Namen, Orte und Biografien suchen
Bereits verlegte Stolpersteine
Suche
Erna Dreyer * 1897
Pappelallee 51 (Wandsbek, Eilbek)
HIER WOHNTE
ERNA DREYER
JG. 1897
EINGEWIESEN 1943
"HEILANSTALT"
AM STEINHOF WIEN
TOT AN DEN FOLGEN
14.7.1945
Erna Dreyer, geb. Thielck, geb. am 20.11.1897 in Hamburg, gestorben am 14.7.1945 in der Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien
Pappelallee 51 (Pappelallee 53)
Erna Dreyer starb im Alter von 47 Jahren an Auszehrung, verbunden mit einer psychischen Erkrankung, zwei Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Heil- und Pflegeanstalt "Am Steinhof" in Wien. Wie sie als Eilbekerin dorthin kam und noch nach Kriegsende ein Euthanasie-Opfer wurde, lässt sich nur in groben Zügen nachvollziehen.
Erna Dreyer stammte aus einer deutsch-schwedischen Familie. Ihre Mutter kam am 31. Mai 1860 als Johanne Kirstine Petersdotter in Südschweden zur Welt, ihr Vater, Friedrich Johann Jochim Thielck, wurde am 12. April 1865 in Jürgenshagen bei Bützow in Mecklenburg geboren und hatte das Schneiderhandwerk erlernt.
Aus den Geburtsregistereinträgen der Kinder ergibt sich, dass die Eheleute spätestens Mitte der 1890er Jahre nach Hamburg kamen und in der Langen Reihe 89 in St. Georg wohnten. Dort brachte Johanne Thielck am 7. Mai 1895 die Zwillinge Anna Dorothea, die jung an einer Lungenentzündung starb, und Alma Alwine zur Welt. Die dritte Tochter, Erna Johanna Louise, wurde am 20. November 1897 im Lühmannsweg in Eilbek geboren, dem Stadtteil, in dem sie aufwuchs und ihre eigene Familie gründete.
Erna besuchte die Volksschule in der Kantstraße. Ihr fiel das Lernen nicht leicht, besonders mit dem Rechnen tat sie sich schwer. Deshalb wiederholte sie zwei Klassen, nach der dritten Klasse, nach heutiger Zählung der sechsten, wurde sie aus der Schule entlassen. Mit vierzehn Jahren, ohne einen Schulabschluss, stand ihr nur offen, "in Stellung" zu gehen, um zum Familieneinkommen beizutragen. Sie fand verschiedene Anstellungen als Hausmädchen.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs lernte Erna den elf Jahre älteren Möbelpacker Hermann Wilhelm Karl Dreyer, geboren am 24. Dezember 1886, kennen. Als Erna im achten Monat schwanger war, heirateten sie am 19. Februar 1921 und wohnten gemeinsam mit im Haushalt von Friedrich und Johanne Thielck, die auch für die ältere Tochter Alma Alwine und deren (uneheliches) Kind sorgten.
Erna Dreyers erstes Kind lebte nur wenige Wochen. Am 22. Februar 1922 starb auch ihr Vater Friedrich Thielck in der gemeinsamen Wohnung in der Pappelallee. Gut ein Jahr später, am 23. Juli 1923, brachte Erna ein zweites Kind, einen gesunden Jungen, zur Welt.
Erna fiel ihrer Familie dadurch auf, dass sie sich sehr langsam bewegte, Hausarbeit mied und Kontakten mit ihrer Nachbarschaft auswich. Sie wurde wegen dieses Verhaltens im April 1924 zur Beobachtung in die damalige Staatskrankenanstalt Friedrichsberg überwiesen. Bei der Aufnahme kritisierten sich die Eheleute Erna und Hermann Dreyer in Gegenwart des aufnehmenden Arztes gegenseitig: der Mann fände seine Frau "dumm", sie wiederum tue sich mit seinem Alkoholgenuss schwer, fügte aber entlastend hinzu: "Er ist bei den Möbeln, und wer bei den Möbeln ist, trinkt. Er auch." Die Untersuchung Ernas ergab keinerlei körperliche Erkrankungen. Nach drei Wochen holte Hermann Dreyer seine Frau "gegen Revers", also auf eigenen Wunsch, nach Hause. Da er keine Änderung ihres Zustandes erwartete, wollte er sie bei dem Kind und bei sich haben. Der Arzt attestierte ihr bei der Entlassung eine leichte Besserung.
Die leichte Besserung hielt nicht lange an. Erna vernachlässigte ihren Mann und ihren Sohn, lief von zu Hause weg, bekam hin und wieder Wutanfälle und benahm sich "kindisch". Sie wurde wieder schwanger und kam aus nicht näher bekannten Gründen zur Behandlung in das Allgemeine Krankenhaus Barmbek. Von dort wurde sie am 1. April 1926 erneut nach "Friedrichsberg" überwiesen und mit der Diagnose "Chronische Psychose, fragliche Schizophrenie" aufgenommen. Diese vage Krankheitsbezeichnung änderte sich im weiteren Verlauf ihrer Behandlungen nicht grundsätzlich.
Bei ihrer Aufnahme wurden eine Körpergröße von 166 cm und ein Gewicht von 62 kg festgehalten und festgestellt, dass sie an einer latenten Syphilis litt. Erna bestand darauf, nie krank gewesen und auch jetzt gesund zu sein. Der einzige körperliche Krankheitsbefund betraf die Reflexe ihrer Pupillen und der Kniescheibensehnen. Im Gespräch mit dem Arzt kam sie immer wieder aufs Essen zurück. Angeblich lebte sie von Milch und Äpfeln. Nach dem damaligen neuesten Standard der Syphilis-Therapie wurde sie zu ihrer Heilung und zum Schutz des ungeborenen Kindes vor einer Infektion einer Malariakur unterzogen. Mutter und Kind überstanden die Kur gut, und im Juli kehrte Erna Dreyer zur Entbindung vorübergehend in das Barmbeker Krankenhaus zurück. Das Neugeborene wurde mit seiner Mutter zur weiteren Behandlung nach "Friedrichsberg" verlegt. Wie lange das Kind bei Erna blieb und wer es danach in seine oder ihre Obhut nahm, ist nicht bekannt.
Erna begann in der Nähstube zu arbeiten. Wann immer sie angesprochen wurde, antwortete sie stereotyp, dass sie entlassen werden möchte. Eines Tages schnitt sie sich ihren Zopf auf halber Länge ab und spülte ihn in der Toilette hinunter. Das Personal vermutete, dass sie damit ihre Entlassung erzwingen zu können hoffte, aber stattdessen wurde sie in den Wachsaal (s. Harry Becker) gebracht, wo sie unter ständiger Aufsicht stand.
Nach der Rückkehr in ihre Abteilung war sie im Verhalten unverändert. Sie strickte, ging im Garten spazieren und auf Urlaub zu ihrer Mutter oder empfing Besuch, der sie auch mit Esswaren versorgte. Alle Begegnungen waren sofort vergessen, während sie der Gedanke an Essen fortwährend beschäftigte und sie sich beklagte, dass sie nie ein Paket erhielte. Sie schickte ihrem Mann eine Postkarte, mit der sie sich bei ihm zur Feier des Geburtstags ihrer Mutter einlud, womit sie die Hoffnung verband, auch ihren kleinen Sohn wieder zu sehen. Hermann Dreyer hatte inzwischen eine Wohnung in der Kantstraße gemietet.
Erna Dreyers Zustand verschlechterte sich. Sie wurde noch abweisender, und ihre Unselbstständigkeit nahm zu. Während sie sich in "Friedrichsberg" in nachbarschaftlicher Nähe zu ihrer Familie befand, wurde sie mit der Verlegung in die damalige Staatskrankenanstalt Langenhorn am 12. Januar 1929 räumlich von ihr getrennt. Sie war inzwischen 32 Jahre alt. Ihre Eingewöhnung wurde durch mehrfache Verlegungen innerhalb der Anstalt erschwert. Trotz ihrer Freude am Essen aß Erna nicht selbstständig, sie stand mit leicht vornüber gebeugtem Oberkörper, wandte ihr Gesicht ab und vermied jede Berührung mit ihrer Umgebung. Sie sprach meist unverständlich leise vor sich hin oder schimpfte. Angebotene oder geforderte Beschäftigungen verweigerte sie.
Hermann Dreyer, Ehemann und zugleich eingesetzter Pfleger seiner geschäftsunfähigen Frau, unternahm 1932 einen ersten Schritt in Richtung Scheidung. Er erbat von der Anstaltsleitung eine Prognose der weiteren Entwicklung ihrer Erkrankung, die uneindeutig ausfiel. Von Amts wegen wurde ein Vormund eingesetzt, um Erna Dreyer in dem Scheidungsverfahren zu vertreten, das mit der Scheidung am 20. März 1933 endete.
Nach weiteren zwei Jahren in "Langenhorn" wurde Erna 1935 wieder verlegt. Die Anstalt musste nach der Schließung der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg 641 Kranke aufnehmen und suchte nun ihrerseits nach Räumlichkeiten. Die Anstaltsleitung konnte chronisch kranke Patientinnen im Emilienstift der Anscharhöhe in Hamburg-Eppendorf, einer christlichen Einrichtung, unterbringen und verlegte auch Erna Dreyer dorthin. Ihr Interesse beschränkte sich weiterhin auf Essen und Trinken, das An- und Ausziehen besorgte sie selber. Jahr für Jahr vermerkte Schwester Gertrud, Erna sei "unverändert, stumpf und gleichgültig", und fügte gegebenenfalls kleine Veränderungen hinzu, z. B. 1940: "sie hat meist die Hände am Kopf und tastet in ihrem Gesicht herum".
Durch die schweren Luftangriffe der Alliierten Ende Juli/Anfang August 1943 wurden auch die Wohnungen von Ernas Angehörigen in der Pappelallee zerstört, womit der Kontakt zu ihnen abriss. Hermann Dreyer lebte inzwischen in der Pappelallee 1 bei seiner neuen Ehefrau. Unmittelbar nach Ende der Bombardements, am 7. August 1943, wurde Erna aus dem Emilienstift, wo sie acht Jahre gelebt hatte, nach "Langenhorn" zurück- und schon eine Woche später nach Wien verlegt.
Im Zuge der katastrophenmedizischen Planungen des Deutschen Reiches mussten die psychiatrischen Anstalten Hilfslazarette einrichten oder wurden in solche umgewandelt. Für luftgefährdete oder gar zerstörte Räume wie Hamburg kam hinzu, dass die Patienten und Patientinnen in sicherere Gebiete gebracht werden sollten. Als staatliche Anstalt war "Langenhorn" in großem Maßstab in diese Verlegungen einbezogen. Die Anstaltsleitung organisierte mit Hilfe der Hamburger Gesundheitsverwaltung und verschiedener Stellen in Berlin Transporte in weiter entfernte Heil- und Pflegeanstalten. Auch nach dem Stopp der Anstalts-"Euthanasie" spielte wieder die T4-Zentrale in Berlin die entscheidende Rolle. Am 16. August 1943 wurden einige hundert Patientinnen aus den damaligen Alsterdorfer Anstalten und der Staatskrankenanstalt Langenhorn durch die "GekraT" (Gemeinnützige Krankentransport GmbH) mit den gefürchteten grauen Bussen zum Güterbahnhof Langenhorn transportiert. Dort mussten die Frauen und Mädchen in einen Zug umsteigen, die Nicht-Gehfähigen wurden umgeladen. Am 17. August kamen sie in der Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien, der früheren Musteranstalt Am Steinhof an und durchliefen das übliche Aufnahmeverfahren. Erna Dreyer war "desorientiert, ließ sich die Untersuchung ruhig gefallen, antwortete leise, mit wenigen Worten, darunter einigen Neuschöpfungen". Sie wusste die richtigen Antworten auf die Multiplikationsaufgaben von 3 x 3 und 3 x 17, andere nicht. Nach einigen Wochen hatte sie sich eingelebt und verbrachte die Tage im Aufenthaltsraum, außer wenn sie wegen stark geschwollener Beine im Bett liegen musste. Erstmals wurden in den Anstaltsberichten ihre Apathie und ihr zögerliches Antworten in einem Zusammenhang mit Gehemmtheit gesehen, und es wurde extra vermerkt, dass Erna niemals einen Wunsch äußere.
Ihr Gewicht schwankte leicht um 50 kg. Ein Jahr nach ihrer Aufnahme wurde sie in die dortige Pflegeanstalt verlegt. Jetzt verließ sie das Bett kaum noch, sprach nicht mehr, nickte aber noch zur Verständigung mit dem Kopf und nahm weiter ab. Ihr Gewicht sank auf 34,5 kg im Juli 1945.
Sie wurde nach Kriegsende, am 30. Juni 1945, noch einmal gründlich untersucht und befragt. Dem Arzt gelang es, durch seine direkte Ansprache Kontakt zu ihr herstellen. Seine Frage, warum sie nach Wien gekommen sei, konnte Erna nicht beantworten. Aber sie sprach von einem Paket, das sie nach der Entbindung von ihrer jetzt 19-jährigen Tochter erhalten habe, die zu ihr in die Anstalt gekommen sei. Tatsächlich hatte sie neunzehn Jahre zuvor, am 6. August 1926, im Krankenhaus Barmbek ihr drittes Kind zur Welt gebracht.
Am 14. Juli 1945 starb Erna Dreyer an "Auszehrung bei psychotischem Zustand". Die Anstalt schickte je eine Karte an die Mutter und den geschiedenen Ehemann in die Pappelallee in Eilbek. Beide Karten kamen wegen der "Zerstörung des Hauses" als unzustellbar zurück. Erna Dreyers Mutter, Johanne Thielck, war überdies am 8. Juni 1944 in der Wohnung ihres Schwiegersohns in Fuhlsbüttel verstorben. Es ging in beiden Karten um Erna Dreyers Beerdigung. Da keine Antwort kam, wurde ihr Leichnam der Stadt Wien zur Bestattung übergeben.
Stand Februar 2014
© Hildegard Thevs
Quellen: AB; Krankenakte der Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt, Wien, fotografiert von Ingo Wille im Wiener Stadt- und Landesarchiv, Wien, 2012; StaH 213-12 Staatsanwaltschaft Landgericht NSG, 0013/001 Quickert-Verfahren; 332-5 Standesämter 2364-1202 u. 1203/1895, 2440-2259/1897, 6593-69/1921, 7026-136/1922, 7279-536/1944; Jenner, Harald, 100 Jahre Anscharhöhe 1886–1986; Rönn, Peter von, Die Entwicklung der Anstalt Langenhorn in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Böhme, Klaus, Uwe Lohalm, Hg., Wege in den Tod, S. 27-136; Wunder, Exodus von 1943 in: Wunder/ Genkel/Jenner, Auf dieser schiefen Ebene; Michael Wunder, Die Auflösung von Friedrichsberg, 1990.