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Bereits verlegte Stolpersteine



Ewald Kuhlmann * 1930

Eißendorfer Pferdeweg 12 (Harburg, Heimfeld)


HIER WOHNTE
EWALD KUHLMANN
JG. 1930
EINGEWIESEN 1933
ALSTERDORFER ANSTALTEN
´VERLEGT‘ 9.10.1941
´HEILANSTALT` LÜNEBURG
ERMORDET 21.12.1943

Weitere Stolpersteine in Eißendorfer Pferdeweg 12:
Peter Harms, Uwe Anton Hinsch, Alfred Rahnert, Walter Carl Stein, Herbert Thörl

Ewald Kuhlmann, geb. am 26.8.1930 in Harburg, eingewiesen in die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission am 8.4.1933, "verlegt" in die Provinzial-Landesheil- und Pflegeanstalt Lüneburg am 9.10.1941, ermordet am 21.12.1943.

Stadtteil Heimfeld, Eißendorfer Pferdeweg 12

Ewald Kuhlmann kam als zweites Kind des Bäckers Paul Richard Ernst Kuhlmann und seiner Ehefrau Berta Helene Kuhlmann, geb. Hubert in der Doppelstadt Harburg-Wilhelmsburg zur Welt. Aus den wenigen Akten, die über den kurzen Lebensweg dieses Jungen erhalten geblieben sind, geht nicht hervor, wann und warum er in das Städtische Kinderkrankenhaus und Säuglingsheim am (Eißendorfer) Pferdeweg 12 in Heimfeld eingewiesen wurde. Wahrscheinlich lag es am frühen Tod seiner Mutter, die bald nach der Geburt ihres zweiten Sohnes starb. Doch es bleibt die Frage, warum der kleine Ewald nicht bei seinem Vater, der bald darauf nach Stettin verzog, aufwuchs. War er mit der alleinigen Erziehung von zwei Kindern nicht nur zeitlich und finanziell, sondern auch prinzipiell überfordert? Wir wissen es nicht.

Noch schwerer lässt sich ein einheitliches Bild von der Entwicklung des kleinen Jungen in diesem Harburger Kinderheim in den folgenden Wochen und Monaten zeichnen. Die Informationen über seine Entwicklung in den ersten Lebensjahren sind spärlich und darüber hinaus widersprüchlich. Während sein Vater auf Grund der nach seinem Dafürhalten positiven Auskünfte des Kinderheims über die Entwicklung seines Sohnes offenbar glaubte, dass alles in Ordnung sei, erhielt das Harburger Jugendamt im Dezember 1932 Informationen über die Entwicklung des kleinen Jungen, die ein ganz anderes Bild ergaben. Leitung und Personal des Kinderheims waren auf Grund medizinischer Untersuchungen und intensiver Beobachtungen zu der Erkenntnis gelangt, dass der Junge an "Geistesschwäche" litt und durch sein Verhalten ihre praktische Erziehungsarbeit vor Ort in unvertretbarem Maße belaste. Deshalb plädierten sie für seine Überweisung in eine andere Anstalt.

Bei der anschließenden Suche nach einer geeigneten Unterbringung des kranken Jungen wurde das Harburger Jugendamt dann bei den Rotenburger Anstalten der Inneren Mission fündig, die am 8. April 1933 sein neues Zuhause wurden. Diese Einrichtung war 1880 als "Asyl für die Pflege Epileptischer" in der Kreisstadt an der Wümme gegründet worden und hatte seitdem viele fortschrittliche Entwicklungen in der Arbeit mit und für Menschen mit Behinderungen eingeführt und den dortigen Bedürfnissen angepasst.

Die Eingangsuntersuchung der Rotenburger Ärzte bestätigte die Diagnose ihrer Harburger Kollegen. In einem Brief vom 12. April 1933 teilten sie dem Vater des Jungen mit, dass der kleine Patient zweifellos an "Schwachsinn höheren Grades" leide und dass die Überweisung allemal gerechtfertigt sei. Während sie verständlicherweise noch nichts über seine weitere Entwicklung sagen konnten, stellten sie im Hinblick auf seinen derzeitigen Entwicklungsstand zweifelsfrei fest, dass er nicht dem seiner Altersgenossen entsprach. Sie wiesen darauf hin, dass er im Alter von zweieinhalb Jahren noch nicht laufen und auch kaum sprechen konnte. Ferner konnte er sich im Unterschied zu anderen Kindern seines Alters in keiner Weise sauber halten. Angesichts dieser Defizite gebe es keine Alternative zur "Anstaltspflege".

In den folgenden Jahren änderte sich an dieser grundsätzlichen Einschätzung trotz leichter Verbesserungen nur wenig. Am 19. Februar 1936 erklärte Dr. Rustige als leitender Arzt der "Rotenburger Heil- und Pflegeanstalt für Epileptische, Geistesschwache und -kranke" in einem Schreiben an das Wohlfahrtsamt der Stadt Harburg-Wilhelmsburg, dass Ewald Kuhlmann sich "geistig langsam" weiterentwickele. Er stellte fest, dass er angefangen habe, "in Sätzen zu sprechen. aber noch unvollkommen und kindlich". Außerdem konnte er dem Wohlfahrtsamt melden, dass der kleine Patient sich inzwischen sauber hielt, aber noch "an- und ausgezogen werden" musste. Darüber hinaus hielt er es für wichtig, darauf hinzuweisen, dass Ewald Kuhlmann als ein recht eigensinniger Junge bezeichnet werden müsse, der oft mit anderen Kindern auf der Station in Streit geriete und dabei leicht handgreiflich werde. Sein weiterer Verbleib in der Heil- und Pflegeanstalt sei dringend geboten.

Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler konnten sich auch die Rotenburger Anstalten immer weniger dem erhöhten Druck entziehen, der von nahezu allen gleichgeschalteten Instanzen ausging und das Existenzrecht aller Individuen, die nicht zur `Volkgemeinschaft´ zählten, in Frage stellte. Das Verständnis von der Eigenwürde jedes Menschen wurde zunehmend von einer Beurteilung verdrängt, die allein seine Bedeutung für die Gemeinschaft bewertete. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Rotenburger Anstalten blieben von diesem Wandel nicht unberührt. Viele von ihnen waren Mitglieder der NSDAP, darunter die Arzte, der leitende Pfleger der Männerabteilung, der Rechnungsführer, der Büroinspektor und der Leiter des Kalandhofes. Die Pastoren waren in keiner nationalsozialistischen Gruppierung.

Das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" fiel in den Rotenburger Anstalten auf fruchtbaren Boden. Mindestens 238 Männer und 97 Frauen dieser Heil- und Pflegeanstalt wurden in der NS-Zeit zwangsweise sterilisiert. Neben der Umsetzung dieses Gesetzes im eigenen Haus beteiligten die angestellten Ärzte sich durch Gutachten für das Erbgesundheitsgerichte in Verden und in Celle auch am Sterilisationsverfahren auf regionaler Ebene.

Für den weiteren Werdegang der Patientinnen und Patienten dieser und anderer Anstalten gewann nicht nur ihr biologischer Wert, sondern auch die Einschätzung ihrer Bildungsfähigkeit zunehmend an Bedeutung. Am 20. April 1938 wurde Ewald Kuhlmann in die Hilfsschule der Rotenburger Anstalten aufgenommen, die er aber bereits nach einem Jahr wieder verlassen musste, weil er sich durch seine ständigen Unterrichtstörungen als nicht schulfähig erwiesen hatte. Er galt als schwer erziehbar und war offenbar immer häufiger nur unter großen Anstrengungen davon abzuhalten, andere "Knaben auf der Station zu quälen."

Die Ermächtigung zur Durchführung der Tötung unheilbar Kranker, die Adolf Hitler zu Kriegsbeginn Reichsleiter Bouhler und seinem Leibarzt Dr. Karl Brandt erteilt hatte, blieb auch für die Rotenburger Anstalten nicht ohne Folgen. 140 Patientinnen und Patienten waren schon auf dem Weg von Rotenburg in die Gaskammern der Tötungsanstalt Hadamar, als diese Phase des nationalsozialistischen Programms der Vernichtung "unwerten Lebens" im August 1941 gestoppt wurde. Doch damit war das Morden nicht beendet. Schätzungsweise 87.000 Menschen mit Behinderungen starben danach noch durch gezielten Nahrungsmittelentzug, falsche Medikamentenvergabe und unterlassene ärztliche Hilfeleistung.

Als im Laufe des Jahres 1941 kriegsbedingt überall Quartiere für weitere Reservelazarette und Ausweichkrankenhäuser gesucht wurden, waren auch die Rotenburger Anstalten von den entsprechenden Konsequenzen betroffen. Innerhalb von drei Wochen wurden im Herbst 1941 alle Gebäude dieser Heil- und Pflegeanstalt geräumt und noch einmal 816 Bewohnerinnen und Bewohner in andere Anstalten verlegt. Insgesamt 547 Rotenburger Patientinnen und Patienten fanden anschließend in den Anstalten, in die sie in der NS-Zeit verlegt wurden, den Tod.

Am 9. Oktober 1941 wurde Ewald Kuhlmann zusammen mit 129 anderen Kindern von Rotenburg in die Provinzial-Landesheil- und Pflegeanstalt Lüneburg verlegt. Hier kam er in die kurz zuvor eingerichtete Kinderfachabteilung, eine Tarnbezeichnung für eine Stätte zur Ermordung geistig und körperlich behinderter Kinder. In dieser Station wurden die Kinder einige Zeit beobachtet und dann unter dem Gesichtspunkt, ob "bildungsfähig" oder nicht, begutachtet. Die Gutachten wurden an den "Reichsauschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten Leiden" in Berlin geschickt und dort anschließend mit einer "Behandlungsermächtigung" versehen, wenn das Kind zur Tötung vorgesehen war. Eine Verpflichtung dazu bestand aber nicht.

Die Tötungen selbst wurden in Lüneburg auf Veranlassung des Leiters der "Kinderfachabteilung" Willi Baumerts oder des Direktors der Heil- und Pflegeanstalt Max Bräuners mit Luminal oder – wenn dies nicht reichte – mit Morphium durchgeführt. Insgesamt starben in Lüneburg mindestens 418 Kinder-Patienten in den Jahren 1941–1945.

Die ab Oktober 1941 eingelieferten Kinder kamen vielfach nur wenige Monate nach ihrer Überführung um. Ewald Kuhlmann wurde jetzt von den Lüneburger Ärzten als völlig gleichgültig, teilnahmslos und "geistig tiefstehend" beurteilt. Am 21. Dezember 1943 setzten sie seinem Leben nach 13 Jahren ein trauriges Ende.

Stand: November 2016
© Klaus Möller

Quellen: Archiv der Rotenburger Werke der Inneren Mission, Akte Nr. 222; Archiv des Ev.-Luth. Kirchenkreises Hamburg-Ost; Stadtarchiv Lüneburg; Niedersächsisches Landesarchiv HStAH. Hann. 155 Lüneburg Acc. 56/83 Nr. 302; Zuflucht unter dem Schatten Deiner Flügel? Die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission in den Jahren 1933–1945, Rotenburger Anstalten der Inneren Mission (Hrsg.), Rotenburg 1992; 100 Jahre Niedersächsisches Landeskrankenhaus Lüneburg, Niedersächsisches Landeskrankenhaus Lüneburg (Hrsg.), Lüneburg 2001; Carola Rudnik, Vielfalt achten, Teilhabe stärken. in: Alfred Fleßner, Uta George, Ingo Harms, Rolf Keller (Hrsg.), Forschungen zur Medizin im Nationalsozialismus, Göttingen 2014.

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