Namen, Orte und Biografien suchen


Bereits verlegte Stolpersteine



Betty Holstein * 1884

Eichenstraße 22 (Eimsbüttel, Eimsbüttel)


HIER WOHNTE
BETTY HOLSTEIN
JG. 1884
DEPORTIERT 1941
LODZ
1942 CHELMNO
???

Siehe auch:

Weitere Stolpersteine in Eichenstraße 22:
Ellen Kämpfer, Channa Wiener, Jacob Wiener

Betty Holstein, geb. am 17.6.1884 in Hamburg, deportiert nach Lodz am 25.10.1941, am 10.5.1942 nach Chelmno deportiert und ermordet
Ellen Kämpfer, geb. Holstein, geb. am 11.1.1894 in Hamburg, deportiert nach Lodz am 25.10.1941, am 10.5.1942 nach Chelmno deportiert und ermordet

Eichenstraße 22

"Meine Mutter, Elfriede Thunsdorff-Mollenhauer (1902–1994), bekam zu der Zeit als die Juden von den Nationalsozialisten in die Konzentrationslager verschleppt wurden von einer guten Freundin ein Paket – ca. 30x20x15 cm groß – übergeben. Auf der Rückseite des Paketes ist in der Schrift meiner Mutter der Name der Freundin vermerkt: Ellen Kämpfer. Auf dem groben Packpapier sind ein ,Expressgut‘-Aufkleber mit der ,Nr. 1979 von München Hbf 3‘, sowie ein zweiter Aufkleber mit dem handschriftlichen Vermerk ,Über Lüneburg‘ geklebt. Ellen Kämpfer hat zum Einpacken vermutlich ein altes Packpapier verwendet, denn sie hatte – wie wir jetzt wissen – eine ältere Schwester, die in München lebte. Ellen Kämpfer hatte meine Mutter kurz vor ihrer Deportation in das ,Arbeitslager‘ gebeten, das Paket mit persönlichen Dingen für sie aufzubewahren. Ich glaube, dass meine Mutter damals schon wusste, dass sie ihre Freundin wohl nie wiedersehen würde, aber die Hoffnung ist eine starke Kraft, die erst zu allerletzt erlischt." Mit diesen Zeilen beginnt ein Text von Peter Thunsdorff auf seiner Website. Den Namen Ellen Kämpfer lesen wir auch auf einem Stolperstein in der Eichenstraße 22. Welche Lebensgeschichte gehört zu diesem Namen und dem Namen Betty Holstein auf einem weiteren Stein an dieser Adresse?

Betty Holstein und Ellen Kämpfer waren Schwestern. Ihre Eltern hießen Ferdinand und Johanna (Hana) Holstein, geb. Delmonte, sie hatten 1883 geheiratet. Hana Delmonte stammte aus einer sephardischen Familie. Ihre Mutter Simcha war eine geborene Sealtiel. Ferdinand Holstein hatte eine Agentur für Herrenkonfektion. Als Betty geboren wurde, wohnte die Familie in der Bellealliancestraße 2. Knapp zehn Jahre später, als ihre Schwester Ellen Johanna geboren wurde, lebte sie in der Fruchtallee 33. Wahrscheinlich ist die Familie oft umgezogen. Zur Familie gehörten insgesamt vier Kinder, drei Töchter und ein Sohn. Im Oktober 1885 wurde die Tochter Selma Zimcha und im Dezember 1886 der Sohn Leo Martin geboren. Zu diesem Zeitpunkt war als Adresse die Kampstraße 38 vermerkt. Als die Kinder schon erwachsen waren, lebten die Eltern mit den Töchtern in der Bismarckstraße 14. Die Mutter Johanna Holstein wurde fast 91 Jahre alt. Sie starb im Februar 1941 im Altenhaus in der Sedanstraße 23. Die Deportation der beiden Töchter erlebte sie nicht mehr.

Die letzte Adresse der Schwestern in Hamburg war die Eichenstraße 22 im oberen Erdgeschoss, wo beide wohl seit 1936 zusammen lebten. Vorher hatte Betty Holstein in der Bismarckstraße 14 bei ihrer Mutter gewohnt, gemeinsam mit der verheirateten Schwester Selma und deren Mann und Sohn. Betty und Ellen hatten bei der Firma Coutinho, Caro & Co. KG als Kontoristinnen bzw. Buchhalterinnen gearbeitet, die ihren Sitz in der Bugenhagenstraße 6 hatte und Metalle exportierte.

Die Schwestern erhielten den Deportationsbefehl für den Transport am 25. Oktober 1941 ins Getto Lodz. Auch dort war Betty weiter als Buchhalterin registriert.

In der Liste für den Hamburger Transport war in Lodz als Adresse die Rungestraße eingetragen. Erhalten ist ein Schreiben vom 2. Mai 1942, in dem Betty Holstein, die zu der Zeit die Adresse Richterstraße 9, Wohnung 11 hatte, um die Rückstellung eines "Ausreisebefehls" bat. Sie begründete diese Bitte mit ihrer Erfahrung im Gartenbau. Da eine entsprechende Arbeitsstelle nicht nachgewiesen werden konnte, war der Beschluss der Kommission klar: Ablehnung. Es ist möglich, dass Betty Holstein mit dem Transport 4 am 7. Mai 1942 ins Vernichtungslager Chelmno gebracht und dort ermordet wurde. In der Meldekartei erscheint das "Ausreisedatum" 10. Mai 1942. Es kann aber sein, dass es einige Zeit dauerte, bis die Information über die "Ausreise" im Einwohnermeldeamt in Lodz eingetragen wurde. Auch diesen letzten Weg ging sie wohl zu­sammen mit ihrer Schwester.

Ellen hatte im August 1921 Johannes Kämpfer geheiratet, zu dem sie in die Süderquaistraße 11 nach St. Georg zog. Vorher hatte auch sie bei den Eltern in der Bismarckstraße 14 gewohnt. Johannes Kämpfer war nichtjüdisch und evangelisch. Vermutlich war seine Frau deshalb aus der Jüdischen Gemeinde ausgetreten bzw. ausgeschlossen worden. Die kinderlose Ehe wurde 1935 geschieden. Auf der Karteikarte der Gemeinde ist der 5. September 1938 als Datum des Wiedereintritts in die Gemeinde eingetragen. Kultussteuer konnte sie nach ihrem Wiedereintritt noch bis Anfang 1940 bezahlen, d. h. so lange verfügte sie über ein Einkommen. Danach musste sie ihre Beiträge einstellen. In der Karteikarte gibt es einen Vermerk "50,- p. Mt. Für Frühstück und Mittagessen" mit dem Datum 28. November 1940. Sie wurde zu dem Zeitpunkt von der Gemeinde unterstützt.

In Lodz wohnten beide Frauen zusammen in der Richterstraße 9, Wohnung 11. Auch Ellen schrieb wie ihre Schwester ein Gesuch gegen die "Ausreise-Aufforderung" III/498, in dem sie unter Hinweis auf die Tätigkeit der "Arbeitsgruppe Adolf Getz" um eine Ausnahme von der "Ausreise-Aufforderung" bat. Sie hatte nach ihren Angaben dort als kaufmännische Angestellte ausgeholfen und eine erkrankte Stenotypistin und Korrespondentin fünf Wochen lang Anfang 1942 vertreten. Zur Zeit ihres Gesuchs war sie angeblich als "Beamtin" vorgesehen. Das Gesuch wurde eigentlich genehmigt, denn es trug den Stempel "Nadkontyngent" (Überkontingent). Trotzdem erscheint im Melderegister die Eintragung, dass die "Ausreise" zum 10. Mai 1942 vollzogen wurde. Auch im Gedenkbuch des Bundesarchivs erscheint dieses Datum, so dass man annehmen kann, dass Ellen Kämpfer zwischen dem 7. Mai (Datum des vierten Mai-Transports, mit dem die meisten Hamburger nach Chelmno abtransportiert wurden) und dem 10. Mai (Datum des siebten Mai-Transports) das Getto verlassen musste. Wahrscheinlich war der Brief das letzte Lebenszeichen von ihr.

Kurz vor ihrer Deportation vertraute Ellen Kämpfer einer Freundin ein Paket mit persönlichen Dingen zur Aufbewahrung an. Diese Freundin Elfriede Thunsdorff-Mollenhauer behielt das Paket immer bei sich, obwohl sie oft umzog. Sie öffnete es nie. Erst sehr viel später, Anfang 2001, Jahre nach dem Tod Elfriede Thunsdorff-Mollenhauers, haben deren Kinder das Geheimnis gelüftet, die Geschichte des Pakets teilweise recherchiert und es dem Jüdischen Museum in Berlin übereignet, das die Exponate in verschiedenen Zusammenhängen gezeigt hat. Das Paket enthielt einige Habseligkeiten: Kleidungsstücke, Drogerieartikel, einen Abrechnungszettel und eine Photomappe. Die Photomappe stammte von der "Drogerie und Photohaus Erich Rotermund, Hamburg 19, Eppendorferweg 84". Dieses Geschäft – es war später eine Parfümerie – hat noch bis vor einigen Jahren an diesem Ort existiert. Der Sohn Peter Thunsdorff sagte in einem Interview: "Die Ellen Kämpfer hat sicher gewusst, dass das eine verlässliche Freundin ist, der sie das übergeben kann."

Da auf dem Paket ein "Expressgut"-Aufkleber aus München klebte, existiert wahrscheinlich ein Zusammenhang mit der Schwester Selma Zimcha, die 1918 den in München lebenden Handlungsgehilfen August Ludwig Baier geheiratet hatte. Vermutlich lebte Selma kurze Zeit in München, denn sie arbeitete bei der Münchner Firma Metzeler und Co. Vorwiegend wohnte sie aber mit ihrer Familie in Hamburg. Ihr Mann erwarb 1919 die hamburgische Staatsbürgerschaft. Bis 1922 versuchte er mit einem Export-Geschäft Fuß zu fassen. Das gelang nicht, und Selma Baier musste die Familie versorgen. Ihr 1919 geborener Sohn Ludwig war zeitweise aus gesundheitlichen Gründen im Glüsinger Lichtschulheim untergebracht, einer 1933 geschlossenen Reformschule. Selma betrieb in der Wohnung Bismarckstraße 14 ein Schreib- und Übersetzungsbüro, wo sie zum Beispiel Manuskripte von Doktoranden und Schriftstellern abtippte oder Geschäftsbriefe verfasste. Außen am Haus wies ein Blechschild auf dieses Büro hin. Im Adressbuch ist unter der Adresse Bismarckstraße 14 aber nur ihr Ehemann mit der Berufsbezeichnung Buchhalter eingetragen. 1939 lebte sie von ihrem Ehemann getrennt in der Goebenstraße 46 parterre. Im Mai 1939 emigrierte sie nach England, wo sie bis zu ihrem Tod 1957 lebte und beruflich tätig war. Die Auswanderung wurde vom Jüdischen Hilfsverein finanziert. Vermögen hatte Selma nicht. Im Februar 1939 hatte sie eine Liste mit den Sachen anlegen müssen, die sie mitnehmen wollte. Als sie schon in England war, bat sie ihre Schwester Betty, ihr ein paar vergessene Sachen nachzuschicken. Dafür musste Betty wieder bürokratische Mühsal auf sich nehmen, denn sie durfte nicht einfach ein Paket nach England packen. Im November 1942 wurde Selma in Hamburg in Abwesenheit schuldig geschieden nach § 49 Ehegesetz gemäß § 60 Abs. 1. Das bedeutet, dass ihr eine schwerwiegende Eheverfehlung in Kombination mit der Zerrüttung der Ehe vorgeworfen wurden. Ihre Emigration war also für den "arischen" Ehepartner ein Scheidungsgrund gewesen. Ihr Mann heiratete nach der Scheidung sofort wieder. Er starb 1953. Wir wissen nicht, was den Anstoß zur Emigration gab, denn Selma war 1939 schon über 50 Jahre alt und eine Emigration erforderte viel Mut. Ihre beiden Schwestern, die keine Familie hatten und eigentlich unabhängiger waren, hatte sie wohl nicht zur Emigration bewegen können. Selmas Sohn Ludwig hat wie seine Mutter überlebt. In den 1950er Jahren lebte er mit ihr in Birmingham.

Der einzige Bruder der Schwestern Holstein, Leo Martin, kam schon im Ersten Weltkrieg zu Tode und hat die Zeit der Verfolgung nicht mehr erlebt.

© Susanne Lohmeyer

Quellen: 1; 2 (FVg 4655; R1940/800); 4; 5; StaH 332-5 Standesämter, 8987 und 2362/1884; StaH 332-5, 8759 und 509/1921; StaH 332-5, 8724 und 229/1918; StaH 332-5, 8174 und 40/1941; StaH 332-5, 9101 und 149/1894; StaH 351-11 AfW, 8526; StaH 522-1 Jüdische Gemeinden 992e2 Band 3 Deportationsliste; USHMM 299/773 und 301/1474 (Last letters from Lodsch); HAB II 1926, 1932 und 1937; http://www.thunsdorff.eu/html/wider_das_vergessen.html; Beate Meyer, "Jüdische Mischlinge", S. 68ff.; Archiv Landgericht HH, 2R29/42; Archiv Jüdisches Museum Berlin, PR 051215, Interview Peter Thunsdorff, RBB-Kulturradio 2005; Deportationsliste Litzmannstadt, Gedenkstätte Lodz Radegast.

druckansicht  / Seitenanfang