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Dr. Ernst Wulff * 1872

Beim Gesundbrunnen 14 (Hamburg-Mitte, Borgfelde)


HIER WOHNTE
DR. ERNST WULFF
JG. 1872
GEDEMÜTIGT / ENTRECHTET
FLUCHT IN DEN TOD
1.12.1938

Ernst Wulff, geb. 19.4.1872 in Hamburg, Suizid am 1.12.1938 in Hamburg

Beim Gesundbrunnen 14

Am 19. April 1872 kam in der Langenreihe 14 in St. Georg in der evangelisch-lutherischen Familie Wulff ein Junge zur Welt, der Ernst genannt wurde. Er hat nur wenige eigene Spuren hinterlassen. Umso vielfältiger sind die seiner Herkunftsfamilien.

Ernst war das einzige Kind des Kaufmanns Joachim Kiehn Wulff und dessen Ehefrau Bertha Julie, geb. Heynemann oder Heinemann, die sich schon vor seiner Geburt von der jüdischen Religion abgewandt hatten. Joachim Kiehn Wulff war am 25. Februar 1825 in Altona als Joachim Samuel Cohen zur Welt gekommen, sein älterer Bruder, Louis Cohen, am 30. Mai 1822. Ihre Familie war im Papierhandel wohlhabend geworden und für dessen Übernahme wurden die Brüder ausgebildet. Louis Cohen führte das Geschäft mit Sitz in Hamburg weiter, während Joachim Samuel Cohen beabsichtigte, eine Niederlassung in England zu gründen. Dort entfremdete er sich vom Judentum und nahm den christlichen Glauben an, ohne jedoch zu konvertieren. Als Grund dafür nannte er die nicht geklärte Namensfrage. Offenbar war er der Brüdergemeinde um John Nelson Darby begegnet, denn als er am Ende der 1840er Jahre aus familiären Gründen nach Altona zurückkehrte, schloss er sich der freien Deutschen Gemeinde an. Die Familie wohnte in Altona, betrieb ihr Geschäft aber in Hamburg. Da lag es nahe, die Hamburger Staatsangehörigkeit anzustreben. 1850 stellte Joachim Samuel Cohen den entsprechenden Antrag.

Inzwischen war durch die Verordnung vom 23. Februar 1849 die Namensfrage geklärt: Auch Juden hatten nun einen Vor- und vererblichen Nachnamen zu tragen, und Joachim Samuel Cohen wollte den formellen Glaubenswechsel vollziehen. In der nach dem Hamburger Brand von 1842 wiederhergestellten lutherischen St. Petri-Kirche erhielt er von dem freisinnigen Pastor Valentin Anton Noodt am 21. September 1850 die Taufe und zugleich den christlichen Namen Joachim Kiehn Wulff.

Joachim Kiehn Wulff hatte, wie sein Bruder Louis, ein erhebliches Vermögen geerbt, so dass er alle Voraussetzungen für die Aufnahme in den Hamburger Staatsverband erfüllt sah und noch 1850 den Antrag auf Einbürgerung an den Hamburger Senat stellte. Bereits am 16. Oktober 1850 erhielt er jedoch einen abschlägigen Bescheid mit der Begründung, seine Identität sei nicht zweifelsfrei nachgewiesen. Die Zweifel waren auch von Misstrauen gegen seine Neigung zu einer Freikirche begleitet. Zwar waren die Mitgliedschaft in der evangelisch-lutherischen Kirche und sein Vermögen entscheidende Voraussetzungen für den Erwerb der Hamburger Staatsangehörigkeit, aber sein Namenswechsel wurde zum Problem. Trotz aller Referenzen dauerte es bis zum 5. Oktober 1855, bis er den Hamburger Bürgerbrief erhielt. Sein Bruder Louis, der von der Altonaer zur Hamburger Deutsch-Israelitischen Gemeinde gewechselt war, erhielt das Hamburger Bürgerrecht im ersten Anlauf am 19. Mai 1854. Wie schon der Vater Samuel Meyer Cohen "Wulff" genannt wurde, ergänzte auch er seinen Namen mit Wulff. Die Papierhandlung L. C. Wulff, deren Teilhaber beide Brüder waren, hatte ihren Sitz Rödingsmarkt 13.

Joachim Kiehn Wulff war 44 Jahre alt, als er am 10. Juni 1869 vor dem Civilstandsamt die Ehe mit der 20 Jahre alten Bertha Julie Heinemann schloss. Das ging nicht ohne besondere Begleitumstände ab, weil die Braut unehelich geboren, von ihrem Stiefvater nicht adoptiert worden und überdies noch nicht volljährig war. Bertha Julie Heinemann (oder Heynemann) war die Tochter von Adele Heynemann, die am 21. Januar 1823 als Tochter des Kaufmanns David Leffmann Heynemann aus Odense/Dänemark und seiner Ehefrau Jette del Banco in Hamburg zur Welt gekommen war. Sie hatte sich vom Judentum abgewandt und betrachtete sich als konfessionslos. Ihre Tochter Bertha Julie hatte sie am 12. November 1848 in Potsdam zur Welt gebracht und sie in der Garnisonskirchengemeinde zu Potsdam taufen lassen.

David Leffmann Heynemann, Adele Heynemanns Vater, gründete um 1850 offenbar mit dem naturalisierten Briten Morris Pick in San Francisco in Kalifornien das Handelshaus Heynemann, Pick & Co. Adele Heynemann heiratete am 21. April 1853 in Manchester Morris Pick, geboren als Marcus Joachim Levi Pick am 28. November 1819 in Studnic in Böhmen. Ein Reisepassantrag Morris Picks lässt den Schluss zu, dass Bertha Julie bei ihrer Mutter lebte und mit ihrer Mutter und dem Stiefvater nach San Francisco reiste. Nach ihrer Rückkehr nach Hamburg brachte Adele Pick am 5. Februar 1861 einen Sohn zur Welt, Leopold. Da Morris Pick inzwischen US-amerikanischer Staatbürger geworden war, wurde Leopolds Geburt im Hamburger Konsulat der Vereinigten Staaten von Amerika registriert. Morris Pick starb am 20. Januar 1863 in San Francisco, während Adele mit ihren Kindern in Hamburg geblieben war und in der Lohmühlenstraße 54 in St. Georg eine Wohnung bezog.

Ebenfalls in St. Georg, Lange Reihe 14, betrieben die Brüder Louis und Joachim Wulff ihr Geschäft. Louis heiratete Henriette, geb. Cohen, genannt Jenny. Ihr erstes Kind, Albert Siegfried, wurde am 28. Juni 1866 geboren, ihre Tochter Olga Rosa acht Jahre später. Die Familie wohnte in Harvestehude. Nach ihrer Heirat lebten Joachim und Bertha Wulff in der Langen Reihe 14 bei dem brüderlichen Geschäft. Es dauerte beinahe drei Jahre, bis ihr erstes Kind geboren wurde, der Sohn Ernst (geb. 19. April 1872). Er blieb ihr einziges Kind.

Die Cousins Ernst und Albert Wulff studierten und schlossen ihr Studium mit der Promotion ab, der ältere mit dem Dr. jur., Ernst Wulff das Chemiestudium mit dem Dr. phil., erst später wurde der Dr. rer. nat. eingeführt. Von Albert Wulffs Dissertation ist bekannt, dass er sie 1891 in Breslau vorlegte, auf die von Ernst Wulff fanden sich keine Hinweise. Ernst Wulff wurde Textil-Chemiker, arbeitete als Angestellter und blieb ledig, Albert Wulff wurde selbstständig tätiger Rechtsanwalt, gründete eine Familie und hatte vier Kinder.

Um 1890 zogen Joachim und Bertha Wulff ins Grindelviertel/Rotherbaum und wohnten Rutschbahn 37. 1902 war auch Ernst Wulff, als bereits promovierter Chemiker, dort gemeldet, hatte aber eine zweite Adresse an seinem Arbeitsplatz, der J.H.C. Karstadt Chemische Reinigung und Färberei in Billwärder an der Bille 35 c. (s. Stolpersteine in Hamburg-Billstedt, Theodor und Clara Tuch, S. 51–57). Dort war er bis zum Vorabend seines Todes als Qualitäts- und Verfahrenskontrolleur tätig.

Im Alter von fast 80 Jahren starb am 9. April 1904 Ernst Wulffs Vater Joachim Kiehn, am 12. Dezember 1906 folgte ihm, 84-jährig, sein Onkel Louis Cohen Wulff und am 14. September 1907 seine Großmutter Adele Pick, ebenfalls 84 Jahre alt, als letzte der Großeltern. Sie wohnte am Ende ihres Lebens bei ihrem Sohn Leopold in der Ackermannstraße 18/20 in Hohenfelde, wo er einen Zigarren- und Weinhandel betrieb. Ernst Wulff zog mit seiner Mutter Bertha Julie 1912 in den Grindelhof 62, wo sie am 8. Dezember 1913 starb. Ihre Begräbnisstätten sind nicht bekannt. Als letzte der Elterngeneration starb am 8. September 1922 Henriette/Jenny Wulff in der Obhut ihrer Köchin Minna Küntzel in ihrer Wohnung Klosterstern 5.

Ernst Wulff verließ das Grindelviertel noch während des Ersten Weltkriegs und zog nach Hamburg-Borgfelde in eine Mietswohnung, Beim Gesundbrunnen 14, 1. Etage. Für die Führung seines Haushalts stellte er Frieda Jettmann, geb. 20. September 1881 in Alten-Hagen, ein. Dort lebte er 25 Jahre lang.

Erstmals beantragte Ernst Wulff 1917 einen Reisepass, gültig für ein Jahr im Inland, ohne Begleitung. Aus der Personenbeschreibung geht hervor, dass er von mittlerer Statur war, braune Augen und dunkelbraune, melierte Haare – er war 45 Jahre alt – und ein längliches Gesicht hatte. Als unveränderliches Merkmal wurde eine Narbe am rechten Handgelenk vermerkt. Nach Ablauf der Gültigkeit dieses Passes erwarb er 1918 einen neuen mit den gleichen Angaben. Erst im Juni 1922 erhielt er wieder einen Reisepass, dieses Mal für das In- und Ausland. Der folgende Pass hatte schon eine Gültigkeit von zwei Jahren, verlängert bis 1928, worin als Ziel konkret Holland angeführt war; der folgende und letzte war bis zum 28. Mai 1934 für das Ausland gültig. Wofür Ernst Wulff die Pässe nutzte, lässt sich nicht feststellen.

In diese Jahre fallen Familienfeste. 1927 vertrat Ernst Wulff als Zeuge bei der Heirat seines Onkels Leopold Pick seine Familie. Am 31. März des Jahres heiratete Leopold Pick im Alter von 66 Jahren offenbar erstmals die 22 Jahre jüngere Ella Johanna Marie, geb. Müller, geb. 25. April 1883 in Stapel, Kreis Bleckede, eine Nicht-Jüdin. Nach zwei Scheidungen war dies ihre dritte Ehe, die bis zum Tod Leopold Picks im Jahr 1941 Bestand hatte.

Obwohl die Eigentümer der Firma J.H.C. Karstadt als Juden galten, wirkte sich der Machtwechsel 1933 nicht gleich auf das Unternehmensgeschehen aus. Selbst als der Boykott durch Großkunden den Betrieb zu Einschränkungen zwang, war Ernst Wulffs Tätigkeit davon nicht betroffen. Ihn wie seine Arbeitgeber betrafen jedoch die Nürnberger Rassegesetze vom September 1935, die sie zu Juden, wenn auch unterschiedlichen Grades, machten, unabhängig von ihrer Konfessions- oder Religionszugehörigkeit. Von Ernst Wulffs Großeltern waren drei jüdisch, evtl. sogar alle vier. Damit galt er definitiv als Jude. Mit diesen Gesetzen wurde außerdem der Straftatbestand der "Rassenschande" geschaffen, der auch Dienstverhältnisse betreffen konnte. Ernst Wulffs Haushälterin, eine "Arierin", war älter als 45 Jahre und fiel damit nicht unter das Anstellungsverbot in einem jüdischen Haushalt. Am 19. April 1938 beging Ernst Wulff seinen 66. Geburtstag.

Das Jahr 1938 brachte weitere Verordnungen, die auch Ernst Wulff trotz seiner Zugehörigkeit zur evangelisch-lutherischen Kirche betrafen. Bis zum Jahresende war eine Kennkarte mit eingestempeltem J zu beantragen, ab Januar 1939 sollte er den zusätzlichen Vornamen "Israel" tragen und beim Standesamt anzeigen. Ernst Wulff entschloss sich, sich diesen Maßnahmen zu entziehen, zumal der Ernst der Lage am 9./10. November 1938 durch das Pogrom unübersehbar geworden war: einer der drei Gesellschafter der Firma, Otto-Erich Blumenfeld, wurde im KZ Sachsenhausen inhaftiert, ohne dass seine Entlassung abzusehen war. Dienstag, den 29. November 1938 machte Ernst Wulff, zu seinem letzten Arbeitstag.

Ernst Wulff bereitete seinen Selbstmord sorgfältig vor und regelte sämtliche privaten Angelegenheiten. Er benannte Kaufmann Reinhold Reschke als Testamentsvollstrecker, setzte seine Haushälterin als Alleinerbin ein, wählte Wilhelm Harbeck & Sohn, Beim Strohhause 85, als Beerdigungsunternehmer und bezahlte seinen Sarg. Dann kündigte er seine Wohnung bei Louis Borgstede, dem Eigentümer, zum 1. März 1939 und besorgte sich Salzsäure und Cyankali. Er plante sein Vorhaben unter Berücksichtigung der Werktage. Der 1. Dezember 1938 war ein Donnerstag.

Für seine Haushälterin verfasste er einen Abschiedsbrief. Er legte auch einen zweiten, in dem er sein Vorgehen erläuterte, für die Polizei bereit, und schrieb den Distriktsarzt, Dr. H. Meier, Horner Landstraße 210, an. Der möge nach Erhalt des Briefes umgehend zu seiner Wohnung kommen, um den Totenschein auszustellen. Der Arzt informierte das Polizeirevier, woraufhin sich zwei Hauptwachtmeister ebenfalls zu Ernst Wulffs Wohnung begaben. Sie fanden Ernst Wulff tot vor, offenbar bereits in der Nacht vom 30. November auf den 1. Dezember 1938 durch die Einnahme von Salzsäure und Cyankali gestorben. Ein Kriminalbeamter wurde herbeigerufen und übernahm die weiteren Vorgänge. Ernst Wulffs Leiche wurde offenbar in die Leichenhalle des Beerdigungsunternehmers in der Wallstraße transportiert, die Abschiedsbriefe stellte Kriminalsekretär Schröder für die Lernmittelsammlung der Kriminalpolizei sicher.

Eine letzte Befragung von Frieda Jettmann ergab: "Dr. Wulff war in den letzten Monaten sehr gedrückt und niedergeschlagen und trug sich mit Selbstmordgedanken. … Auch sollte er jetzt den Vornamen ‚Israel’ annehmen, wogegen er sich sträubte. Er wollte ausschlafen und sagte, vielleicht sterbe er noch diese Nacht. Ich redete es ihm aus. Er hat keine Angehörigen mehr."

Diese letzte Aussage war insofern unzutreffend, als der Cousin Albert Wulff noch nicht emigriert war und in Berlin noch die Cousine Olga lebte. Sie nahm sich dort am 10. September 1942 das Leben.

Epilog

2016 fragte Ulrich Bauche, Neffe Theodor Tuchs (Inhabers der Firma J.H.C. Karstadt), René Blumenfeld, den Sohn Otto-Erich Blumenfelds, nach Ernst Wulff. René Blumenfeld erinnerte sich, dass ein Chemiker der Firma Selbstmord begangen habe, "aber das war kein Jude".

Stand: September 2017
© Hildegard Thevs

Quellen: 1, 4, 5, AB; StaH 331-5 Unnatürliche Todesfälle, 3 Akten Nr. 1805/1938 (Ernst Wulff); 332-3 Zivilstandsämter, A 128 Nr. 2335/1872 (Geburt Ernst Wulff); B 26 Nr. 1164/1869 (Heirat Joachim u. Bertha Wulff); 332-5 Standesämter, 1093/223/1938 (StA 22) (Tod Ernst Wulff), 6656/108/1927 (StA 21) (Heirat Leopold Pick), 6873/825/1907 (StA 21) (Tod Adele Pick), 7247/1018/1941 (StA 6) (Tod Leopold Pick), 7985/475/1906 (StA 3) (Tod Louis Wulff), 8016/551/1913 (StA 3) (Tod Bertha Wulff), 8069/563/1922 (StA 3) (Tod Henriette/Jenny Wulff), 8566/344/1894 (StA 3) (Heirat Albert u. Clara Wulff), 8639/207/1905 (StA 3) (Heirat Olga u. Martin Rosenthal); 332-7 Melderegister (Rosenthal, Wulff); 332-7 Bürgerrechtserwerb, B I a, 1854, Nr. 52 (Louis Cohen Wulff); B I a, 1855, Nr. 1160 (Joachim Kiehn Wulff; darin das Taufzeugnis); B III a, Nr. 28581 (Leopold Pick); 332-8 Reisepässe, A 24, Bände 155/11879, 178/19833, 269/13240, 292/23440, 373/7831, 398 (Register); 351-11 AfW, 1094 (Albert Wulff); Renate Hauschild-Thiessen, Die ersten Hamburger im Goldland Californien, Hamburg 1969, S. 89; https://de.wikipedia.org/wiki/Valentin_Anton_Noodt
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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