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Hermann Boje * 1891
Schedestraße 13 (Hamburg-Nord, Eppendorf)
HIER WOHNTE
HERMANN BOJE
JG. 1891
EINGEWIESEN 1939
ALSTERDORFER ANSTALTEN
HEILANSTALT EICHBERG
"VERLEGT" 12.10.1943
HEILANSTALT HADAMAR
ERMORDET 29.10.1943
Herman Carl August Boje, geb. am 4.12.1891 in Göttingen, aufgenommen am 30.11.1932 in der Staatskrankenanstalt Langenhorn, verlegt am 18.9.1939 in die damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf), "verlegt" am 7.8.1943 in die "Landesanstalt Eichberg" im Rheingau, "weiterverlegt" am 12.10.1943 in die "Landesheilanstalt" Hadamar, ermordet am 29.10.1943
Schedestraße 13
Hermann Boje wurde am 4.12.1891 in der Burgstraße 13 in Göttingen geboren. Seine Eltern, der Werkzeugmacher und Schlosser Heinrich Hermann Boje, (geb. 1870) und Dorette Luise (Louise), geb. Schrader, (geb. 1866), hatten am 6. September 1891 geheiratet. Hermann Boje hatte noch zwei jüngere Geschwister, die ebenfalls in Göttingen zur Welt kamen.
Hermann Bojes Biographie und die darin eingeschlossene Zusammenfassung des "Friedrich-Langenhorn-Plans" wurden mit Zustimmung des Verfassers Michael Wunder dem Band "Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr" (siehe "Quellen") entnommen:
"Ich bin evangelisch-lutherisch getauft und besuchte 8 Jahre die Volksschule bis zur letzten Klasse", beginnt Hermann Boje seinen Lebenslauf, den er am 11. November 1937 für die Psychiater in Eilbektal aufschreibt.
"Nach meiner Schulentlassung trat ich als Werkzeugmacher-Lehrling in die vierjährige Lehre bei der Metallwarenfabrik H. B. Göttingen und blieb noch ein Jahr bei der genannten Firma als Geselle. Um mich weiter auszubilden, arbeitete ich bei verschiedenen Firmen und siedelte dann 1912 nach Hamburg über, wo ich, um mir weitere Kenntnisse zu erwerben, in verschiedenen Betrieben meiner Branche arbeitete. 1915 wurde ich dann zum Kriegsdienst als Pionier einberufen und machte die Schlachten vor Verdun in der Minenwerfer-Kompanie 243 mit, wurde dann aber in Rußland (Ukraine) durch einen Unterschenkelschuß rechts im Jahre 1916 verwundet und trug eine Beinverkürzung von 6 cm davon."
Hermann Boje beschreibt weiter in seinem Lebenslauf, wie er nach 1916 mit einer Militär-Rente entlassen wurde, dann aber wieder als Betriebstechniker in einem Zeichenbüro einer Schiffswerft in Hamburg anfing zu arbeiten. Später wurde er wieder Werkzeugmacher. 1918 heiratete er, 1923 wurde er Vater eines Sohnes. Drei Jahre betrieb er gemeinsam mit seinem Schwager und seinem Bruder eine kleine Metallwarenfabrik, die in der Inflationszeit in Konkurs ging. Danach arbeitete er erneut als Werkzeugmacher, wurde jedoch 1931 arbeitslos.
Sein Lebenslauf endet mit folgenden Sätzen: "Ferner will ich noch bemerken, dass mir im Kriege das Eiserne Kreuz II. Klasse sowie das Verwundeten-Abzeichen und später das Ehrenkreuz vom Reiche Adolf Hitlers verliehen wurde. Leider war es mir durch mein Leiden noch nicht möglich, eine passende leichtere Verdienstmöglichkeit zu finden, welche ich, was ich aber hoffe, noch ausführen kann."
1936 kommt Hermann Boje, nachdem er schon jahrelang in nervenärztlicher Behandlung war, zum ersten Mal in die Universitätsklinik Eppendorf. Die Ärzte in Eppendorf schildern seine Geschichte so: "Als er keine Arbeit fand, hatte sich eine Art Erbitterung in ihm festgesetzt. Allmählich wurde er niedergeschlagen und machte sich Sorgen um seine Zukunft. Er verrichtete seine Gelegenheitsarbeiten fieberhaft. Da er aber nicht fertig damit wurde, wurde er immer verwirrter."
Die Ärzte in Eppendorf geben sich Mühe. Sie befragen auch die Ehefrau. Diese erzählt, dass sich ihr Mann nicht mehr vollwertig fühle, seitdem er keiner geregelten Arbeit mehr nachgehen könne. Die Eppendorfer Ärzte entlassen Hermann Boje wieder. Ein Jahr später wird er in die ehemalige "Staats-Irrenanstalt Friedrichsberg" eingeliefert, die gerade im Rahmen des Friedrichsberg-Langenhorn-Plans aufgelöst wird.
In den Jahren 1935 und 1936 mussten die Alsterdorfer Anstalten im Rahmen des "Friedrichsberg-Langenhorner-Plans", mit dem die "Staatsirrenanstalt Friedrichsberg" (später "Psychiatrische und Nervenklinik Eilbektal", nach 1945 "Allgemeines Krankenhaus Eilbek") aufgelöst wurde, insgesamt 389 Patienten aus Friedrichsberg übernehmen. Die Patienten wurden nach einem abgestuften Plan der Sozialbehörde auf die anderen vorhandenen Krankenhäuser und Anstalten aufgeteilt: Die für die Forschung für interessant gehaltenen Fälle kamen in die neu geschaffene Universitäts-Psychiatrie zu Prof. Hans Bürger-Prinz (1897-1976), die unauffälligen, noch arbeitsfähigen in das damals gerade erweiterte Versorgungsheim Farmsen, die angeblich hoffnungslosen, psychisch kranken Menschen in die "Staatskrankenanstalt Langenhorn" und die noch arbeitsfähigen "Schwachsinnigen" in die Alsterdorfer Anstalten.
Hermann Boje hatte starke Angstzustände und war ständig unruhig. Mit der Diagnose "Schwächlicher, selbstunsicherer, abartiger Charakter" wird er zwei Monate später im November 1937 mit einem Sammeltransport nach Langenhorn verlegt. Hier wird er unter der Diagnose "Schizophrenie" geführt.
Innerhalb der nächsten beiden Jahre verschlechtert sich sein Zustand. Er verstrickt sich in Wahnideen, er zieht sich in sich selbst zurück. Die Ärzte urteilen: "Völlig untätig, substuporös" (d. h. im Zustand kurz vor einer geistig-körperlichen Erstarrung).
Mit dieser Diagnose passt Hermann Boje auch nicht mehr nach Langenhorn. Wenige Tage vor Kriegsbeginn wird er mit dreißig anderen männlichen Langenhorner Patienten, die die Ärzte in den Akten fast alle als "abgelaufene Fälle" bezeichnen, am 28. August 1939 nach Alsterdorf verlegt. "Ungeheilt", wie in der Langenhorner Akte vermerkt wird. Die "Langenhorner", wie sie in der Anstaltssprache in Alsterdorf genannt werden, sind dort nicht sehr beliebt. Man kann mit ihnen wenig anfangen. Kreyenberg [Anstaltsarzt in Alsterdorf] vermerkt in der Akte: "Sitzt den ganzen Tag auf einem Stuhl und hält den Kopf mit beiden Händen. An seiner Umgebung nimmt er nicht den geringsten Anteil, spricht auch nicht. Nur vor einigen Tagen meinte er, er könne entlassen werden [...] Zu irgendeiner Tätigkeit ist er nicht zu gebrauchen. Bei einiger Aufsicht hält er sich sauber, Nahrungsaufnahme ist gut."
Hermann Boje wird von Abteilung zu Abteilung verlegt. Am 15. Oktober 1940 füllen die Alsterdorfer Anstalten den Meldebogen für die "T 4-Zentrale" in Berlin aus. Im Februar 1941 wird dieser Meldebogen nach Berlin geschickt. Aufgrund des Stopps der "Aktion T4" kommt es nicht mehr zu einer Beurteilung durch die Gutachter in Berlin. Hermann Boje bleibt weiterhin in den Alsterdorfer Anstalten.
Im März 1943 vermerkt Kreyenberg in der Akte: "Er beschäftigt sich in keiner Weise. Lebt für sich und nimmt keinen Anteil an seiner Umgebung. [...] Man sieht ihn meistens mit beiden Händen das Gesicht bedeckend, auf einem Sitzplatz." Am 7. August 1943 wird Hermann Boje für den Abtransport nach Eichberg ausgesucht. Am 8. August kommt er dort an. Vom Anstaltsarzt Dr. Walter Schmidt wird er auf die Abteilung für "Männerbeobachtung" verlegt.
Schmidt kommt täglich auf die Abteilung und sondert diejenigen Männer ab, die im Tötungszimmer von ihm durch Injektionen getötet werden. Hermann Boje entgeht in den ersten Wochen dieser Selektion. Am 12. Oktober 1943 wird er jedoch für einen Sammeltransport in die nahe gelegene Anstalt Hadamar ausgesucht. Vierzehn Tage später ist er tot. Der letzte Eintrag der "Landesheil- und Erziehungsanstalt Hadamar/Nassau" lautet: ,,28.10.1943 – erkrankte an Darmgrippe mit Fieber. Herzschwäche. 29.10.1943 – erholte sich nicht mehr. Heute Exitus an Darmgrippe."
Was Hermann Boje in den letzten Wochen seines Lebens durchmacht, beschreibt kein Bericht, kein Akteneintrag. Es gibt nur diese gefälschte Todesursache.
Monate später, am 27. Januar 1944, benachrichtigt Hadamar die Ehefrau:
"Sehr geehrte Frau Boje! Herr Hermann Boje wurde am 12. 10. 1943 aus der Landesheilanstalt Eichberg in die hiesige Anstalt verlegt. Von der Verlegung können wir Sie erst heute in Kenntnis setzen, da wir erst jetzt die entsprechenden Akten von den Alsterdorfer Anstalten erhielten. Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass Herr Boje bereits am 29. 10. 1943 in der hiesigen Anstalt verstorben ist. Die Beisetzung erfolgte in aller Stille auf unserem Anstalts-Friedhof Grab-Nr. 366. Wir stellen es Ihnen anheim, einen einmaligen Betrag von 50,– RM zur ständigen Pflege der Grabstätte an uns zu überweisen. Gleichzeitig erbitten wir Mitteilung, ob Ihnen bekannt ist, wann und wo die Eheschließung des Herrn B. erfolgt ist [...] Für Ihre diesbezügliche Mitteilung danken wir Ihnen zuvor. Der Chefarzt."
Der Stolperstein wurde irrtümlich in die Bartelstrasse verlegt, eine Umsetzung in die Schedestrasse ist geplant.
Stand: August 2020
© Michael Wunder
Quellen: StaH 332-5_11431 Nr. 95/1920; StaH 332-5_8721 Nr. 254/1917; StaH 332-5_8727 Nr. 382/1918; Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf, Sonderakte V 112 Hermann Boje; Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner: Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, 3. Auflage, Stuttgart 2016, S. 20 ff. und S. 168 ff.