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Bereits verlegte Stolpersteine



Alfred Rahnert, 1940
© Evangelische Stiftung Alsterdorf

Alfred Rahnert * 1938

Eißendorfer Pferdeweg 12 (Harburg, Heimfeld)


HIER WOHNTE
ALFRED RAHNERT
JG. 1938
EINGEWIESEN 1940
ALSTERDORFER ANSTALTEN
´VERLEGT‘ 7.8.1943
´HEILANSTALT`
KALMENHOF/IDSTEIN
´KINDERFACHABTEILUNG‘
ERMORDET 1.9.1943

Weitere Stolpersteine in Eißendorfer Pferdeweg 12:
Peter Harms, Uwe Anton Hinsch, Ewald Kuhlmann, Walter Carl Stein, Herbert Thörl

Alfred Rahnert, geb. am 13.4.1938 in Harburg, eingewiesen in die Alsterdorfer Anstalten, verlegt in die "Heil- und Pflegeanstalt Idstein", dort ermordet am 1.9.1943

Stadtteil Heimfeld, Eißendorfer Pferdeweg 12

Bereits die Geburt Alfred Rahnerts im Städtischen Krankenhaus Hamburg-Harburg stand unter keinem guten Stern. Seine Mutter, eine Arbeiterin, starb kurz nach der Geburt. Der Vater wollte nach der Entbindung nichts mehr von seinem unehelichen Kind wissen. Er arbeitete bei der Stadtreinigung und mühte sich, vier eheliche Kinder zu versorgen. Wiederholt hatte er unter Lähmungen gelitten und sich in der "Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg" einer Therapie unterzogen. Insofern galt der kleine Alfred als erblich vorbelastet.

Nachdem der Säugling die ersten kritischen Wochen im Krankenhaus leidlich überstanden hatte, wurde er auf Anordnung der Jugendbehörde dem Städtischen Kinderheim am Eißendorfer Pferdeweg zur weiteren Betreuung übergeben. Dort wuchs das Baby in fürsorglicher Umgebung auf. Bei den jährlichen Untersuchungen stellte der Amtsarzt im November 1939 fest, dass Alfred Rahnert sich nur langsam entwickelte. Er konnte weder sitzen noch sprechen, musste gefüttert werden und war kaum ansprechbar. Dennoch sah der Gutachter keinen Grund zur Sorge und empfahl, das Kind im Heim zu belassen, da es z. Zt. keine "groben Schwierigkeiten" bereitete.

Doch sieben Monate später spitzte sich die Situation dramatisch zu, als der Junge erneut untersucht wurde, während die nationalsozialistische Politik der Vernichtung kranker und behinderter Menschen in sechs Tötungszentren mit Gaskammern einem ersten Höhepunkt entgegen strebte. Die Diagnose führte diesmal zu dem Ergebnis, dass der Junge im Harburger Säuglings- und Kinderheim Eißendorfer Pferdeweg "seiner Unterwertigkeit wegen ... nicht tragbar sei." Das war nicht die Sprache eines Mediziners, sondern eines fanatischen Vertreters der nationalsozialistischen Rassenlehre. Diese Diagnose kam unter den damaligen Umständen einem Todesurteil für den kleinen Jungen gleich. Damit begann ein leidvoller Weg.

Am 22. Juli 1940 wurde Alfred Rahnert den damaligen Alsterdorfer Anstalten zur weiteren Betreuung übergeben. Die medizinische Eingangsuntersuchung ergab, dass der neue Patient unter "Debilität" litt. Ein Jahr später waren keine nennenswerten Veränderungen seines Gesundheitszustandes zu erkennen. In einem Bericht über seine Führung und seine Gesundheit hieß es im Oktober 1941: "Diagnose: Imbezillität. Pat. ist körperlich sehr zart, weint viel und ist unruhig. In der Körperpflege muss er vollkommen besorgt werden. Beschäftigt sich kaum. Er kann nicht gehen und nicht stehen. Der Gesundheitszustand ist zufriedenstellend. Weiterer Anstaltsaufenthalt ist erforderlich." Der nächste Bericht im Oktober 1942 klang noch pessimistischer und endete mit der Feststellung, der Junge könne sich gar nicht beschäftigen und ein weiterer (dauernder) Anstaltsaufenthalt sei erforderlich. Das bedeutete, dass Alfred Rahnert als bildungsunfähig eingestuft wurde.

Am 7. August 1943 gehörte Alfred Rahnert zu den 52 Jungen, die im Zuge der Teilräumung der damaligen Alsterdorfer Anstalten über den Güterbahnhof Langenhorn in die "Heil- und Pflegeanstalt Kalmenhof" in Idstein im Taunus transportiert wurden. In die Krankenakte wurde die Bemerkung eingetragen: "Verlegt, da die Alsterdorfer Anstalten zerstört sind." Pastor Friedrich Lensch begleitete die Teilnehmer dieses Transports, bis sie in Langenhorn in den Zug stiegen. Wenige Tage später berichtete er darüber seinem Kollegen Pastor Friedrich von Bodelschwingh: "Bei dem Transport, den ich eine Strecke begleitete, sang ein kleines Dummerchen hinter mir während der halbstündigen Fahrt ununterbrochen ‚Jesu geh voran‘. Das hat mich getröstet und mir die Hoffnung gegeben, dass sie auch anderswo nicht von Gottes Liebe verlassen sind, möchte sie nur auch von uns Zurückgebliebenen nicht weichen."

Die im Jahre 1888 von wohlhabenden Frankfurter und Wiesbadener Bürgern auf dem "Gut Kalmenhof" gegründete "Idiotenanstalt Idstein" war in den Jahren des Zweiten Weltkriegs tief in das nationalsozialistische "Euthanasie"-Programm verstrickt. Mit den Anstalten Herborn, Weilmünster, Eichberg und Scheuern bildete sie einen Kranz von Zwischenanstalten um die Tötungsanlage in Hadamar. Von hier aus waren schon in der ersten Phase der Krankenmorde 232 Stammpatienten und eine unbestimmte Zahl von "Durchgangspatienten" nach Hadamar in den Tod geschickt worden. Nach dem offiziellen Stopp der "Aktion T4" im August 1941 hatten der Anstaltsdirektor Wilhelm Großmann und die Leiterin der neu errichteten "Kinderfachabteilung" Mathilde Weber keine Skrupel, das Mordprogramm in anderer Form fortzuführen. Fast täglich selektierten sie auf ihren Rundgängen ihre Patienten. Die ausgesonderten Kinder und Erwachsenen wurden dann mit einer Morphium/Skopolamin-Spritze oder mit Luminal getötet. Insgesamt fanden von 1940 bis zum Kriegsende 666 Menschen in Idstein den Tod.

Die Tötungen der Kinder aus Alsterdorf begannen wenige Tage nach ihrer Ankunft. Am 11. November 1943 waren bereits 48 der 52 Kinder "abgespritzt". Alfred Rahnert wurde am 1. September 1943 im Alter von fünf Jahren ermordet. Die Toten wurden in den letzten Kriegsjahren nicht mehr auf dem städtischen Friedhof beigesetzt, sondern auf einem Acker hinter dem Krankenhaus, um die Bevölkerung nicht unnötig zu beunruhigen.

Die Verlegung des Stolpersteins für Alfred Rahnert geht auf eine Initiative der beiden Schülerinnen Katja Ambos und Astrid Kleinwächter (Heisenberg-Gymnasium) zurück, die seinen Lebensweg in einer eindrucksvollen Dokumentation nachgezeichnet haben, die später mit dem BERTINI-Preis 2005 ausgezeichnet wurde.

© Klaus Möller

Quellen: Gedenkbuch der evangelischen Stiftung Alsterdorf; Archiv der evangelischen Stiftung Alsterdorf, Krankenakte Alfred Rahnerts (V78); Wunder u. a., Kein Halten, 2. Auflage; Ambos/Kleinwächter, "Seiner Unterwertigkeit wegen".

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