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Bereits verlegte Stolpersteine



Ruth Neuhaus * 1918

Woldsenweg 5 (Hamburg-Nord, Eppendorf)

1941 Lodz
1944 weiterdeportiert

Weitere Stolpersteine in Woldsenweg 5:
Ella Davidsohn, Walter Davidsohn, Dr. Marie Anna Jonas, Dr. Alberto Jonas, Marie Therese Moser, Bernard Moser, Cloe Neuburger, Fritz Neuburger, Georg Peters

Ruth Neuhaus, geb. 25.10.1918 in Bebra, am 25.10.1941 nach Lodz deportiert, am 12.7.1944 nach Chelmno weiterdeportiert

Woldsenweg 5

Ruth Neuhaus war Tochter jüdischer Eltern. Der Vater, Isaak Neuhaus, war ein in Bebra und Umgebung angesehener Viehhändler. Die Mutter, Selma Neuhaus, geborene Lindau, stammte ebenfalls von dort. Bebra, im damaligen Hessen-Nassau gelegen, war zu Beginn der 1920er Jahre ein Dorf mit rund 2500 Einwohnenden, hatte aber mit mehr als 130 Mitgliedern eine beachtlich große und sehr lebendige jüdische Gemeinde. Zum Beispiel war es dem späteren Lehrer von Ruth, Männy Rosenbusch, gelungen, einen Literaturverein ins Leben zu rufen, dem 1925 siebzig Personen angehörten, und einen Synagogengesangsverein mit 28 Mitgliedern.

Selma Neuhaus starb, als Ruth sieben Jahre alt war. Es waren nun vier Kinder und eine Jugendliche ohne Mutter: Gerda (geb. 3.6.1906), Hugo (geb. 6.12.1912), die Zwillinge Frieda und Max (geb. 28.7.1914), Ruth war die Jüngste. Später heiratete der Vater erneut.

Der Viehhandel ermöglichte der großen Familie einen guten Lebensstandard. Aus den Steuererklärungen gehen als Einkommen für die Jahre 1930 bis 1932 (die Jahre der schweren Wirtschaftskrise!) hervor: 13000 RM; 15000 RM; 12000 RM. 1933 brach das Geschäft ein. Antisemitische Propaganda und Bedrohung von Kunden führten zu einem Absturz des Einkommens auf 3000 RM.

Die Eltern Neuhaus hatten die guten Jahre genutzt: Alle Kinder, mit Ausnahme von Ruth, hatten die Höhere Schule besucht. Ruth, bei der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 gerade 15 Jahre alt, war dies durch die NS-Diktatur unmöglich geworden; ein schwerer Schlag für sie. Denn Ruth, die nach Aussagen der Geschwister, von Mitschülerinnen und Lehrern eine blitz­gescheite Person gewesen sein muss, war von früh an leidenschaftlich an Fragen der Medizin interessiert und kannte nur ein Berufsziel: Sie wollte unbedingt studieren und Ärztin werden. Alle Bemühungen auf diesem Weg wurden vereitelt.

Die acht Jahre an der Jüdischen Schule in Bebra hatte Ruth Ostern 1933 abgeschlossen, nun aber war kein Weiterkommen: In Bebra gab es keine Höhere Schule, die Schulen in Roten­burg/Fulda und Hersfeld nahmen sie als Jüdin nicht auf. Dies entsprach der besonders rigorosen Linie der NS-Gauleitung Kurhessen. Hier war der Kasseler Anwalt Roland Freisler, der spätere Präsident des Volksgerichtshofs, seit 1925 Stellvertretender Gauleiter, schon damals ein unerbittlicher antisemitischer Scharfmacher.

Trotz der Bedrängnisse gab Ruth nicht auf, sich in grundlegenden Dingen weiterzubilden und sich um ein Fortkommen in der Medizin zu bemühen. Von 1933 bis 1935 nahm sie bei ihrem früheren Lehrer Rosenbusch Privatunterricht in hebräischer Religion. Sie bewarb sich um eine Ausbildung als Krankenschwester – vergebens. Sie wollte Assistentin in einer Röntgenpraxis werden – abgelehnt. Das Ende aller Hoffnungen für ihren Herzenswunsch wurde ihr deutlich, als ihrem Bruder Hugo, der seit 1933 in Marburg Zahnmedizin studierte, 1934 der Be­such der Universität verboten wurde.

Ruth wollte nun die Handelsschule besuchen, um sich zumindest als Bürokraft zu qualifizieren. Nicht einmal Privatschulen akzeptierten die Jüdin. Ihre Zeugnisse, ihre Intelligenz, ihr Fleiß interessierten nicht. Und alle weiteren Versuche, eine Lehrstelle, wenigstens eine bescheidene Anstellung zu finden, waren umsonst. So half sie nun in der Not bei Büroarbeiten im väterlichen Geschäft, das immer weiter schrumpfte und 1938 am Ende war.

Es folgte eine weitere schmerzvolle Erfahrung: Kassel und Bebra waren die ersten deutschen Städte, in denen es im November 1938 zu Pogromen kam, und zwar bereits am 7. November, noch bevor aus München überhaupt das Signal zu antijüdischen Gewaltaktionen gegeben wurde. Unter Führung von SA-Männern wurden in Bebra Synagoge und Schule völlig demoliert, jedoch nicht in Brand gesetzt, da die Nachbarhäuser "arischen" Bebraern gehörten. Mehrere Privatwohnungen wurden gestürmt und verwüstet. Nachdem Goebbels am nächs­ten Tag die kurhessischen Gewalttaten im Radio ausdrücklich belobigt hatte, kam die Horde am nächsten Tag wieder, holte nun Bücher und Einrichtungsgegenstände aus den bereits heimgesuchten Wohnungen und warf sie auf dem Anger, der unterdessen "Adolf-Hitler-Platz" hieß, ins Feuer. Freislers Saat war prächtig aufgegangen.

Spätestens mit den Verordnungen über die Tätigkeit von Juden und Jüdinnen im Gesundheitswesen von 1938/39 war dann das letzte Fünkchen Hoffnung, das Ruth noch gehegt haben mochte, zertreten.

Warum Ruth 1939, nun knapp 21 Jahre alt, ihre Heimat verließ und nach Hamburg zog, wissen wir nicht mit Sicherheit. Eine Tante scheint hier gelebt zu haben. Vielleicht versprach sie sich, hier in der großen, sich gern weltoffen gebenden Stadt doch noch irgendeine Möglichkeit für ein Weiterkommen zu finden, vielleicht sogar auf ihrem bevorzugten Interessengebiet, der Medizin. So ganz ausgeschlossen ist diese Überlegung nicht. Denn nachdem sie zunächst im Grindelviertel, im Grindelstieg 4, einem Sträßchen hinter der Synagoge am Bornplatz, das heute nicht mehr existiert, gewohnt hatte, zog sie gegen Ende des Jahres in den Woldsenweg 5, 1. Stock, zu Familie Alberto Jonas und Marie Anna Jonas.

Alberto war Schuldirektor an der Israelitischen Töchterschule in der Carolinenstraße, Marie Anna war Ärztin, zeitweilig an der Schule ihres Mannes (s. dort). Das Ehepaar Jonas hatte eine Tochter, Esther, geboren im März 1924, die beim Einzug Ruths also 15 Jahre alt war, etwa sechs Jahre jünger als Ruth. Esther, die die Deportation nach Theresienstadt und weiter nach Auschwitz überlebte, erinnert sich gern an Ruth als eine sehr freundliche und lebhafte Person. Ruth war als Haustochter engagiert. Bei freier Kost und Logis bekam sie 20 RM im Monat. Das erscheint wenig. Aber solche Anstellungen hatten oft vor allem den Sinn, in der gemeinsamen Not beizustehen, soweit es ging. Ruth hatte die anfallenden Arbeiten im Haushalt zu erledigen, hatte darüber hinaus aber auch geselligen Kontakt zur Familie, und das hieß, es ergaben sich immer wieder Gelegenheiten, die versierte Ärztin Jonas nach medizinischen Zusammenhängen zu befragen. Wie wissbegierig Ruth auf diesem Gebiet war, hat ihr Bruder Hugo, der Zahnmediziner, später wiederholt betont.

Aus der Kultussteuerkarte von Alberto Jonas geht hervor, dass die Familie am 19. Februar 1941 die Wohnung im Woldsenweg verlassen musste und in das sogenannte Judenhaus im Laufgraben 39 eingewiesen wurde. Zu Ruth werden keine Angaben gemacht. Auf ihrer Kultussteuerkarte ist für den 25. Oktober 1941, ihrem 23. Geburtstag, vermerkt: "Ausgeschieden wegen Aussiedlung". Diese harmlos klingende Formulierung besagte: Deportation in das Getto Lodz, für die meisten Zwischenstation auf dem weiteren Weg in den Tod. Auf der Transportliste der Gestapo-Leitstelle Hamburg war sie unter den Ersatzpersonen aufgeführt, die "für eventuelle Ausfälle in Reserve gehalten werden sollen".

Ruth Neuhaus schaffte es, in Lodz zwei Jahre und fast neun Monate zu überleben. Unabdingbar wichtig hierfür war: Sie hatte Arbeit, zunächst in der Landwirtschaft und im Gartenbau, dann in verschiedenen Schneidereien, dem Hauptproduktionszweig in Lodz. In ihrer Legitimationskarte des Arbeitsamtes Getto von 1943 wird sie als Maschinistin des Betriebes 85, der Schneiderei in der Goldschmiedegasse 18, geführt. Eine "Ausreise-Aufforderung" (2. Mai 1942), also die Weiterdeportation ins Vernichtungslager Chelmno, hatte sie mit einem Bittbrief an die "Abteilung für die Eingesiedelten" offenbar abwenden können, unter Hinweis auf ihre "dringlichen Arbeiten in der Landwirtschaft".

Im Melderegister des Gettos ist ihre "Abmeldung" dann doch noch verzeichnet: Unter dem Datum vom 12. Juli 1944 heißt es, sie habe Lodz zur Arbeit außerhalb des Gettos verlassen. Am 12. Juli aber ging der Transport Nr. 84 nach Chelmno, zur sofortigen Ermordung der 700 Menschen, die er umfasste.

Offiziell gilt Ruth Neuhaus als verschollen. Als ihr Todestag wurde vom Amtsgericht der 8. Mai 1945 festgelegt.

Die Geschwister entkamen rechtzeitig aus Deutschland und überlebten in Südafrika.

© Johannes Grossmann

Quellen: 1; 4; 5; 8; StaH 522-1 Jüd. Gemeinden, 992e2 Band 5; AFW 251018 Neuhaus, Ruth; Kropat, Reichskristallnacht, 1997; www.alemannia-judaica.de/bebra_synagoge.htm; www.hassia-judaica, Jüdisches Kleinstadt- und Landleben in Hessen/Orte/Bebra (eingesehen am 1.2.2009); persönliche Auskünfte von Esther Bauer-Jonas; persönliche Auskünfte von Dr. Heinrich Nuhn, Geschichtsverein Rotenburg/Fulda, Februar 2009; USHMM, RG 15.083, M300/358-360, Fritz Neubauer, Universität Bielefeld, E-Mail vom 11.6.2010.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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