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Anna Brill (geborene Pollitzer) * 1882
Husumer Straße 6 (Hamburg-Nord, Hoheluft-Ost)
HIER WOHNTE
ANNA BRILL
GEB. POLLITZER
JG. 1882
DEPORTIERT 1941
RIGA
ERMORDET
Anna Brill, geb. Pollitzer, geb. am 26.3.1882 in Hamburg, deportiert am 6.12.1941 nach Riga
Husumer Straße 6
Ein einzelner Stolperstein liegt heute vor dem stattlichen, in der Gründerzeit erbauten Mehrfamilienhaus in der Husumer Straße 6 in Hamburg-Eppendorf. Er erinnert an Anna Brill, geb. Pollitzer, die am 6.12.1941 von Hamburg in das Behelfslager Riga-Jungfernhof "umgesiedelt" wurde, in dem auch der Hamburger Oberrabbiner Joseph Carlebach (siehe www.stolpersteine-hamburg.de) mit einem Teil seiner Familie ermordet wurde.
Anna Brill war als mittleres der drei Kinder des Buchhalters Heelmann Heinrich Pollitzer und seiner Ehefrau Jenny, geb. Heckscher, am 26.3.1882 in Hamburg geboren worden. Der Vater war am 18.4.1841 in Baja (dt.: Frankenstadt) in Ungarn zur Welt gekommen, seine Ehefrau war am 3.1.1850 in Hamburg geboren worden. Bei Annas Geburt wohnten die Eltern in der Kieler Straße 77, zogen aber noch vor 1884 in die Wilhelminenstraße 35 in Hamburg-St. Pauli. Bei Heelmann Heinrich Pollitzers Tod am 15.5.1907 wohnte das Ehepaar in der Hansastraße 71. Jenny Pollitzer lebte danach bis zu ihrem Tod am 19.9.1923 in der Eppendorfer Landstraße 18.
Wie viele seiner Glaubensgenossen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte der Vater die Verwendung seines jüdischen Vornamens vermieden und Schriftstücke stets mit dem weniger auffälligen Namen Heinrich Pollitzer unterzeichnet.
Über die Kindheit, Jugendzeit oder Ausbildung der drei Geschwister Anna, Fritz und Mari Pollitzer ist uns nichts bekannt. Fritz war einem Eintrag auf der mütterlichen Kultussteuerkarte der Jüdischen Gemeinde Hamburgs zufolge am 9.3.1876 zur Welt gekommen. Der Geburtsort ist dort allerdings nicht vermerkt und in den Hamburger Geburtsregistern ist er ebenfalls nicht verzeichnet.
Zu Anna Pollitzers Schwester Mari ist wenig bekannt. Sie wurde am 13.8.1884 in Hamburg geboren.
Nach dem Tod des Vaters zog Fritz Pollitzer zusammen mit seiner Mutter und seinen beiden Schwestern von der Hansastraße 71 in die Eppendorfer Landstraße 18 und sorgte für den Zusammenhalt der Familie. Mari heiratete am 17. April 1915 in Hamburg den am 3.6.1871 in Berlin geborenen Kaufmann Georg Martin Salomon. Trauzeugen waren ihr Schwager Nechemie/Edmund Brill und ihr Bruder Fritz Pollitzer. Dann verließ das junge Ehepaar Hamburg und Maris Spur verliert sich. Ihr Ehemann starb am 3.6.1928 in Berlin.
In den Jahren 1917 und 1918 nahm Fritz Pollitzer als Soldat am Ersten Weltkrieg teil. Danach war er als Kaufmann Mitinhaber (zur Hälfte) der Firma Luria & Co. Succ., Export & Import am Jungfernstieg 7a und unternahm in dieser Funktion regelmäßig Geschäftsreisen nach Übersee. Er war inzwischen kinderlos verheiratet mit der 24 Jahre jüngeren holländischen Jüdin Betje van Gelder (geboren am 29.6.1900 in Amsterdam). Im Jahr 1933 starb er, wohl auf einer Geschäftsreise, in San Salvador in Mittelamerika.
Anna Pollitzer heiratete am 25.7.1908 in Hamburg den wohl aus wirtschaftlichen Gründen zugewanderten Juden Nechemie Brill, der sich den deutschen Vornamen Edmund zugelegt hatte. Er war 6.11.1869 in Tysmienica in Galizien zur Welt gekommen, einer Kleinstadt, aus der auch die Eltern von Sigmund Freud stammten. Bis zu seiner Eheschließung wohnte er in Hamburg in der Admiralitätsstraße 2 und zog dann mit Anna in die Parterrewohnung des 1909 neu erbauten Hauses in der Husumer Straße 6. Die Wohnungen in diesem Mehrfamilienhaus waren von Anfang an großzügig mit Zentralheizung, Bad und WC ausgestattet und wurden von einem Hausmeister betreut. Die Parterrewohnung verfügte über ein zur Straße gelegenes Wohnzimmer, eine Terrasse mit kleinem Vorgarten, sowie ein Gartenzimmer.
Nechemie/Edmund Brill konnte es seiner Familie ermöglichen, so komfortabel zu wohnen, weil er als Mitinhaber der Firma Behrens & Brill, Husumer Straße 6, gut verdiente. Deren Geschäftszweck war die Fabrikation und der Vertrieb von Gummimänteln. Nachdem durch den Tod seines Kompagnons die Firma 1929 erloschen war, betrieb Nechemie/Edmund Brill das Geschäft als selbständiger Kaufmann weiter und verkaufte die in Lohnarbeit gefertigten Gummimäntel. Noch für die Jahre 1936/37 ist in den Nachkriegsakten von einer "nicht bedeutenden, aber ausreichenden Existenz" die Rede. Der Syndikus der Industrie- und Handelskammer ging dabei von einem damaligen Umsatz in Höhe von RM 14.000 und einer Verdienstspanne von brutto 20 % aus.
Nach 1933 jedoch erschwerten die Vorschriften und Verbote der nationalsozialistischen Regierung die wirtschaftliche Tätigkeit. Als Nechemie/Edmund Brill ernstlich erkrankte und sich nach einer Untersuchung durch den Vertrauensarzt der Wohlfahrtsstelle im Januar 1938 in mehrmonatige stationäre Behandlung begeben musste, sprangen die meisten seiner Kunden ab.
In der Husumer Straße 6 wohnte die Familie, bis sie durch die Erkrankung von Nechemie/Edmund Brill 1938 in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet. Um die Kranken- und Lebenshaltungskosten bestreiten zu können, wandte sich Anna Brill mit ihrer Tochter Marguit Regina an die Wohlfahrtsbehörde. Auf deren Anweisung mussten die beiden die Wohnung verlassen, obwohl die Miete noch bis zur Jahresmitte bezahlt war.
Sie wohnten im Mai 1938 vorübergehend in der Hansastraße 58/II bei einem Dr. Holz. Anna Brill hatte für 20 Reichsmark ein Zimmer bei ihm gemietet, um den Ehemann nach dessen Aufenthalt im Krankenhaus versorgen zu können. Nachdem dieser am 20.6.1938 im Israelitischen Krankenhaus verstorben war, bezog die verwitwete Anna Brill am 7.8.2939 eine 1-Zimmer-Wohnung in der Frickestraße 24, dem ehemaligen Martin-Brunn-Stift. Der Namensgeber und Stifter hatte seinerzeit die günstigen Wohnungen alleinstehenden Frauen, insbesondere Arbeiterinnen, zugedacht, wobei paritätisch jüdische und nichtjüdische Mieterinnen zum Zuge kommen sollten. In der NS-Zeit gehörte es zu den "Judenhäusern". Zeitweise zwei bis drei Menschen mussten sich die 12 - 14 qm großen, mit Ofenheizung und Wasseranschluss ausgestatteten Ein-Zimmer-Wohnungen teilen. Wer kochen wollte, musste dazu den kleinen Ofen benutzen. Die Toilette befand sich außerhalb der Wohnung auf dem Flur. Die Miete betrug monatlich 6 RM.
Die Frickestraße 24, Zimmer 32, blieb Anna Brills letzter Wohnsitz. Dort erreichte sie der Deportationsbefehl für den 6. Dezember 1941 nach Riga. Der Hamburger Transport dorthin wurde in das Behelfslager Jungfernhof geleitet. Dort oder bei der Massenerschießung "Aktion Dünamünde" im März 1942 kam Anna Brill ums Leben.
Nechemie/Edmund und Anna Brill hatten nur ein Kind: Die Tochter Marguit Regina, die am 26.4.1909 in Hamburg zur Welt gekommen war. Sie arbeitete als Kontoristin bei der Firma Thar & Co., Hamburg, Bugenhagenstraße 1, war aber seit 1932 erwerbslos.
Kurz vor dem Tod ihres Vaters heiratete sie am 31.5.1938 in Hamburg den am 26.2.1905 in Hamburg geborenen "Agenten" (Vertreter) und Kaufmann Eugen Julius Insel. Dessen Vater Adolf Aron Insel war am 21.5.1866 in Berne im damaligen Großherzogtum Oldenburg zur Welt gekommen und hatte am 17.8.1903 in Frankfurt/Main Alice Gertrud Münzer aus Frankfurt/Main (geb. 19.3.1882) geheiratet. Eugen Julius Insel war das einzige Kind dieses Ehepaars geblieben, das in Hamburg zunächst in der Hansastraße 58 wohnte. Bei Adolf Aron Insels Tod am 25.8.1922 ist als Wohnsitz die Husumer Straße 7 angegeben. Seine Mutter Alice Gertrud starb am 23.9.1940 in der Tötungsanstalt Brandenburg/Havel. An sie erinnert ein Stolperstein in Hamburg, Andreasstraße 16 (siehe www.stolpersteine-hamburg.de).
Eugen Julius Insel war seit den 1920er Jahren bis März 1936 als "Agent" (Vertreter) für den Kaufmann Susel in der Textilbranche tätig und unterhielt mit ihm als gemeinsame Geschäftsadresse ein Büro in der Kaiser-Wilhelm-Straße 19. Als Wohnadressen sind zwischen 1926 und 1939 verzeichnet: Hansastraße 7 I bei Oppenheimer, Gneisenaustraße 33 und Haynstraße 7.
Nach einem ersten, gescheiterten Auswanderungsversuch im März 1939 gelang es Eugen und Marguit Insel Ende Mai 1939 doch noch, offenbar mit Hilfe der als "friend" bezeichneten Lady George Hume in London, nach England zu fliehen. Die britischen Behörden stellten ihnen vorläufige Pässe aus (Nr. QIV.3784 für Eugen und Nr. QIV.910 für Marguit Insel) und bescheinigten ihnen mit Datum vom 28.10.1939, sie seien "von der Internierung ausgenommen", die viele andere Einwanderer als "enemy aliens" betraf. Am 25.8.1940 gingen sie in Glasgow in Schottland an Bord der "Cameronia" und setzten nach Brooklyn, New York, über, das sie am 10.9.1940 erreichten. (Die "Cameronia" gehörte der schottischen Reederei Anchor Line. Als Passagierschiff überquerte sie nach Ausbruch der Feindseligkeiten noch elf Mal ohne jeden Geleitschutz den Atlantik. Ab Dezember 1940 wurde sie als Truppentransporter eingesetzt.) Ihr Umzugsgut ist offenbar nie in die USA gelangt, denn eine Notiz des Spediteurs Red Star Line vom 23. August1940 besagt, dass "eine Verladung nach Belgien z. Zt. nicht vorgenommen werden kann."
Das kinderlose Ehepaar lebte später in einem kleinen Ort Lakeview/Ohio. Ihre Wiedergutmachungsanträge wurden abgelehnt, weil sie in Unkenntnis der Fristen zu spät gestellt worden waren. Später zogen sie nach Kalifornien. Der Kalifornische Sterbeindex verzeichnet als Sterbedaten für Eugen Julius Insel den 16. Februar 1976 und für Marguit Regina Insel den 3. Juni 1981, beide in San Diego in Kalifornien. Die letzte bekannte Wohnadresse von Marguit Regina Insel war am 17. September 1976, also bereits als Witwe, eine Apartment-Siedlung in 3909 Reche Rd., Fallbrook, Calif. 92028, USA.
Stand: November 2024
© Heidi und Heinz-Otto Haag
Quellen: 1, 4, 5; StaH: StaH 314 – 15_ FVg 3784 Eugen Insel; StaH Geburtsurkunden: 332-5_2027 Anna Pollitzer, 332-5_2081 Mari Pollitzer, 332-5_113752 Regina Marguit Brill, 332-5_14496 Eugen Julius Insel, StaH: Heiratsurkunden: 332-5_8656 Anna Pollitzer,332-5_9558 Marie Pollitzer, 332-5_113267 Marguit Regina Brill, StaH Sterbeurkunden: 332-5_7988 Heinrich Pollitzer, 332-5_9803 Jenny Pollitzer; StaH 361-2 II_331 Mädchenschule d. Deutsch-israelitischen Gemeinde, Schulanfängerinnenlisten 1921 – 1939; StaH 361-2 II- 334 Israelitische Mädchenschule Schulanfängerinnenlisten 1923 – 1928, StaH 361-2 II- 335 Israelitische Mädchenschule Namentliche Verzeichnisse der Obersekundareife, Abgangslisten, Gutachten1913 – 1931, StaH 361-2 II- 336 Realschule für Mädchen von Dr. Jacob Loewenberg Schulanfängerinnenlisten (1920 – 1930), StaH 361-2 II- 337 Namentliche Verzeichnisse 1918 – 1939, StaH 362 -3/111 Lehrerkonferenzprotokolle Marie-Beschütz-Schule (Volksschule f. Mädchen), StaH Fürsorgeakten 351-14_1008 Brill, Edmund, Brill, Anna, geb. Pollitzer, Brill, Marguit; Jüdische Gemeinde Hamburg 522-01_0385_0034 Liste der Israeliten von 1895, 522-01_0992_b_45117 Fritz Pollitzer (Witwe Betsie), 522-01_0992_b_45119 Fritz Pollitzer, 522-01_0992_b_45121 Jenny Pollitzer, geb. Heckscher (Witwe), 522-01 Brill, Nehemia, genannt Edmund *6.11.1869 Tysmienica/Galizien, 522-01 Pollitzer, Heelmann Heinrich *14.1.1841 Baja/Ungarn, 522-01 Pollitzer, Mari *13.8.1884 Hamburg, 522-01_0992_b_2937 Brill/Insel, Regina Marguit *26.4.1909 Hamburg, 522-01_0992_b_2941Insel, Eugen *26.2.1905 Hamburg; StaH Signatur 522-1_992 e 1 Band 4 Deportationslisten Riga 06.12.1941 – Anna Brill, eingesehen am 12.06.2024, Ancestry: Geburts-, Heirats- und Sterbeakten, abgerufen am 14.8.2024 und 27.8.2024, Einwanderungsakten, Passagierlisten, abgerufen am 18.9.2024, Großbritannien, ausländische Internierte im 2. Weltkrieg, California Death Index 1940 – 1997, Angela Schwarz, Die Vaterstädtische Stiftung in Hamburg in den Jahren von 1849 bis 1945, Hamburg 2007.Handelskammer Hamburg: Firmenabfrage am 3.6.2024: Fa. Thar & Co., Hamburg, Bugenhagenstr., Hamburger Wäschefabrik, Hamburg, Spaldingstr. 1, Fa. Behrens & Brill, Hamburg, Husumerstr. 6.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".