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Bereits verlegte Stolpersteine



v.l.: Clara Böhm, Ditha und Ruth Weigert
© Privatbesitz

Ruth Weigert (geborene Hamburger) * 1906

Abendrothsweg 19 (Hamburg-Nord, Hoheluft-Ost)

1942 Auschwitz

Weitere Stolpersteine in Abendrothsweg 19:
Edith Behrend, Clara Zipora Böhm, Dora Guttentag, Marianne Lehmann, Elise Wiesenthal, Ruth Wolfsohn, Werner Wolfsohn, Clara Wolfsohn

Ruth Rosalie Weigert, geb. Hamburger, geb. 11.11.1906 in Görlitz, gestorben durch Suizid im Juli 1942

Abendrothsweg 19

Ruth Hamburger stammte aus dem schlesischen Görlitz. Ihr Vater, Ernst Hamburger, war dort Mitinhaber eines bedeutenden Industrieunternehmens, der Maschinenfabrik Wagner & Hamburger. Er starb, als Ruth noch ein Kind war. Ihr älterer Bruder Fritz fiel im Ersten Weltkrieg. Ruth wuchs mit dessen nur wenige Jahre jüngeren Tochter Eva auf, deren Mutter keine Jüdin war. Ruths zweiter Bruder, Rudolph (Rudi), heiratete später eine "arische" Görlitzerin.

Ruths und Rudis Mutter, Clara Zipora, geborene Meyer, heiratete nach dem Krieg den Münchner Kunstmaler Paul Böhm, dessen erwachsene Söhne in Görlitz Aufsehen erregten, weil sie dort "über ihre Verhältnisse lebten". Diese zweite Ehe wurde bald wieder geschieden, wobei Clara den Namen Böhm aber nicht ablegte. 1930 erwarb sie in Fürstenberg/Mecklenburg eine Villa und zog mit Tochter Ruth und Enkelin Eva dorthin. Sie richtete die Pension "Haus in der Sonne" ein, die in erster Linie von jüdischer Kundschaft frequentiert wurde. Ruth arbeitete nun als Säuglingsschwester bei einem Arzt.

Jüdinnen und Juden gab es in Fürstenberg außer Clara, Ruth, Eva, einer greisen, ehemaligen Klavierlehrerin und den Pensionsgästen nicht mehr. Die alte Gemeinde hatte schon 1914 aufgehört zu existieren, weil ihre Mitglieder nach und nach ins nahe Berlin gezogen oder ausgewandert waren.

Ruth Hamburger hatte im Herbst 1931 einen von seinen Eltern verlassenen Säugling als Pflegekind zu sich genommen. Dieses Kind, heute Edith Drenckhan, lebt in Hamburg. Ihr und der Nichte Eva verdanken wir die wichtigsten Nachrichten über Ruth Hamburger.

Die Verhältnisse änderten sich 1933, aber erst nach Verkündung der Nürnberger Gesetze erfasste eine "große antisemitische Welle" Fürstenberg. SA und andere NS-Organisationen zogen jede Woche, mitunter mehrfach, aggressive NS-Lieder singend, an der Pension vorbei.

Schlimmer noch war, dass Ruth nach vier innigen Jahren ihr "arisches" Pflegekind "Ditha" abgeben sollte. Sie ließ es sich aber nicht einfach fortnehmen, sondern suchte über ein Inserat in der Zeitschrift "Daheim" nach bestmöglichen Adoptiveltern. "Von all den vielen Briefen, die ich ... bekam, gefiel mir der Ihrige am allerbesten", schrieb sie am 24. November 1935 dem Diplomingenieur Erich Heinemann in Altona-Groß Flottbek. Und weiter: "... nach vierjähriger Pflege, in der ich versuchte, ihr meine ganze mütterliche Liebe u. Verständnis für die Kindesseele zu geben ... Gestern mußte ich das Kind abgeben, da ich nicht arisch bin ..." Ruth hatte offenbar eine gute Wahl getroffen, denn Erich Heinemann antwortete umgehend: "Ihnen selbst wird es sehr schmerzlich sein, sich von dem Kinde trennen zu müssen. Seien Sie meines verstehenden Mitfühlens versichert." Seine Frau, die auf Reisen war, hatte sich noch nicht äußern können, deshalb fügte er an: "Ich schreibe sofort ..., denn ich lege Wert darauf, einer ‚Beschlagnahme’ des Kindes von anderer Seite zuvorzukommen. Nach dem Vertrauensbeweis, als den ich Ihren Brief auffassen darf, tue ich wohl kaum eine Fehlbitte, wenn ich für meine Frau und mich um eine gewisse Bevorzugung bitte." Aus Ditha wurde Edith Heinemann, die später Werner Drenckhan heiratete und heute die kostbaren Briefe hütet, aus denen wir zitieren durften.

Die Schrecken des Jahres 1935 endeten nicht. Als 1938 im Ortsteil Ra­vens­brück der Bau des Frauen-KZ begann, zwanzig Minuten zu Fuß vom "Haus in der Sonne", verkündete Bürgermeister Hans Krieg in der Fürstenberger Ratssitzung zum Thema Fremdenverkehr: "Allerdings ohne Juden! … unsere ganze Arbeit … nach der Machtübernahme (war) umsonst … wenn die Juden aus Fürstenberg nicht fernbleiben. Sind wir erst als Judenbad richtig bekannt, so sind wir unpopulär und wirtschaften ab. … Zeit, dass sich alle Einwohner … die dann einsetzende Katastrophe vor Augen führen." Clara Böhm blieb nichts anderes übrig, als die Pension zu verkaufen. Sie kümmerte sich auch intensiv um eine Ausreise nach Amerika. Am 11. November, Ruths 32. Geburtstag, stürmten SA-Männer die Villa und vieles ging zu Bruch. Als der Mob sich die Möbel vorzunehmen begann, wurde er mit dem Hinweis gestoppt, das Haus sei inzwischen doch "arisiert" worden, und das Unglaubliche geschah: Die Stadt ließ die Schäden beseitigen und trug die Kosten.

Im Januar 1939 folgte die Flucht nach Hamburg, wohin sich Ruths Bruder Rudi bereits 1933 begeben hatte. Im Mai 1939 wurden Clara und Eva im Abendrothsweg 19 im 1. Stock links von der Volkszählung erfasst; 1940 haben wir dort auch eine sichere Spur von Ruth: Die Jüdische Gemeinde hielt fest, Ruth habe inzwischen Ernst Weigert geheiratet und wohne "bei Böhm", also bei ihrer Mutter. Edith Drenckhan erinnert sich, ihre Pflegemutter dort 1940 oder 1941 ein letztes Mal besucht zu haben. Unter Ernst Weigerts Namen findet sich das Kürzel "jüd", hinter Ruths Namen steht "gt", gottgläubig. Die Nichte Eva hat später berichtet, es sei dem Ehemann noch gelungen, nach Amerika auszureisen.

Görlitzer Zeitzeugen meinten, damals gehört zu haben, dass den Frauen eine Ausreise in die Schweiz gelungen sei. Tatsächlich wurden sie an der Grenze gefasst und zurückgeschickt.

Ruths Name stand auf zwei Deportationslisten, zunächst auf der vom 6. Dezember 1941 (Riga), als sie in die Schweiz zu fliehen versuchte. Später finden wir ihren Namen auf der Liste derer wieder, die am 11. Juli 1942 nach Auschwitz gebracht werden sollten. Die Gemeinde hat auf der Karteikarte dementsprechend vermerkt "11/7 42 Abwanderung". Zuvor saß sie im KZ Fuhlsbüttel als "Schutzhäftling" ein. 1942 leitete ein Gerichtsvollzieher die Versteigerung der armseligen Hinterlassenschaft ein.

Die Versteigerung fand erst im März 1943 statt. Es ging um fünf Koffer mit abgetragener Kleidung und Flicken, Aluminiumtöpfen, ein paar Büchern, einem Damenring, einer Herrenuhr usw. Der Hamburger Oberfinanzkasse wurden 112 RM als Erlös überwiesen.

Während Eva und Rudi die Verfolgungszeit überlebten, wurde Clara Böhm deportiert und ermordet. Eva wanderte in den 1950er Jahren nach Kanada aus und heiratete dort den Engländer Foley. Rudi blieb in Hamburg.

© Dietrich Rauchenberger

Quellen: 1; 5; StaH 214-1 Gerichtsvollzieherwesen 696; 332-8 Meldewesen A 51 (Weigert, Ruth, Hamburger Ruth); StaH 522-1 Jüd. Gemeinden, 992e 1 Bände 3 und 4; Ratsarchiv Görlitz (Andrea Kern), Zeitzeugenbericht A. u. S. Krause, März 1977; Drenckhan, Ditha, Bericht vom 8.7.2010 und privates Archiv; Foley, Eva, Brief an Dr. Annette Leo, Berlin, vom 23.8.1999; Foley, Eva, Interview vom 3.7.1999, FZH-WdE 58; Stegemann, Ruth Hamburger, 2007; Stegemann, Eine Kindheit, 2006.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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