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Gerd Schulze * 1939
Hartmannsau 4 (Hamburg-Nord, Langenhorn)
HIER WOHNTE
GERD SCHULZE
JG. 1939
EINGEWIESEN 1942
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 7.8.1943
IDSTEIN / KALMENHOF
"KINDERFACHABTEILUNG"
ERMORDET 16.9.1943
Gerd Schulze, geb. am 16.6.1939 in Hamburg, Aufnahme in die ehemaligen Alsterdorfer Anstalten am 27.8.1942, "verlegt" in die "Heilerziehungsanstalt Kalmenhof" in Idstein am 7.8.1943, dort ermordet am 16.9.1943
Hartmannsaue 4
Die Eltern von Gerd Schulze, Gerda, geb. Lipper, und Karl Schulze, hatten 1934 geheiratet. Ihr erster Sohn Peter war im Juli 1937 in Hamburg zur Welt gekommen. Ihr zweites Kind sollte unter guten Bedingungen auf die Welt kommen. Sie hatten sich für die Privatklinik am Erdkampsweg 110 entschieden. Kurz vor ihrer Entbindung begab sich die 28-jährige Gerda Schulze dorthin. Nach zwei Tagen stellte der Fuhlsbütteler Arzt Dr. Wiese fest, dass das Kind verkehrt läge und nicht normal geboren werden könne. Er überwies die Mutter in die Frauenklinik Finkenau. Dort wurde eine Stirnlage festgestellt. Es war eine schwere Geburt.
Gerd Friedrich Wilhelm Schulze wurde am 16. Juni 1939 mit der Zange auf die Welt geholt. Er hatte dabei sehr gelitten und Krämpfe bekommen. Bei der Nahrungsaufnahme gab es Schwierigkeiten, ein Milchschorf-Ekzem kam hinzu, sodass Gerd von September bis November 1939 und ein weiteres Mal von Januar bis März 1940 zur Behandlung in die Eppendorfer Klinik kam. Trotz seiner Entlassung als "gebessert" traten keine wesentlichen Fortschritte ein. Die Eltern bemühten sich um Hilfe bei einem Homöopathen. Die "Eßlust" des Jungen verbesserte sich, das Ekzem jedoch verschlimmerte sich. Der Vater wollte nichts unversucht lassen und brachte Gerd in die Kinderklinik Rothenburgsort zur Privatbehandlung zu Dr. Wilhelm Bayer. Dort blieb Gerd von Januar bis Anfang April 1941. Er wurde von "künstlicher Nahrung" auf Vollmilch und Naturprodukte umgestellt, und das Ekzem bildete sich fast vollständig zurück. Sein zeitweiliger Widerstand gegen die Nahrungsaufnahme verringerte sich jedoch nicht. Im Gegenteil, nach seiner Entlassung verstärkte sie sich noch und erneut kam das Ekzem zum Ausbruch. Nochmals brachten ihn seine Eltern nach Rothenburgsort zur Behandlung von Ende April bis Juni 1941. Danach holte sich der Vater weiterhin dort Rat. Die Therapie mit einem Schilddüsenpräparat blieb jedoch ohne Erfolg.
Den Krankheitsverlauf von Gerd in der Folgezeit beschreibt sein Vater später in der Akte der "Alsterdorfer Anstalten" wie folgt: "Nach seiner Entlassung (teilweise Zerstörung des Krankenhauses durch Bombenangriff) pflegten wir den Jungen bis zum heutigen Tage mit allem was Eltern für ein Kind tun können. Das Ekzem verschwand vollkommen, aber die zeitweilige Nahrungsverweigerung blieb. Trotz guter Milchnahrung, Obst und Obstsäften in den Perioden wo das Kind mit Appetit aß, und auch unter Anwendung von Gewalt durch fortlaufend energisches Anbieten der Nahrung, blieb die Gewichtszunahme in keinem Verhältnis zu der Nahrungsaufnahme. Von Zeit zu Zeit holte ich mir Rat von Herrn Dr. Beier [Bayer, M.L.]. Zuletzt verordnete Herr Dr. B. – um Gerd geistig voran zu bringen – ein Schilddrüsenpräparat; aber auch dieses hatte keinen Erfolg; weder zum guten noch zum schlechten."
Im Februar 1942 wurde Gerds jüngerer Bruder Horst geboren. Mitte August 1942 hörten die Eltern bei einer Wiegestunde des Amtsarztes Dr. Gilsing in Langenhorn erstmalig, dass Gerd an einer "Nervenstörung" leide. Der Vater konsulierte daraufhin Dr. Röper in seiner Praxis Alsterterasse, der für Gerd die Diagnose "Schwachsinn" stellte. Um endgültige Gewissheit zu bekommen, wandte sich Karl Schulze dann am 22. August 1942 an Dr. Schäfer in den "Alsterdorfer Anstalten". Zwei Tage später, am 24. August 1942, bat er dann, seinen Sohn "zwecks Untersuchung und Beobachtung" dort aufzunehmen. Der Überweisungsschein von Gilsing lautete: "Das Kind ist der Alsterdorfer Anstalt überwiesen wegen Imbezillität zwecks Beobachtung!"
Am 27. August 1942 wurde Gerd Schulze in die "Alsterdorfer Anstalten" aufgenommen mit dem ärztlichen Gutachten von Oberarzt i. V. Dr. Schäfer und der Diagnose: "z.B. spastische Unterentwicklung der unteren Extremitäten Imbezillität". Einige Wochen später, Gerd war in die Abteilung 10 verlegt worden, protokollierte Dr. Kreyenberg am 15. September 1942: "[…] ist ein ruhiges und freundliches Kind, kann nicht sprechen, sieht aber sehr aufmerksam umher, er beschäftigt sich mit Spielsachen, bekommt volle Kost, muß gefüttert werden, Brot ißt er allein […]." In der Folgezeit ist bezüglich Gerds Entwicklung und Behandlung lediglich festgehalten, dass er eine Zeit unter Scharlach-Verdacht stand und an Windpocken erkrankt war.
Ein knappes Jahr nach seiner Aufnahme wurde Gerd laut Protokolleintrag vom 6. August 1943 von Dr. Kreyenberg "verlegt, da die Alsterdorfer Anstalten zerstört sind". Dieser harmlos klingende Satz bedeutete das Todesurteil für Gerd Schulze. Er wurde am 7. August 1943 zusammen mit 127 Patienten, Kindern und Männer aus den "Alsterdorfer Anstalten" und 82 männlichen Patienten aus der "Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn" vom Güterbahnhof Ochsenzoll nach Limburg transportiert. Dort wurden in der Nacht zum 8. August die Waggons mit 52 Jungen aus den "Alsterdorfer Anstalten", darunter Gerd Schulze, abgehängt und nach Idstein in die "Heilerziehungsanstalt Kalmenhof" verbracht.
Einen Monat und zehn Tage später war Gerd Schulze tot. In der Sterbeurkunde ist sein Tod aufgrund der mündlichen Anzeige des Leiters der "Heilerziehungsanstalt Kalmenhof" in Idstein beurkundet: "Anstaltspflegling Gerd Friedrich Wilhelm Schulze – evangelisch – wohnhaft in Idstein, Kalmenhof ist am 16. September 1943 um 1 Uhr 45 Minuten in Idstein in dieser Wohnung verstorben." Als Todesursache ist angegeben: "Imbezillität" (geistige Behinderung), "Ernährungsstörung, Allgem. Schwäche, Kreislaufschwäche". Gerd wurde vier Jahre und drei Monate alt.
Die meisten Kinder, die gemeinsam mit Gerd in die "Heilerziehungsanstalt Kalmenhof" gekommen waren, verstarben dort nach kurzer Zeit. Im Rahmen der "Euthanasie"-Aktion der nationalsozialistischen Machthaber, der "Aktion T4" (benannt nach dem Sitz der Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin), wurden dort in der sog. Kinderfachabteilung Kinder und Jugendliche durch Medikamentenvergiftung, meist durch Spritzen einer Überdosis des Schlafmittels Luminal, ermordet. Ein elfjähriger Junge, der überlebte, konnte später Zeugnis ablegen und im Hauptprozess gegen den Anstaltsleiter Wilhelm Großmann aussagen.
Wann und durch wen Gerds Eltern von der "Verlegung" und dem Tod ihres Sohnes erfuhren, ist nicht bekannt. Aus der Korrespondenz 1944 mit der Sozialverwaltung über die noch ausstehende Übernahme der Pflegekosten ist zu ersehen, dass Gerds Mutter die Pflegekosten nicht übernehmen konnte, da ihr Ehemann seit Anfang des Krieges "bei der Polizei eingezogen" war und sie mit zwei Kindern lediglich von der Familienunterstützung leben musste. Am 7. August 1944 schrieb Frau Schulze an die "Alsterdorfer Anstalten": "Irgendwer muss doch auch diese Kosten übernehmen, da mein Mann im Felde ist und ich nur Familienunterstützung bekam. Das Kind ist im Sept. 43 gestorben und ich habe bis jetzt an der Beerdigung abzuzahlen gehabt."
Kurz nach Kriegsende musste die Familie erneut den Verlust eines Kindes erleiden. Der im Juni 1945 geborene vierte Sohn Klaus lebte nur einen Monat. Er verstarb im Kinderkrankenhaus der Freien evangelisch-lutherischen Bekenntniskirche St. Anschar "Kastanienhof", Tarpenbeckstraße 107, an "Ernährungsstörung Intoxikation".
Ein Jahr später, im Oktober 1946, wurde der fünfte Sohn Axel geboren. Er verstarb im Jahr 2016, der Bruder Horst im Jahr 2010 und der älteste Bruder Peter im Jahr 2015.
Stand: Januar 2023
© Margot Löhr
Quellen: StaH, 213-12 Staatsanwaltschaft, 0018 Quickert, Wiegand, Dr., u. a: StaH, 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn, Ablieferung 1/1995 Abl. 2000/01; Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf, Patientenakte V 84; Evangelische Stiftung Alsterdorf, Auskünfte Michael Wunder; Stadtarchiv Idstein, Auskünfte Claudia Niemann, Sterberegister Standesamt Idstein 170/1943; Klaus Böhme/Uwe Lohalm (Hrsg.): Wege in den Tod. Hamburgs Anstalt Langenhorn und die Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus, Hamburg 1993; Herbert Diercks: "Euthanasie". Die Morde an Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in Hamburg im Nationalsozialismus, hrsg. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Hamburg 2014; Harald Jenner/Michael Wunder: Hamburger Gedenkbuch Euthanasie. Die Toten 1939–1945, hrsg. von der Senatskanzlei Hamburg und der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg, Hamburg 2017; Michael Wunder: Euthanasie in den letzten Kriegsjahren. Die Jahre 1944 und 1945 in der Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn, Husum 1992; Michael Wunder/Ingrid Genkel/Harald Jenner: Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Hamburg 1987.