Namen, Orte und Biografien suchen
Bereits verlegte Stolpersteine
Suche
Hugo Henle * 1883
Goernestraße 12 (Hamburg-Nord, Eppendorf)
HIER WOHNTE
HUGO HENLE
JG. 1883
DEPORTIERT 1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 16.9.1942
Weitere Stolpersteine in Goernestraße 12:
Martha Hesse, Nathan Hesse
Hugo Henle, geb. 20.4.1883 in Heilbronn, deportiert in das Getto Theresienstadt am 15.7.1942, dort gestorben am 16.9.1942
Goernestraße 12 (Eppendorf)
Hugo Henle kam am 20. April 1883 in Heilbronn am Neckar als Sohn des jüdischen Kaufmanns Schlomo Henle, genannt Sigward, und seiner ebenfalls jüdischen Ehefrau Lina, geborene Oppenheimer, zur Welt. Über seine Kindheit und Ausbildung ist uns nichts bekannt. Er diente als Leutnant der Reserve beim Reserve-Infanterie-Regiment 256 im Ersten Weltkrieg. Während seiner vier Jahre dauernden Dienstzeit wurde er verschüttet. Er erhielt das Eiserne Kreuz Zweiter Klasse, das Hanseatenkreuz und das Frontkämpferabzeichen.
Nach dem Krieg mietete Hugo Henle zunächst eine Wohnung in der Schlüterstraße 16 im Stadtteil Rotherbaum in Hamburg. 1922 wohnte er für kurze Zeit im Abendrothsweg 25, gelegen im heutigen Stadtteil Hoheluft-Ost, danach in der Isestraße 52 in Harvestehude. Er trat am 25. April 1922 der Jüdischen Gemeinde bei und heiratete in demselben Jahr die auch aus Heilbronn stammende Klara Erlanger, geboren am 8. April 1886. Diese kam ebenfalls aus einer jüdischen Familie und hatte wie ihre Schwestern Martha, verheiratete Bloch, geboren am 26. Februar 1879, und Cäcilie (Zilli), geschiedene Lemberger, geboren am 15. November 1881, in München gelebt.
Das Ehepaar Hugo und Klara Henle bekam am 18. Februar 1924 den Sohn Kurt Siegbert.
Hugo Henle gründete 1919 in der Glashüttenstraße 16 im heutigen Karolinenviertel eine Vertretung für Schuhfabriken und kurz darauf mit dem ebenfalls jüdischen Siegmund Hamburger das Unternehmen Henle & Hamburger, Schuhwaren-Großhandel und Vertretungen, das seit Februar 1920 im Handelsregister eingetragen war. Das Unternehmen residierte in der Straße Alter Wall 44, später Alter Wall 60 nahe dem Hamburger Rathaus. Die Firma repräsentierte in Hamburg namhafte Schuhfabriken, z.B. Gebr. Neuberger AG in Bamberg, Hanauer Gummischuhfabrik AG in Hanau, Vereinigte Schuhfabriken Berneis-Wessels in Nürnberg, Silberstein-Neumann in Schweinfurt.
Hugo Henles beruflicher Erfolg spiegelte sich in den wirtschaftlichen Verhältnissen der Familie wider, die es der Familie erlaubten, 1924 eine großzügige 5 ½ Zimmer-Wohnung in der in Harvestehude gelegenen Oderfelderstraße 13 zu beziehen.
Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 veränderten sich die Lebensbedingungen für die jüdische Bevölkerung in Deutschland drastisch. Die Familie sah sich nun laufend verschärften Diskriminierungen und Einschränkungen gegenüber. Im April 1933 betrieb die SA einen brutalen Boykott gegenüber jüdischen Geschäften, die in der Folgezeit zunehmend aus dem Wirtschaftsleben ausgegrenzt wurden. Davon blieb auch das Unternehmen von Hugo Henle und Siegmund Hamburger nicht unberührt. Zwar konnten die beiden den Geschäftsbetrieb noch bis 1936 weitgehend im bisherigen Umfang aufrechterhalten und verdienten 1934 bis 1936 zwischen 11.000 RM und 12.000 RM pro Jahr. Dies änderte sich aber, als die Kündigung der Geschäftsbeziehungen durch die Schuhfabriken Berneis-Wessels und anderer eintrafen. Die Geschäftsergebnisse gingen 1937 und 1938 stark zurück. Für das am 1. November abgeschlossene Geschäftsjahr 1938 wurde ein Nettogesamtergebnis von nur noch rd. 3.340 RM erzielt.
Daraufhin musste die Familie Henle ihre Wohnverhältnisse verkleinern. Nach einer kurzen Episode in der Straße Rehhagen 9 in Eppendorf (heute Knauerstraße) wohnte sie ab April 1938 in einer 3 ½ Zimmer-Wohnung in der Goernestraße 12, ebenfalls in Eppendorf.
Kurt Siegbert, Hugo und Klara Henles Sohn, besuchte von 1930 bis 1934 die Privatschule Thedsen, Jungfrauental 13 in Harvestehude. Da die Eltern fürchteten, dass ihr Sohn in einer staatlichen Schule vielleicht bald Schwierigkeiten bekommen würde, wechselte er 1934 in die Talmud Tora Schule in der Straße Grindelhof im Stadtteil Rotherbaum.
Unter dem Eindruck sich verstärkender Verfolgung unternahmen Hugo und Klara Henle vorbereitende Schritte für ihre Emigration in die USA. Sie intensivierten ihre Bemühungen nach dem Pogrom am 9. November 1938. Zunächst sorgten sie aber für die Sicherheit ihres Sohnes. Der vierzehnjährige Kurt Siegbert verließ Hamburg am 14. Dezember 1938 mit einem Kindertransport nach England.
Das Unternehmen Henle & Hamburger, dessen Anschrift noch 1938 im Hamburger Adressbuch mit Alter Wall 60 verzeichnet war, konnte sich dort nicht mehr halten. Zuletzt hatte es seinen Sitz lt. Adressbuch in der Goernestraße 12, der Wohnadresse der Familie Henle. 1939 wurde das Unternehmen infolge der "Verordnung über die Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben" liquidiert.
In der Goernestraße 12 wohnten schließlich auch Siegmund Hamburger, Hugo Henles Kompagnon, und dessen Ehefrau Paula. Inwieweit Siegmund Hamburger die Auflösung des Unternehmens Henle & Hamburger noch in Hamburg miterleben musste, ist unklar. Er floh 1939 mit seiner Ehefrau aus Deutschland. Siegmund Hamburger war am 21. Februar 1894 in Mannheim zur Welt gekommen und mit der am 1. April 1888 in Weingarten (eine Nachbarstadt von Ravensburg) geborenen Paula Fuchs verheiratet. Das Paar hatte zwei Kinder, Else, geboren am 14. August 1908, und Ernst, geboren am 14. Dezember 1912, beide geboren in Mannheim. Wahrscheinlich verließen die Kinder Deutschland schon vor ihren Eltern, denn sie wurden im Zusammenhang mit der Emigration ihrer Eltern nicht erwähnt. Siegmund und Paula Hamburger reisten am 28. April 1939 zunächst nach London. Dort wurden sie drei Monate als Ausländer interniert. Sie verließen Großbritannien im November 1940 mit Ziel USA. Dort ließ sich das Ehepaar in New Jersey nieder.
Hugo und Klara Henle verloren im Januar 1939 die Verfügung über ihre Geldmittel und ihr Vermögen. Darüber und über ihre Lebensversicherung mit einer Versicherungssumme von rd. 30.000 RM durften sie durch Anordnung des Oberfinanzpräsidenten vom 26. Januar 1939 nur auf Antrag und mit dessen Genehmigung verfügen. Die Giro- und Spareinlagen beliefen sich auf rd. 3.300 RM, das in festverzinslichen Wertpapieren angelegte Vermögen auf rd. 15.000 RM (Nennwert). Sie beantragten, monatlich 500 RM von ihrem Sperrguthaben für den Haushalt und für Privatverbrauch abheben zu dürfen. Genehmigt wurden 425 RM.
Hugo Henle war seit Juni 1937 durch einen Schlaganfall körperlich behindert, sein linker Arm war gelähmt. Die ab März 1939 intensivierten Vorbereitungen für die Emigration zogen sich hin.
Seit September 1937 lebte auch die mittellose Cäcilie (genannt Zilli) Lemberger, geborene Erlanger, eine geschiedene Schwester von Klara Henle, bei dem Ehepaar Henle, offiziell eingestellt als "Stütze" (Haushaltshilfe). Auch für sie bemühte sich Hugo Henle um Ausreisemöglichkeiten.
Hugo und Klara Henle sowie Zilli Lemberger wollten in die USA emigrieren. Die Vereinigten Staaten führten Wartelisten für Visumkontingente. Infolge der den Dreien zugeteilten hohen Wartenummern ließ sich das zunächst angestrebte Emigrationsziel USA nicht verwirklichen. Deshalb wollten sie mit Unterstützung von Verwandten zunächst nach Belgien flüchten und dort auf die Aufrufung ihrer Wartenummern für die USA warten. Doch auch die Einreiseerlaubnis für Belgien ließ auf sich warten.
Nachdem Verwandte in den USA sich verpflichtet hatten, für den Unterhalt der Drei zu sorgen und einen begrenzten Betrag für die Reisekosten bereitzustellen, beantragte Hugo Henle am 4. Dezember 1940 die Genehmigung für die Bezahlung von Schiffspassagen von Hamburg nach Yokohama aus dem gesperrten Vermögen, das noch 10.200 RM in Wertpapieren betrug. Der Oberfinanzpräsident verweigerte die Erlaubnis für "Fahrtausweise nach dem Fernen Osten ab deutscher Grenze gegen Zahlung in Reichsmark". Es hieß: "Solche Fahrtausweise dürfen nur gegen Zahlung in freien Devisen abgegeben werden".
Zum Verfügungsverbot über ihr eigenes Geld und Vermögen und die Enttäuschungen über die sich immer weiter verzögernde Ausreise kam nun noch hinzu, dass ihnen das Wohnungspflegeamt die Wohnung in der Goernestraße 12 zum 30. April 1941 kündigte. Das Ehepaar Henle und Zilli Lemberger fanden Unterkunft im Mittelweg 89 bei Dr. Emma Schindler. (Biographie Emma Schindler s. www.stolpersteine-hamburg.de)
Auch informierte das amerikanische Generalkonsulat Hugo Henle, dass er wegen seiner körperlichen Einschränkungen keine Einreiseerlaubnis für die USA erhalten werde. Deshalb wollte Klara Henle die Ausreise nun ohne ihren Ehemann versuchen.
Vorher mussten beide Frauen auch die Unterkunft im Mittelweg 89 verlassen, wahrscheinlich als Hugo Henle zwangsweise in das jüdische Altersheim in der heute nicht mehr bestehenden Beneckestraße 6 wechseln musste. Als Klara Henles letzte Hamburger Adresse findet sich in den Akten die Straße Beim Andreasbrunnen 6. Zilli Lemberger gab als ihre letzte Adresse die Straße Hochallee 66 an.
Das der Jüdischen Gemeinde gehörende Gebäude Beneckestraße 6 war wie die Häuser Beneckestraße 2 und 4 zu "Judenhäusern" bestimmt worden, in denen die Nationalsozialisten die Menschen zusammenpferchten, die nach ihrer Lesart Juden waren oder als solche galten. Bei "Judenhäusern" handelte sich meistens um Gebäude aus ehemals jüdischem Eigentum, ehemalige Stiftshäuser sowie Alters- und Pflegeheime. Diese Konzentration von Jüdinnen und Juden fungierte zugleich als Sammelstätten zur Vorbereitung der Deportationen.
Auf Veranlassung der Gestapo schloss die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, in Hamburg vertreten durch den Jüdischen Religionsverband, nun mit Jüdinnen oder Juden, die in das "Altersgetto" Theresienstadt deportiert werden sollten und noch über ein gewisses Vermögen verfügten, sogenannte Heimeinkaufsverträge ab, so auch mit Hugo Henle. Den älteren Jüdinnen und Juden wurde darin die lebenslange kostenfreie Unterbringung sowie ihre Verpflegung und Krankenversorgung zugesichert. Dafür mussten sie Vorauszahlungen, weitere Abgaben, Spenden und Vermögensübertragungen leisten. Diese Verträge entpuppten sich als Betrug, denn die Zusagen wurden in keiner Weise eingehalten. Die Vermögenswerte fielen letztlich dem Reichssicherheitshauptamt zu. Hugo Henle wurden auf diesem Wege in zwei Raten insgesamt 9.990,42 RM abgepresst. Dabei wurden formelle Verträge nicht einmal abgeschlossen, weil – wie es in einer Notiz der Reichsvereinigung der Juden - Bezirksstelle Norddeutschland - vom 27. November 1942 an die "Zentrale" in Berlin hieß – der Abschluss solcher Verträge mit Rücksicht auf die Kürze der im Juli zur Verfügung stehenden Zeit nicht durchführbar gewesen seien.
Im Juli 1942 gingen aus Hamburg zwei Transporte nach Theresienstadt ab, einer am 15. Juli mit 882 Personen und einer am 19. Juli mit 669 Personen. In den ersten Transport wurde auch Hugo Henle eingeordnet. Er überlebte die beschwerliche Reise nur kurz und starb in Theresienstadt am 16. September 1942.
Klara Henle konnte aus Deutschland entkommen. Im August 1941 erwähnte der Oberfinanzpräsident ihre beabsichtigte Ausreise nach den USA über Lissabon, die ihr im September 1941 sozusagen in letzter Minute glückte, denn im Dezember erklärten die USA dem Deutschen Reich den Krieg. Die Einzelheiten ihrer Flucht kennen wir nicht. Sie erreichte New York und lebte dort, bis sie am 7. Dezember 1946 verstarb.
Über Zilli Lemberger notierte die Devisenstelle des Oberfinanzpräsidenten am 15. November 1939, "Frau Lemberger hat vorläufig keine Auswanderungsmöglichkeit." Sie hielt sich im August 1941 noch in Hamburg auf, wie aus verschiedenen persönlich unterschriebenen Erklärungen im Zusammenhang mit ihren Ausreisebemühungen ersichtlich ist. Ihr Schicksal liegt im Dunkeln.
Kurt Siegbert Henle besuchte in England zunächst eine höhere Privatschule. Das Schulgeld wurde von Verwandten und Bekannten aufgebracht. Im Mai 1940 wurde er interniert und nach Australien überführt. Dort bereitete er sich im Lager auf das etwa der Reifeprüfung entsprechende Examen für das School Leaving Certificate vor, welches im Lager selbst von der Universität Melbourne abgenommen wurde. Er bestand die Prüfung im Dezember 1941. Im Oktober 1942 kehrte Kurt Siegbert Henle nach England zurück und begann ein Medizin-Studium. Zunächst besuchte er einen Vorbereitungskursus in Lancaster. In Newcastle upon Tyne erwarb er 1948 den Grad des Bachelors in Medizin und den in Chirurgie. Die zunächst von dem International Student Service bezahlten Studiengebühren erstattete er später wieder. Für die weitere Ausbildung am Kings College in London erhielt er einen Freiplatz. Verwandte und Freunde sorgten für seinen Lebensunterhalt. Durch Gelegenheitsarbeiten, Privatstunden und Übersetzungen trug er zu seinem Auskommen bei. Von 1950 bis 1952 leistete er als Militärarzt Heeresdienst.
Kurt Siegbert Henles Antrag auf 5.000 DM Entschädigung wegen Ausbildungsschadens wurden letztinstanzlich vom Landgericht Hamburg zurückgewiesen, weil – wie es hieß – die Unterbrechung des Besuchs der höheren Schule, die er aus Gründen rassischer Verfolgung habe hinnehmen müssen, nicht zu einem Schaden in seiner Berufsausbildung oder in seiner vorberuflichen Ausbildung geführt habe. Dies wurde zusammengefasst wie folgt begründet:
Kurt Siegbert Henle habe keinen nicht nur geringfügigen Zeitverlust erlitten, und er habe auch keine erheblichen Mehraufwendungen für die Erlangung der Ausbildung machen müssen. Er habe weitgehend Freiplätze bekommen und daher insgesamt sicherlich keine höheren Kosten durch das Studium gehabt. Er habe auch keinen Zeitverlust erlitten, wenn man den tatsächlich genommenen Ausbildungsgang mit demjenigen vergleicht, den er ohne Verfolgung in Deutschland unter Einschluss der durch den Krieg bedingten Umstände genommen haben würde. In Deutschland – so hieß es in dem Urteil des Landgerichts – wäre Kurt Siegbert Henle höchstwahrscheinlich zum Heeresdienst herangezogen worden. Aber selbst unabhängig von der Frage des Heeresdienstes, ergäbe sich kein nennenswerter Zeitverlust, denn durch die Kriegsverhältnisse hätte Kurt Siegbert Henle zumindest im Sommer 1945 (und wohl auch im vorangegangenen Semester) nicht studieren können, weil die Universitäten damals nicht arbeiteten. Er hätte, wenn er in Deutschland hätte bleiben können, nicht früher als in England seine Ausbildung zum Arzt mit der Erlangung der Approbation abschließen können.
Kurt Siegbert Henle kehrte nicht nach Deutschland zurück. Er nannte sich fortan Keith Stewart Henley und arbeitete am University Hospital in Ann Arbor, Michigan, USA.
Stand: März 2025
© Ingo Wille
Quellen: Adressbuch Hamburg diverse Jahrgänge, StaH 314-15 Oberfinanzpräsident FVg 7626 (Cäcilie Zilli Lemberger), F0983 (Hugo Henle), F0880 (Siegmund Hamburger), R1939/0312 (Firma Henla & Hamburger), 351-11 Amt für Wiedergutmachung 6091 (Hugo Henle), 46615 (Keith Stuart Henley), 10114 (Siegmund Hamburger), 522-01 Jüdische Gemeinde 0992_b_21783 und 21785 (Kultussteuerkarteikarten Hugo Henle, 522-1_1031_028 Liste Heimeinkaufsverträge (Blatt 8). Stadtarchiv Heibronn (StadtA HN, A040B 11) Geburtsregister Nr. 199/1886 (Klara Erlanger), (StadtA HN A40B-8) Geburtsregister Nr. 262/1883 (Hugo Henle). https://wiki.genealogy.net/RIR_256 (Reserve-Infanterie-Regiment 256), Aufruf am 27.2.2025.