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Julius Hess * 1861

Große Bleichen 3 (vormals Nr. 7) (Hamburg-Mitte, Neustadt)


HIER WOHNTE
DR. JULIUS HESS
JG. 1861
ENTRECHTET / GEDEMÜTIGT
FLUCHT IN DEN TOD
27.12.1938

Dr. Julius Hess, geb. am 26.12.1861 in Rotenburg, Freitod am 27.12.1938 in Hamburg

Große Bleichen 3 (Große Bleichen 7)

Julius Hess kam in Rotenburg an der Fulda als jüngster von drei Brüdern zur Welt. Die Eltern, die am 25. Mai 1845 in Schmalkalden in Thüringen geheiratet hatten, waren Herz Naftali (geb. 4.1.1819, gest. 25.1.1892) und Nanny/Nannette, geb. Plautberg (geb. 19.11.1820, gest. 30.6.1885). Der Vater Herz, ein Sohn des Viehhändlers David Hess (geb. 1793) und seiner Ehefrau Zerle/Zerline, geb. Herzberg (geb. 1785, gest. 1869), amtierte als Kreisvorsteher der Jüdischen Gemeinde in Rotenburg, zu der damals auch Baumbach, Bebra, Iba, Nentershausen und Sontra gehörten. Seit 1873 saß er im Rotenburger Stadtrat, 1888 im "ständigen Bürgerausschuss" und gehörte zu den größten Steuerzahlern der Stadt und des Landkreises. Er besaß das Gut Wüstefeld, das Kasernengebäude in der Bürgerstraße und seit 1878 die nach ihm benannte Hess’sche Mühle. Diese ehemalige landgräfliche Herrenmühle an der Fuldabrücke bauten seine Söhne Moritz Hess (geb. 20.5.1846) und Joseph Hess (geb. 17.12.1849, gest. 7.2.1926 in Kassel) zu einem leistungsfähigen Betrieb aus.

Anders als seine älteren Brüder, die als Großhändler den väterlichen Betrieb übernahmen, studierte Julius Hess Medizin. 1885 erhielt er in München seine Approbation und ließ sich 1888 als Facharzt für Nervenkrankheiten und Elektrotherapie in Hamburg in der Gerhofstraße 38 nieder. Ein Jahr später praktizierte er in den Colonnaden 13.

Am 8. September 1890 heiratete Julius Hess die Hamburgerin Caecilie Fanny Lion (geb. 22.1.1868), die jüdische Tochter des Kaufmannes Levin Lion und dessen Ehefrau Minna, geb. Leipziger. Ihr einziges Kind, Tochter Irma Natalie, wurde am 5. November 1891 in der Hansastraße 14 geboren. 1899 folgte ein Umzug in ein eigenes Haus, Klosterallee 10. Das Ehepaar Hess ließ sich, nach einem nachträglichen standesamtlichen Vermerk auf ihrer Heiratsurkunde, am 19. Oktober 1903 scheiden. Im folgenden Jahr verlegte Julius Hess seine Praxis und die Wohnung in die zweite Etage des Hauses Große Bleichen 7. Das Grundstück Klosterallee 10 wurde 1905 verkauft.

Tochter Irma, verheiratete Manoilovic, verließ Deutschland zu einem unbekannten Zeitpunkt. Sie lebte in Jugoslawien in Novi Sad nördlich der Donau. Ob sie sich später unter den mehr als 1000 Zivilisten befand, die im Januar 1942 von den ungarischen Besatzern in Novi Sad ermordet wurden, ist nicht bekannt.

Wie lange ihr Vater Julius Hess in den 1930-er Jahren noch praktizierte, geht aus den vorliegenden Unterlagen ebenfalls nicht hervor. Nachdem Spitzenfunktionäre der Ärzteschaft immer wieder forderten, die verbliebenen jüdischen Ärzte aus dem Berufsleben zu drängen, wurden sie zunächst nach einer neuen Verordnung aus dem Angestellten-Krankenkassen-Verband ausgeschlossen und waren nun auf Privatpatienten angewiesen. Im letzten Schritt, nach der vierten Verordnung zum Reichsbürgergesetz, entzog man ihnen zum 30. September 1938 die staatliche Zulassung, ihre Approbation. Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürfte Julius Hess seine Betätigung als Arzt eingestellt haben. Seinen Sechs-Zimmer-Haushalt in den Großen Bleichen führte seine langjährige nichtjüdische Haushälterin Elli Gimke. Einen Tag nach seinem 67. Geburtstag, am 27. Dezember 1938, fand sie ihren Arbeitgeber anders als gewöhnlich morgens um 11 Uhr noch schlafend vor. Eine Veronalglasröhre im Papierkorb kam ihr verdächtig vor. Ein herbeigerufener Kollege bestätigte den Verdacht einer Veronalvergiftung und veranlasste eine sofortige Überführung ins Israelitische Krankenhaus.

Julius Hess verstarb während des Transportes. Der Rechtsanwalt Richard Schwabe (geb. 7.9.1894, gest. 6.9.1978), der sich nur noch als "jüdischer Konsulent" bezeichnen durfte, wurde zum Nachlasspfleger bestellt.

Julius Hess hatte in- und ausländische Wertpapiere, Hypotheken, ein Bankguthaben und Kunstgegenstände besessen. Nach Abzug von "Nachlassschulden", wie rückständige Steuerschulden und die restliche "Judenvermögensabgabe" wurde sein Vermögen unter "Sicherungsanordnung" gestellt. Zuletzt erfolgte die öffentliche Versteigerung seines Haushaltes. Die Erträge aus dem Nachlass wurden zugunsten der Oberfinanzkasse Hamburg eingezogen.


Stand: Juli 2018
© Susanne Rosendahl

Quellen: 1; StaH 331-5 Polizeibehörde-Unnatürliche Sterbefälle 1939/385; StaH 314-15 OFP, R 1939/2533; StaH 332-5 Standesämter 1089 u 435/1938; StaH 332-5 Standesämter 8546 u 298/1890; StaH 332-5 Standesämter 9066 u 1579/1891; StaH 332-5 Standesämter 8631 u 153/1904; StaH 352-13 Karteikarten jüdischer Ärzte Nr. 14; StaH 314-15 OPF, R 1939/2533; Villiez: Kraft, S. 293; Morisse: Jüdische Rechtsanwälte, S. 159; Dokumentation der jüdischen Friedhöfe in Hessen, http://www.lagis-hessen.de/de/subjects/gsrec/current/41/sn/juf?q=hess (Zugriff 15.4.2012); www.hassia-judaica.de (Zugriff 15.4.2012); http://de.wikipedia.org/wiki/Novi_Sad (Zugriff 4.1.2015).
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

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