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Werner Gross * 1938
Marienthaler Straße Ecke Peterskampweg (Hamburg-Mitte, Hamm)
HIER WOHNTE
WERNER GROSS
JG. 1938
EINGEWIESEN 19.1.1943
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 7.8.1943
LANDESHEILANSTALT EICHBERG
ERMORDET 6.10.1943
Werner Gross, geb. 23.12.1938 in Hamburg, verlegt am 7.8.1943 in die "Heil- und Pflegeanstalt Eichberg", Tod dort am 6.10.1943
Marienthaler Straße Ecke Peterskampweg (früher: Stöckhardtstraße 72)
Die Eheleute Gross hatten bereits eine gesunde zweieinhalbjährige Tochter, als ihr Sohn Werner im Marienkrankenhaus in Hohenfelde, einer katholischen Klinik, geboren wurde. Die Eltern ließen ihn dort an seinem vierten Lebenstag taufen, was auf eine Nottaufe hindeutet, zumal sie von einem evangelischen Pastor vorgenommen wurde. Werners Vater arbeitete als kaufmännischer Angestellter, bis er zur Wehrmacht eingezogen wurde.
Werner entwickelte sich in seinen ersten zweieinhalb Lebensjahren einerseits wie seine Schwester dem Alter entsprechend und machte die üblichen Kinderkrankheiten wie Windpocken, Masern und Keuchhusten durch, aber auch eine Mittelohrentzündung und musste bereits mit dreizehn Monaten wegen eines schweren Hautekzems im Krankenhaus behandelt werden. Dieser Aufenthalt im Kinderkrankenhaus des Allgemeinen Krankenhauses St. Georg in der Baustraße (heute: Hinrichsenstraße) endete nach vierzehn Tagen, doch dauerte es nur einen Monat, bis das Ekzem zurückkehrte und ein Abszess am Gesäß hinzu kam. Dieses Mal wurde er im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort behandelt. Die Heilung erwies sich als langwierig, zur Behandlung gehörten auch Bluttransfusionen. Als er nach zweieinhalb Monaten, am 23. Mai 1940, entlassen wurde, hatte er 1050 g Gewicht zugenommen und nur noch im Gesicht Spuren des Ekzems.
Im April 1941 hielt sich Frau Gross mit den Kindern bei ihren Eltern in der Nähe von Lüneburg auf, als Werner leichte bronchitische Krankheitssymptome zeigte. Bei 41° Fieber und delirierend wurde er im Kinderhospital in Lüneburg aufgenommen, wo eine Meningo-Encephalitis (Entzündung von Hirnhaut und Gehirnsubstanz) diagnostiziert wurde. Sie hatte eine rechte Halbseitenlähmung zur Folge und den Verlust der Sprache und der Fähigkeit zu sitzen und zu stehen, da er den Fuß nicht aufsetzen konnte.
Wegen dieser erheblichen neurologischen Probleme wurde Werner am 8. September 1941 in der Kinderklinik des Universitätskrankenhauses Eppendorf aufgenommen und innerhalb der Klinik mehrfach verlegt. In der Nervenklinik wurde er untersucht und ohne Prognose, aber mit dem Vorschlag, eine Encephalographie – eine aufschlussreiche, aber gefährliche Untersuchung des Gehirns – in Erwägung zu ziehen, entlassen. Er kam wegen einer Borkenflechte am Kopf direkt in die Hautklinik. Als sie abgeheilt war, kehrte er in die Kinderklinik zurück. Auch seine Fußstellung wurde korrigiert, und Fuß und rechter Arm wurden geschient. Nach seiner Entlassung nach Hause am 20. Oktober 1941 konnte Werner mit einiger Unterstützung gehen, jedoch weder hören noch sprechen.
Der Vater war im Einsatz an der Ostfront, so dass die Mutter mit den beiden Kindern allein war. Dass ihr zuvor gesunder Junge nun ständiger Pflege bedurfte, ohne Aussicht auf Heilung, bedrückte sie sehr, und sie schämte sich, wenn er beim Spiel mit anderen Kindern etwas zerstörte. Hinzu kam, dass sie ihn bei jedem Bombenalarm aus dem vierten Stockwerk hinunter in den öffentlichen Bunker tragen musste oder, wenn sie das nicht schaffte, voller Angst im Hause, das keinen Luftschutzkeller beaß, ausharrte. Am 3. März 1942 wandte sie sich deshalb an die Leitung der damaligen Alsterdorfer Anstalten mit der Bitte, ihren Sohn aufzunehmen, nachdem sie die Kostenübernahme durch die Krankenkasse bereits geklärt hatte. Die Anstaltsleitung lehnte Werners Aufnahme aus Platzmangel ab.
Das Landesjugendamt prüfte Werners Anstaltsbedürftigkeit und ließ ihn am 16. März 1942 psychiatrisch untersuchen. Neben den Lähmungserscheinungen wurden Werners Fähigkeiten aufgeführt: Er konnte mit der linken Hand Bausteine an- und aufeinander setzen, bevorzugte die Eisenbahn und Tiere gegenüber anderen Spielsachen, bewegte sich geschickt rutschend auf dem Boden und richtete sich auch allein auf. Die Ärzte befanden, dass Wolfgang in einer Anstalt besser aufgehoben sei als zuhause, "da die Mutter sich nicht zu einer selbstentsagenden liebevollen Pflege im Stande sieht", und empfahlen die Einrichtungen "Ebenezer" in Lemgo/Lippe oder "Bethel" bei Bielefeld.
Die Fürsorgestelle bei der Hamburger Sozialverwaltung für Körperbehinderte suchte nun vergeblich eine Unterbringungsmöglichkeit für Werner, in der er bis zur Einschulung in einem Taubstummenheim die nötige Selbstständigkeit erwerben würde, fand aber auch im weiteren Umfeld von Hamburg keine und brachte ihn in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn unter. Dort wurde Werner in der "Kinderfachabteilung" aufgenommen, obwohl er nicht den Aufnahmekriterien des "Reichsausschuss[es] für erb- und anlagebedingte schwere Leiden" entsprach, wurde aber entsprechend dem vorgesehenen Verfahren beobachtet. Friedrich Knigge holte sich auch das Einverständnis der Mutter für eine "erfolgversprechende Behandlung" ein, was im Sinne des Ausschusses die Tötung des Kindes bedeutete.
Bei Werners Aufnahme am 8. April 1942 notierte der verantwortliche Arzt Friedrich Knigge, ein Psychiater: "Zutrauliches, freundliches Wesen, möchte an die Hand genommen werden, um Gehübungen machen zu können. … Hat einen natürlichen gefühlsmäßigen Kontakt zu den Personen seiner Umgebung. Reagiert nicht auf stärkste Schallreize, umso mehr aber auf optische Eindrücke. Versteht seinem Alter entsprechend alle Gesten richtig zu deuten und liest richtig vom Mund ab. Beschäftigt sich den ganzen Morgen über mit Spielen im Spielzimmer. Verhält sich durchaus gutartig den anderen Kindern gegenüber. Ist sauber. Kann trotz der Lähmungen alleine essen."
In den folgenden Monaten erkrankte Werner zweimal akut, genas aber nach jeweils zehn Tagen. Am 13. August 1942 entließ Friedrich Knigge Werner zu seiner Mutter mit einer Überweisung an einen Orthopäden und der Empfehlung für den Besuch einer Taubstummenschule.
Die Fürsorgestelle bei der Hamburger Sozialverwaltung wandte sich nun wegen dieses "Sonderfalls von Körperbehinderung, verbunden mit Taubstummheit", ab Spätherbst 1942 wiederholt an die Leitung der damaligen Alsterdorfer Anstalten mit dem dringenden Ersuchen, Werner aufzunehmen. Nach Ablauf des Weihnachtsurlaubs von Werners Vater wurde der Junge am 19. Januar 1943 in "Alsterdorf" aufgenommen. Die Sozialverwaltung erkannte seine Pflegebedürftigkeit "bis auf weiteres" an, ordnete ihn in die Gruppe der "Krüppel" ein und übernahm die Kosten.
Werner war bei seiner Aufnahme vier Jahre alt und zunächst sehr scheu. Er machte auf den Arzt auf der Kinderkrankenstation einen intelligenten Eindruck, trotz seiner Taubstummheit, da er sich schon bald interessiert umsah und sofort nach dem Schalter fasste, als ihm eine Taschenlampe hingehalten wurde. Dabei weinte er zugleich still vor sich hin.
Werner wurde auf die Kinderabteilung verlegt. Dort nahm er regen Anteil an seiner Umgebung und beschäftigte sich selbstständig mit Spielsachen, konnte, wenn auch schlecht, allein gehen. Er bekam normale Kost, aß ohne Hilfe und konnte selbstständig zur Toilette gehen. Das Erbgesundheitsgutachten Gerhard Kreyenbergs bestätigte, dass Werners Behinderung als Folge der erlittenen Gehirnhautentzündung anzusehen sei, da er aus einer gesunden Familie von Beamten und Angestellten stamme, und bescheinigte ihm trotz seiner offenkundigen Taubheit eine normale Intelligenz.
In der Nacht vom 27./28. Juli 1943 wurde Frau Gross ausgebombt und ging in ihren Heimatort in der Nähe von Dannenberg. Mit Schreiben vom 8. August erkundigte sie sich bei den "Alsterdorfer Anstalten", ob ihr Kind überhaupt noch lebe. Am Tag zuvor war Werner in die "Heil- und Pflegeanstalt Eichberg" im Rheingau verlegt worden. Warum er für diesen Transport ausgewählt wurde, erschließt sich nicht aus den Akten. Während bei anderen Patienten offenbar der Pflegeaufwand den Ausschlag gegeben hatte, entfiel dieser Grund bei ihm.
Die damaligen Alsterdorfer Anstalten hatten bei den schweren Luftangriffen auf Hamburg im Sommer 1943 in doppelter Weise zu leiden: Sie mussten Bombenopfer aufnehmen und versorgen bei gleichzeitiger Zerstörung einiger Gebäude. Um auf künftige unvorhersehbare Entwicklungen vorbereitet zu sein, verlegte die Anstaltsleitung im Einvernehmen mit der Hamburger Gesundheitsverwaltung und der "Euthanasie"-Zentrale, T4 nach der Adresse Tiergartenstraße 4 in Berlin, einige hundert Bewohner und Bewohnerinnen in entlegene Anstalten, die zudem als "luftsicher" galten.
Der erste Transport mit 128 Kindern und Männern verließ Hamburg am 7. August 1943 und wurde von der GeKraT, der Transportgesellschaft von T4, durchgeführt, zwei Schwestern und ein Pfleger begleiteten die Verlegten. Die erste Etappe bestand im Bustransport zum Güterbahnhof Ochsenzoll, die zweite in der Zugfahrt zunächst bis Limburg, wo ein für die Heilanstalt "Kalmenhof" bestimmter Waggon abgehängt wurde, und endete in Hattenheim, wo die Patienten auf Lkws verladen und in die Anstalt gebracht wurden, unter ihnen 28 Kinder.
"Eichberg" war eine Mitte des 19. Jahrhunderts eingerichtete Heil- und Pflegeanstalt, die 1939 in das Euthanasie-Programm einbezogen wurde. Als der Hamburger Transport eintraf, war die Anstalt völlig überfüllt. Zwanzig der Kinder kamen auf die sog. Kinderfachabteilung (s. Stolpersteinbroschüre Hamburg-Rothenburgsort) und wurden dort bald nach ihrer Ankunft getötet, meist durch Spritzen von überdosiertem Morphium oder Luminal. Werner und sieben andere Jungen wurden zunächst in der Frauenabteilung untergebracht. Ohne dass das "Reichsausschuss-Verfahren" durchgeführt worden wäre, wurde Werner dann auch in die "Kinderfachabteilung" verlegt und dort ermordet.
Am 6. Oktober 1943, 8 Uhr morgens, starb er mit nicht ganz fünf Jahren, angeblich an "Lungenentzündung und Herzschwäche bei Schwachsinn". Dass Werner nicht schwachsinnig war, ging aus seiner Akte hervor, und er bewies es täglich durch sein Verhalten, wenn auch nicht mit Worten.
Seine Mutter war noch im September über seinen neuen Aufenthaltsort informiert worden, konnte ihn aber nicht mehr besuchen.
Werner wurde in einem Massengrab auf dem Anstaltsfriedhof beigesetzt, sein Tod wurde ordnungsgemäß beim Standesamt Erbach angezeigt und unter der Nummer 611/1943 registriert.
Im Juli 1944 forderte der Hamburger Polizeipräsident schriftlich eine Begründung von den damaligen Alsterdorfer Anstalten, warum Werner Gross’ [Diphtherie-] Impfung unterlassen worden sei. Die Anstaltsleitung antwortete mit dem Hinweis auf seine Verlegung nach "Eichberg", ohne seinen Tod zu erwähnen.
Stand: April 2017
© Hildegard Thevs
Quellen: StaH 352-8/7 Abl. 2000/1, 13; Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv, V 33; Stadtarchiv Erbach/Rheingau, Standesämter; Wunder, Michael, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, 2. Aufl. Hamburg 1988.