; Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf, Akte Nr. 1397/1648, Aufnahmebuch Nr. 7544/8210, Akte Nr. V 231(1648); StaH, 332-5 Standesämter, 8756 u. 599/1921; Wiener Stadt- und Landesarchiv, MAbt. 209, A14: Annemarie Stövhase; Götz Aly: Medizin gegen Unbrauchbare, in: Aussonderung und Tod. Die klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 1), Berlin 1985, S. 9–74, hier S. 57; Klaus Böhme/Uwe Lohalm: Wege in den Tod. Hamburgs Anstalt Langenhorn und die Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus (Forum Zeitgeschichte, Bd. 2), Hamburg 1993; Gesche M. Cordes: Stolpersteine und Angehörige in Hamburg, Herzogenrath 2012; Herbert Diercks: "Euthanasie". Die Morde an Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in Hamburg im Nationalsozialismus, Texte, Fotos und Dokumente, hrsg. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Hamburg 2014; Eberhard Gabriel/Wolfgang Neugebauer (Hrsg.): NS-Euthanasie in Wien, Wien/Köln/Weimar 2000; Waltraud Häupl: Die ermordeten Kinder von Spiegelgrund. Gedenkdokumentation für die Opfer der NS-Kindereuthanasie in Wien, Köln/Wien 2006; Ernst Klee: "Euthanasie" im NS-Staat. Die "Vernichtung lebensunwerten Lebens", Frankfurt am Main 1997, S. 440 f.; Antje Kosemund: Spurensuche Irma, Berichte und Dokumente zur Geschichte der "Euthanasie-Morde" an Pfleglingen aus den Alsterdorfer Anstalten, Hamburg 2006; Wolfgang Neugebauer: Wiener Psychiatrie und NS-Verbrechen, in: Brigitta Keintzel/Eberhard Gabriel (Hrsg.): Gründe der Seele. Die Wiener Psychiatrie im 20. Jahrhundert, Wien 1999, S. 136–164, hier S. 144; Michael Wunder: Euthanasie in den letzten Kriegsjahren: Die Jahre 1944 und 1945 in der Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn, Husum 1992, S. 9; Michael Wunder/Ingrid Genkel/Harald Jenner: Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Hamburg 1987. Vielen Dank an Joachim Lankow (verst. 2018)!
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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