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Salka, Julius, Hella und Robert Beer (v.l.)
© Sammlung Matthias Heyl

Robert Beer * 1894

Julius-Ludowieg-Straße 48 Ecke Kroosweg (Harburg, Harburg)

1943 Auschwitz

Weitere Stolpersteine in Julius-Ludowieg-Straße 48 Ecke Kroosweg:
Hella Beer, Salka Beer

Hella Beer, geb. am 16.9.1923 in Harburg, deportiert aus dem Durchgangslager Mechelen (Belgien) nach Auschwitz am 19.4.1943
Robert Beer, geb. am 24.12.1894 in Grodek (Ukraine), deportiert aus dem Durchgangslager Mechelen nach Auschwitz am 19.4.1943
Salka Beer, geb. Stapelfeld, geb. am 10.11.1897 in Kolomea (Ukraine), deportiert aus dem Durchgangslager Mechelen nach Auschwitz am 19.4.1943

Stadtteil Harburg-Altstadt, Julius-Ludowieg-Straße 48

"Das war das erste Mal, dass ich meinen Vater weinen sah," erinnerte sich Julius Beer 1989 an jenen Augenblick im Jahre 1935, als sein jüdischer Vater aus dem Harburger Rathaus herauskam, nachdem er dort seine militärischen Orden aus dem Ersten Weltkrieg nach Aufforderung wieder zurückgegeben hatte. Julius‘ Vater Robert Beer war zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Kind mit seinen Eltern aus Galizien nach Wien gelangt und hatte von 1914 bis 1918 in den Reihen der Innsbrucker Kaiserschützen für die österreichischen Fahnen gekämpft. Im Sommer 1918 war er schwer verwundet in italienische Gefangenschaft geraten.

Nach der Entlassung verließ er seine österreichische Heimat. Die nächste Station auf dem Lebensweg war Harburg, wo er bald seiner späteren Frau Salka Stapelfeld begegnete. Sie war Mitinhaberin des "Manufakturwaren- und Möbelgeschäfts Josef Stapelfeld" in der Linden­straße 50 (heute: Julius-Ludowieg-Straße), das sie nach dem frühen Tod ihres jüdischen Vaters im Jahre 1915 mit ihren drei Geschwistern geerbt hatte (siehe Rachel [Rosa] Abosch und Cywia Linden). Als ihre Schwester Rosa und ihr Bruder Siegmund Stapelfeld als Mitinhaber der Firma ausschieden, traten Robert Beer und sein Schwager David Linden die Nachfolge an. Im Jahre 1928 erhielt der Zuwanderer Robert Beer die deutsche Staatsbürgerschaft.

Am 16.6.1922 freuten Robert und Salka Beer sich über die Geburt ihres Sohne Julius. Ein Jahr später folgte seine Schwester Hella. Die Familie wohnte in der Lindenstraße 48, d. h. direkt neben dem Manufakturwaren- und Möbelgeschäft.

Die beiden Geschwister verlebten eine glückliche Kindheit in Harburg. Julius Beer besuchte das Stresemann-Realgymnasium (heute: Friedrich-Ebert-Gymnasium) am alten Postweg und seine Schwester Hella die Mädchen-Mittelschule in der Eißendorfer Straße. Diese schönen Erinnerungen konnten auch nicht durch die leidvollen Geschehnisse, die die Familie später erschütterten, ausgelöscht werden. Als Julius Beer im Herbst 1991 noch einmal als Besucher in die Stadt zurückkehrte, die er 52 Jahre vorher tief verletzt und höchst verbittert verlassen hatte, bekannte er: "You can get a man out of Harburg, but you can’t get Harburg out of a man.”

Der 30. Januar 1933 wurde zu einem Wendepunkt im Leben der Familie Beer. Bereits zwei Monate später war auch das Kaufhaus "Geschwister Stapelfeld" am 1. April 1933 von dem reichsweiten Boykott betroffen, zu dem die NSDAP aufgerufen hatte. Hatte Robert Beer schon die Rückgabe aller Kriegsauszeichnungen als eine tiefe Erniedrigung empfunden, so galt das umso mehr, als ihm am 9. Mai 1935 die deutsche Staatsbürgerschaft wieder aberkannt wurde. Alle Mitglieder der Familie galten danach als staatenlos.

Nachdem Julius Beer schon auf der Schule unter antisemitischen Anfeindungen gelitten hatte, erfuhr er schockiert, dass er in Hamburg wegen seiner jüdischen Herkunft nicht zum Ingenieurstudium zugelassen wurde. Seine Schwester Hella begann nach ihrem Schulabschluss eine Lehre als Schneiderin und Modezeichnerin.

Zunächst hatten Salka und Robert Beer noch keinen nennenswerten Rückgang ihrer geschäftlichen Einnahmen zu verzeichnen; doch am Ende des Jahres 1935 mussten sie feststellen, dass sich das Blatt gewendet hatte. Viele ehemalige Kunden hatten sich anders orientiert. Der schwärzeste Tag ihres Berufslebens war für Salka und Robert Beer unbestritten der 10. November 1938, als die Harburger NSDAP das nachholte, was sich an vielen anderen Orten schon einen Tag zuvor abgespielt hatte. An die Geschehnisse jenes Abends erinnert Julius Beer sich voller Schmerz: "Am 9. [10.] November 1938 tobte sich der Mob in dem Geschäft meiner Mutter aus. … Der größte Teil der Ware [wurde] zerschlagen und zerschnitten … und [anschließend] auf die Straße geschleppt und dort entweder geraubt oder von der Menge zertrampelt. … Die vier großen Ladenfenster [wurden] vollständig zertrümmert. Auch die Theken und Kassen [wurden] in der Pogromnacht schwer beschädigt." Die "Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus den deutschen Wirtschaftsleben" besiegelte das endgültige Aus des Kaufhauses Stapelfeld in Harburg. Ein Treuhänder übernahm die Aufgabe, das Geschäft in "arischen" Besitz zu überführen.

Als die Lage immer hoffnungsloser wurde, erkannten Robert und Salka Beer, dass sie sich von dem, was sie besaßen und lieb gewonnen hatten, unverzüglich trennen und Deutschland auf schnellstem Wege verlassen mussten, um sich in Sicherheit zu bringen. Sie setzten alle Hebel in Bewegung, um in die USA auszuwandern. Sie hatten bereits eine Speditionsfirma mit der Verladung ihres Umzugsgutes beauftragt, als der Zweite Weltkrieg begann und sie vor neue Probleme stellte.

Robert Beer und sein Sohn befürchteten das Schlimmste und flohen über die grüne Grenze in das neutrale Belgien. Salka Beer und ihre Tochter versuchten in den folgenden Monaten, ihnen auf legalem Wege zu folgen. Sie beantragten eine neue Auswanderungsgenehmigung, deren Bearbeitung jedoch wieder lange auf sich warten ließ. Am 7. Mai 1940 meldete die zuständige Dienststelle der Gestapo, dass die beiden Harburgerinnen ihren Wohnsitz nach Antwerpen verlegt hatten.

Nach der Besetzung Belgiens durch die deutsche Wehrmacht wurden die geflohenen Emigranten wieder zu Gejagten. Weder Robert und Salka Beer noch ihre Kinder Julius und Hella erhielten eine Arbeitserlaubnis. Unter diesen Umständen verarmten sie zusehends, auch wenn sie hier und da Hilfe fanden. Abermals erlebten sie, wie die Rechte und Lebensbedingungen der Juden von der deutschen Militärverwaltung durch antijüdische Verordnungen Schritt für Schritt eingeschränkt wurden. Im Oktober 1940 mussten sich alle jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner des Landes registrieren lassen, ein Jahr später durften sie nur noch in vorgeschriebenen Orten wohnen. Im Mai 1942 wurde auch in Belgien die Kennzeichnungspflicht für alle jüdischen Männer, Frauen und Kinder eingeführt, und bald danach wurden alle, die arbeitslos waren, in Lager eingewiesen und zur Zwangsarbeit für die Organisation Todt verpflichtet.

Am 3. Februar 1943 betraten Robert, Salka und Hella Beer das große belgische Sammellager Mechelen (Malines) zwischen Antwerpen und Brüssel. Von dort wurden sie am 19. April 1943 mit 1628 Schicksalsgefährten nach Auschwitz deportiert. Sie gehörten nicht zu den 233 Deportierten, denen auf der dreitägigen Fahrt in das Vernichtungslager die Flucht aus dem Zug gelang (siehe Anna Apteker). Nach der Ankunft des "Todeszuges" wurden 879 Menschen sofort in die Gaskammern geschickt.

Julius Beer war bereits am 31. Oktober 1942 mit 1936 anderen Personen nach Auschwitz transportiert und dort mit 776 Leidensgenossen in das Lager aufgenommen worden, um als Häftling Nr. 72316 Zwangsarbeit zu leisten. Er gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg zu den 85 Überlebenden dieses Transports. Nach der Befreiung wartete er vergeblich auf seine Eltern und seine Schwester. Am 4. Februar 1952 wurden sie vom Amtsgericht Hamburg-Harburg auf den 31. Dezember 1945 für tot erklärt.

© Klaus Möller

Quellen: 1; 2 (OFP 314-15, F 105, R 1939/2869, V 206); 4; 5; 8; Heyl (Hrsg.), Harburger Opfer; StaH, 351-11, AfW, Abl. 2008/1, 101196, 241294, 160622, 160923; StaH, 430-5 Dienststelle Harburg, 1810-08, 430-74 Polizeipräsidium Harburg-Wilhelmsburg II, 60, 40; StaH, 430-5 Dienststelle Harburg, Ausschaltung jüdischer Geschäfte und Konsumvereine, 1810-08, Bl. 89ff; Heyl, Synagoge, S. 61; Ellermeyer u. a., Schalom, S. 51ff.; Kändler/Hüttenmeister, Friedhof, S. 184; Schreiber, Rebellen, S. 64ff.; Klarsfeld/Steinberg, Mémorial.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Recherche und Quellen.

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