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Fanny Nathan 1939, Foto aus Personalausweis
Fanny Nathan 1939, Ausweisfoto
© Privat

Fanny Nathan (geborene Müller) * 1880

Bismarckstraße 54 (Eimsbüttel, Eimsbüttel)


HIER WOHNTE
FANNY NATHAN
GEB. MÜLLER
JG. 1880
DEPORTIERT 1941
ERMORDET IN
RIGA

Fanny Nathan, geborene Müller, geboren am 27. Juni 1880 in Herleshausen / Hessen, am 6. Dezember 1941 nach Riga-Jungfernhof deportiert

Bismarckstraße 54

Am 7. Februar 1908 erschien die Köchin Fanny Müller auf dem Standesamt Herleshausen und erklärte, sie sei "wohnhaft zu Herleshausen Haus 72 [sowie] israelitischer Religion". Sie "zeigte an, daß von der verstorbenen Henriette [Jettchen] Müller geborene Goldschmidt und ihrem verstorbenen Ehemann dem Viehhändler Salomon Müller, beide israelitischer Religion, wohnhaft damals in Herleshausen […] Haus Nr. 72, am siebenundzwanzigsten Juni des Jahres tausend acht hundert achtzig ein Kind weiblichen Geschlechts geboren worden sei welches den Vornamen Fanny erhalten habe. Die erschienene Fanny Müller erklärte ich bin die Geborene selbst. Meine dagenannten Eltern […] haben vergessen mich im Geburtsregister […] anzuzeigen so daß ich in dem Register nicht eingetragen bin und mache die [?] Anzeige selbst."

Auf Beschluss des königlichen Amtsgerichts Netra wurde der Eintrag am 18. März 1908 nachträglich vorgenommen. Zwei Wochen vorher, am 3. März 1908, hatte Fanny Müller in Essen den Bäckermeister Samuel (Sally) Nathan, geb. 17.2.1873 in Elten, geheiratet. Vermutlich war erst bei der Bestellung des Aufgebots aufgefallen, dass Fanny nicht im Geburtsregister eingetragen war.

Sie war das jüngste von fünf Kindern. Ihre Eltern hatten 1864 geheiratet, am 31.3.1865 kam die Tochter Johanna Selma zur Welt. Es folgten Minna Maria (geb. 15.8.1871), Levi (23.10.1875 bis 3.3.1895), Simon (geb. 18.6.1879) und ein Jahr später eben Fanny. Über das Schicksal ihrer Geschwister später mehr.

Fanny war erst sechs Jahre alt, als ihr Vater (geb. 8.8.1836) 1886 in Herleshausen starb.
Das Mädchen besuchte vermutlich die Israelitische Schule im Ort. Nach Ablauf ihrer Schulzeit lernte sie wahrscheinlich kochen und Haushaltsführung, denn mit 22 Jahren ging sie für sechs Monate als Haushälterin nach Rotenburg an der Fulda.
Ende Mai 1903 kehrte sie nach Herleshausen zurück, um dann ab August in Kassel in Dienst zu treten. Dort arbeitete sie in verschiedenen Familien als Haushälterin und Köchin, bevor sie nach Hamburg verzog. Ab November 1907 war sie in der Grindelallee 114 p bei Leopold, einer Schlachtermeisterfamilie, tätig.

Drei Jahre zuvor, am 25.10.1904, war Fannys Mutter Jettchen im Alter von 60 Jahren verstorben. Ihr Grabstein befindet sich noch auf dem Jüdischen Friedhof in Herleshausen.

Wo und wann Fanny ihren späteren Ehemann kennenlernte, wissen wir nicht. Für Samuel "Sally" Nathan war es die zweite Ehe. Der Bäckermeister hatte im November 1899 in Bochum die Fabrikarbeiterin Jenni Fränckel (geb. 23.6.1875 in Biblis) geheiratet und am 1. Dezember 1900 in Iserlohn eine Bäckerei eröffnet, 1904 kam ein Café hinzu. Zwischen 1900 und 1903 bekam das Ehepaar drei Kinder: Richard Josef, (geb. 20.9.1900 in Bochum), Antonia Selma (Toni), (geb. 3.1.1902 in Iserlohn) und Sophie Hilda, (geb. 4.8.1903 ebenfalls in Iserlohn). Dann traf die Familie ein harter Schlag: Jenny Nathan, erst 32 Jahre alt, starb am 15. September 1907 in Essen in der Huyssen-Stiftung (heute akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Duisburg-Essen). Samuel blieb mit den drei kleinen Kindern und seinem Betrieb allein zurück.

Ende Januar 1908 meldete Fanny sich von Hamburg nach Essen in die Grabenstraße 34 ab, dem Haus, in dem Samuel Nathan lebte. Vielleicht war sie ursprünglich als Haushälterin dort eingezogen. Wir wissen nicht, was sich in ihrer Ehe ereignete, jedenfalls kehrte sie 13 Monate nach der Heirat nach Hamburg zurück. Dies geht aus dem Eintrag auf ihrer Hamburger Meldekartei vom 30. April 1909 hervor, der lautet "Gemeldet als Frau Nathan".

Ihr Ehemann ist bis 1910 in den Essener Adressbüchern nachgewiesen. Im Dezember 1911 zog er mit seinen Kindern Richard und Toni von Dinslaken nach Moers, ab Mai 1914 lebte er in Homberg am Niederrhein, heute zu Duisburg gehörig. Fanny Nathan taucht in keinem der Melderegister auf, im Standesamtsregister Essen ist keine Scheidung verzeichnet.

Wie Fannys Leben seit ihrer Rückkehr 1909 nach Hamburg verlief, wissen wir nicht.
Im Adressbuch ist erst 1922 unter dem Nachnamen Nathan eine "Frau F., Partiewaren" mit der Adresse Bernhardstraße 17 verzeichnet. Diese Anschrift findet sich auch auf Fannys Kultussteuerkartei der Jüdischen Gemeinde Hamburgs, die 1925 angelegt wurde. Dort ist als ihr Beruf "Händlerin" angegeben. Die Einträge im Adressbuch bleiben bis 1935 unverändert, nur die Bernhardstraße wurde 1928 in Bernhard-Nocht-Straße umbenannt. Für 1937 und 1938 finden sich keine Einträge, vielleicht wohnte sie zu der Zeit in der Husumer Straße 10. Diese Anschrift steht auch auf der Kultussteuerkarte. Die Einträge in den Adressbüchern 1939 und 1940 lauten: "Nathan, Wwe (= Witwe) Fanny, Bismarckstraße 54". Sonderbarer Weise findet sich das Kürzel "vw" für "verwitwet" ebenso auf der Kultussteuerkarte. Ob Fanny wirklich glaubte, dass ihr Ehemann verstorben sei? Zu der Zeit lebte er noch in Homberg.

Samuel Nathan wurde am 25. Juli 1942 zusammen mit 976 anderen Personen aus den Regierungsbezirken Aachen und Düsseldorf in das Getto Theresienstadt deportiert. Der 69jährige Mann überlebte die schrecklichen Zustände fast drei Jahre lang und wurde nach der Befreiung in dem niederbayrischen Ort Deggendorf untergebracht, damals amerikanische Besatzungszone. Das dortige Lager für "displaced persons" war unmittelbar nach Kriegsende 1945 für Überlebende eingerichtet worden, darunter viele aus Theresienstadt. Samuel Nathan starb am 30. Januar 1948 in Deggendorf und wurde auf dem jüdischen Friedhof, der für verstorbene Lagerbewohner angelegt worden war, beigesetzt.

Fanny Nathan erhielt Anfang Dezember 1941 in der Bismarckstraße 54 den Deportationsbefehl nach Riga, wo sie ermordet wurde.

Sämtliche ihrer Geschwister erlitten das gleiche Schicksal:
Johanna Selma, ihre älteste Schwester, hatte Jakob Rosenbaum geheiratet, der 1935 verstarb. Sie wurde am 7. September 1942 von Kassel, wo sie bei ihrer Schwester Minna wohnte, nach Theresienstadt deportiert und am 29. September 1942 im Vernichtungslager Treblinka ermordet.

Minna, verheiratete Lazarus, wurde mit ihrem Mann Markus dem gleichen Transport von Kassel nach Theresienstadt zugeteilt, wo Markus Lazarus am 4. Mai 1943 und Minna am 19. Juni 1943 verstarb.

Simon Müller hatte ein Textilgeschäft in Duisburg ("Hosen-Müller"). Er und seine Frau Flora, geb. Kahn (geb. 2.1.1878), wurden am 11. Dezember 1941 von Düsseldorf aus nach Riga deportiert und überlebten ebenfalls nicht.

Samuel Nathans Tochter Toni war 1930 gestorben, aber seine beiden anderen Kinder, für die Fanny während ihrer Zeit in Essen 1908/1909 gesorgt haben wird, fielen ebenfalls der Shoa zum Opfer. Der Sohn Richard, wohnhaft in Homberg am Rhein, war mit einer Nichtjüdin verheiratet. Seine Frau starb 1942. Er wurde einem Arbeitslager der Organisation Todt zugeführt, die u.a. für den Ausbau der Untertageverlagerung von Rüstungsprojekten verantwortlich war. Richard musste im Lager Lenne im Landkreis Holzminden unter unmenschlichen Bedingungen leben und arbeiten. Wann er zu Tode kam, ist nicht bekannt, er wurde auf den 8. Mai 1945 für tot erklärt.

Samuels Tochter Sophie war viele Jahre in Elten bei ihrem Onkel Bernhard Nathan in dessen Schlachterei, Markt 8, beschäftigt. 1937 musste dieser das Geschäft, das er von seinem Vater übernommen hatte, aufgeben. Wie vier weitere Geschwister Samuels wurde auch er deportiert und ermordet.
1939 wohnte Sophie in Berlin-Weissensee in der Wörthstraße 20. Dieses Gebäude, 1902 als erste jüdische Arbeiterkolonie in Deutschland eröffnet, beherbergte damals ein "Dauerheim für jüdische Schwachsinnige", das erwachsene Behinderte aufnahm. 1935 wurde zusätzlich ein Mädchenheim eingerichtet.
Am 1. April 1942 war Sophie unter den ersten Bewohnerinnen und Bewohnern, die in das Warschauer Getto deportiert wurden. Dort verliert sich ihre Spur.

Seit 1951 heißt die Wörthstraße Smetanastraße, das Grundstück erhielt die Hausnummer 53. In der DDR diente das Gebäude als Verwaltungsgebäude, im Hof wurde ein Gedenkstein zur Erinnerung an die deportierten Bewohnerinnen und Bewohner aufgestellt. Im Sommer 2008 übernahm eine Baumanagementfirma das Grundstück und richtete dort offensichtlich Eigentumswohnungen ein

Stand: Juli 2024
© Sabine Brunotte

Quellen: 1; 3; 5; 6; Schriftliche Auskunft Stadtarchiv Kassel, E-Mail vom 9.2.2017; schriftliche Auskunft Haus der Geschichte/Stadtarchiv Essen vom 15.2.2017; schriftliche Auskunft Dr. Heinrich Nuhn, Rotenburg a.d. Fulda, E-Mail vom 7.3.2017; schriftliche Auskunft Eric Brück, Frankfurt/M., E-Mail vom 26.9.2017; schriftliche Auskunft Helmut Schmidt, Herleshausen, E-Mails vom 8.3. 2017, 11.3. 2017, 12.3.2017, 23.1.2020 und 8.2.2020; schriftliche Auskunft Stadtarchiv Emmerich, E-Mail vom 24.10.2017; schriftliche Auskunft Stadtarchiv Bochum, E-Mail vom 11.12.2019; schriftliche Auskunft Stadtarchiv Iserlohn, E-Mails vom 6.1.2020 und 6.8.2024; StaH Meldekartei 6640 D2; diverse Hamburger Adressbücher unter https://agora.sub.uni-hamburg.de/subhh-adress/; Juden in Emmerich, Hrsg. Emmericher Geschichtsverein 1993, S. 308, S. 418; http://www.homberg-unterm-hakenkreuz.de/index.php/Liste_der_ Juden, Zugriff 27.10.2019; https://de.wikipedia.org/wiki/Homberg_(Duisburg) Zugriff 27.10.2019; https://www.statistik-des-holocaust.de/TT420725-24.jpg, Zugriff 25.07.2024; https://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger_rhl_420725.html, Zugriff 25.07.2024;
https://www.bpb.de/themen/holocaust/erinnerungsorte/503219/erinnerungsstaette-fuer-zwangsarbeiter-in-der-zeit-des-nationalsozialismus-im-lenner-lager/ Zugriff 26.7.2024; https://collections.arolsen-archives.org/de/search/person/127187668?s=Sophie%20Nathan HYPERLINK "https://collections.arolsen-archives.org/de/search/person/127187668?s=Sophie Nathan&t=228742&p=1", Zugriff 26.7.2024;
http://www.jg-berlin.org/beitraege/details/die-juedische-arbeiterkolonie-und-asyl-i82d-2009-01-05.html Zugriff 26.7.2024.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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