Namen, Orte und Biografien suchen


Bereits verlegte Stolpersteine


zurück zur Auswahlliste

Ailce und Siegmund Cohn
© Privatbesitz

Alice Cohn (geborene Gottschalk) * 1887

Eppendorfer Baum 19 (Eimsbüttel, Harvestehude)

1941 Minsk
ermordet

Weitere Stolpersteine in Eppendorfer Baum 19:
Siegmund Cohn, Anna Franziska Cohn

Alice Jenny Cohn, geb. Gottschalk, verw. Isenberg, geb. 27.10.1887 in Berlin, am 8.11.1941 nach Minsk deportiert
Siegmund Cohn, geb. 19.12.1878 in Hamburg, am 8.11.1941 nach Minsk deportiert

Eppendorfer Baum 19

Alice Cohn war die Tochter von Meir und Melanie Gottschalk, geb. Pincus. Als sie elf Jahre alt war, starb ihre Mutter. Alice hatte drei Schwestern – Eva, Hedwig und Antonie – und einen Bruder, Walter. Bis auf Hedwig, die mit ihrer Familie nach Südamerika auswandern konnte, sind später alle ihre Geschwister mit Ehepartnern und Kindern deportiert und ermordet worden.

Alice wuchs in einer wohlhabenden assimilierten Berliner Familie auf, die in Wilmersdorf und Charlottenburg lebte. Regelmäßige Ferienreisen, u. a. in die Schweiz, gehörten zum Lebensstil. Ihr Vater muss ein fortschrittlich eingestellter Mann gewesen sein, der die Vorteile einer Berufsausbildung für Frauen sah – Alice besuchte die "Handels- und Gewerbeschule" des Lette-Vereins. 1866 hatte Wilhelm Adolf Lette in Berlin den "Verein zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts" gegründet, mit dem Ziel, unverheirateten Frauen eine Ausbildung und damit eine eigenständige Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Sie konnten sich zur Schneiderin, Zeichnerin, Kunsthandarbeiterin, Setzerin oder Telegrafistin ausbilden lassen und so später eine Stelle in Handel oder Industrie finden. Der Lette-Verein als Träger verschiedener Berufsfachschulen besteht heute noch, im November 2002 feierte er sein 100-jähriges Jubiläum.

Da Alice Gottschalk später als wissenschaftliche Zeichnerin im Eppendorfer Krankenhaus tätig war, ist zu vermuten, dass sie Schülerin der Photographischen Lehranstalt war. Hier wurden auch wissenschaftliche Photographinnen und Photographische Schwestern (Röntgenschwestern, später medizinisch-technische Assistentinnen) mit diversen Spezialisierungen (u. a. ab 1905 wissenschaftliches Zeichnen) ausgebildet. Da das Archiv in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs stark zerstört wurde, sind keine Schülerdaten aus der Zeit vor 1945 mehr vorhanden. Es ist also nicht bekannt, wann Alice die Schule besuchte. Wir wissen auch nicht, wann und wo sie den Zahnarzt Sally Isenberg, geb. 29. Mai 1876 in Marburg, kennenlernte. Die beiden heirateten und am 6. April 1911 wurde ihre Tochter Melanie in Hamburg geboren. Drei Jahre später – am 10. November 1914 – fiel Sally Isenberg als Soldat in Flandern. Alice versuchte, mit dem Anfertigen anatomischer Zeichnungen Geld zu verdienen und arbeitete für das Eppendorfer Krankenhaus. Ihre Arbeiten blieben nicht erhalten.

Einige Jahre nach dem Krieg heiratete Alice den neun Jahre älteren Kaufmann Siegmund Cohn, Sohn von Marcus und Marianne Cohn, geb. Hirschel. Dieser wohnte bis zur Hochzeit mit seiner verwitweten Mutter und seiner ein Jahr jüngeren Schwester Anna Franziska (s. dort) zusammen in der Rutschbahn Nr. 15. Dann zog er in die Wohnung seiner Frau Alice am Eppendorfer Baum 19. Von Beruf war er "Makler in überseeischen Rohprodukten" und Inhaber einer eigenen Firma. Es ist also anzunehmen, dass er eine kaufmännische Ausbildung absolviert hatte. Am 18. Dezember 1922 wurde Charlotte, die Tochter von Alice und Siegmund, geboren. Bei meinem Besuch in London im Jahr 2008 erinnerte sie sich daran, dass ihre Mutter malte, und dass sich viele ihrer Bilder und anatomischen Zeichnungen in der elterlichen Wohnung befanden. Alice portraitierte unter anderem auch ihre Tochter. Leider ist keines der Bilder erhalten geblieben, aber Charlotte hat das Talent ihrer Mutter geerbt und malt auch. Ihre Eltern hätten eine glückliche Ehe geführt, meinte sie. Da Alice gut Klavier spielte, traf sich das Ehepaar regelmäßig mit Max und Goldi van der Walde (s. Iwan van der Walde), um gemeinsam zu musizieren. Als Frau durfte Alice nicht Mitglied in der Nehemia Nobel-Loge sein, engagierte sich aber in deren "Ausschuss der Schwesternvereinigung", die jüdischen Emigranten aus Osteuropa bei der Weiterreise nach Amerika half. Wie zu Siegmunds Schwester war auch der Kontakt zu Alices Geschwistern eng. Durch Besuche bei ihnen in Berlin wurde die Verbindung gehalten, wobei Charlotte unter ihren Cousinen und Cousins die Jüngste war.

Melanie, Alices Tochter aus erster Ehe, absolvierte eine Banklehre und arbeitete bis zu ihrer Emigration bei der Warburg Bank in Berlin. Im Frühjahr 2008 ist sie in Südafrika gestorben.

Durch den Altersunterschied von zehn Jahren und die räumliche Trennung hatten die beiden Halbschwestern Charlotte und Melanie keine enge Beziehung. Charlotte wuchs in Hamburg sehr behütet auf. Ihre Eltern ließen sie die schwierige Lage in den 1930er Jahren nicht spüren. Ihren Vater beschrieb sie als "very German" und "very kind". Er habe sich sehr für Geschichte interessiert, für den Ersten Weltkrieg und für Expeditionen wie die von Sven Hedin. Der schwedische Geograph unternahm über Jahrzehnte hinweg mehrere Forschungsreisen nach Zentralasien und entdeckte und erforschte u. a. den Transhimalaya. Neben wissenschaftlichen Werken schrieb er vielgelesene volkstümliche Reisebücher. Diese Themen versuchte Siegmund Cohn auch seiner Tochter nahezubringen. Auf gemeinsamen Spaziergängen im Stadtpark unterhielten sie sich darüber. Siegmund hatte dann einen Spazierstock mit silbernem Griff dabei, den Charlotte gern hinter sich herzog – was ihrem Vater weniger gefiel.

Charlotte war nach dem Besuch der Volksschule auf das Mädchenlyzeum Curschmannstraße gewechselt. Nach zwei Jahren musste sie die Schule wegen der Anfeindungen gegen jüdische Kinder verlassen und wurde zuerst in die Höhere Jüdische Mädchenschule Johnsallee, anschließend in die jüdische Mädchenschule Carolinenstraße umgeschult. Damit sie später studieren konnte, schickten ihre Eltern, die beide gut Englisch sprachen, sie nach England auf ein Internat. Wahrscheinlich hatte ein Geschäftsfreund ihres Vaters die dafür notwendige Bürgschaft übernommen. Bei der Abreise im Oktober 1938 ahnten die drei nicht, dass sie sich nie wiedersehen würden.

Obwohl Charlotte sehr an ihren Eltern hing, war sie froh, Deutschland verlassen zu können. Sie fühlte sich auf der von Quäkern geleiteten Schule wohl und mochte die anderen Kinder. Sie spielte Hockey und sprach genug Englisch, um zurechtzukommen. Mit ihren Eltern blieb sie in Briefkontakt. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges änderte sich ihre Situation allerdings dramatisch. Ihre Schule lag in Küstennähe und damit im Sperrgebiet für Ausländer, außerdem blieb das Geld von zu Hause aus – Charlotte musste das Internat verlassen und ging nach London, wo sie sich nur mühsam über Wasser halten konnte. Später fand sie Arbeit beim Jewish Refugee Committee. 1944 heiratete sie und bekam mit ihrem aus Leipzig stammenden Ehemann zwei Söhne. "Meine Eltern verloren ihre Familien und ihre Jugend. Das beeinträchtigte den Rest ihres Lebens und wirkte sich auch auf mein Leben und das meines Bruders aus", schrieb mir der eine, als er von diesem Buchprojekt erfuhr.

Zumindest einen langgehegten Wunsch konnte Charlotte sich erfüllen. Als ihre Kinder aus dem Haus waren, holte sie das ersehnte Studium nach. Sie belegte Kurse in "humanities", geistes- und kulturwissenschaftlicher Lehre und Forschung an der "Open University", der größten staatlichen Universität in Großbritannien, die Kurse, Zertifikate, Diploma und andere Universitätsabschlüsse im Fernstudium anbietet. 1974 schloss sie mit einem Bachelor of Arts Honours ab.

Nach dem Krieg erfuhr Charlotte, dass ihre Eltern nach Minsk deportiert wurden. Eine ihrer ehemaligen Lehrerinnen aus der Volksschule Breitenfelderstraße, Valeska Wulf, hatte sich damals über die geltenden Bestimmungen hinweggesetzt und Kontakt zu einigen Eltern ihrer emigrierten jüdischen Schülerinnen gehalten. Sie besuchte auch Alice und Siegmund Cohn weiterhin. Am Tag vor der Deportation übergab Alice ihr einen Karton mit Familienfotos zur Aufbewahrung für Charlotte, der dieser anlässlich eines Hamburgbesuchs ausgehändigt wurde. Valeska Wulf, die als einzige ihres Kollegiums nicht in die NSDAP eingetreten war, soll während des Krieges inhaftiert gewesen und zur Beseitigung von Bombenschäden herangezogen worden sein. Ob dies im Zusammenhang mit ihrer Widerständigkeit stand, bleibt zu klären. Charlotte konnte Valeska Wulf in der Nachkriegszeit mit Paketsendungen unterstützen und möchte ihre Dankbarkeit gegenüber der Lehrerin auch dadurch ausdrücken, dass diese hier gewürdigt wird.

© Sabine Brunotte

Quellen: 1; 4; StaH Jüdische Gemeinden, 992e Bd.2; Schriftl. Auskunft Charlotte Stenham vom 11.5. 2008; Mündl. Auskunft Charlotte Stenham vom 20.5.2008; E-Mail Lette-Verein Jana Haase vom 17.7.2008; Broschüre Lette-Verein Berlin, Ausgabe Herbst 2005; www.denkmalprojekt.org/Verlustlisten, Zugriff vom 2.6.2010, betr. Gedenkbuch des Reichsbund jüdischer Frontsoldaten; telefonische Auskunft Prof. Holstein, UKE, vom 12. 8. 2008; telefonische Auskunft Isi Werner vom 3.7.2008; Weinke, "Ich bin Volljüdin ...", in: Wamser/Weinke, Eine verschwundene Welt, 2006; dtv Lexikon Mannheim und München 1997 zu Sven Hedin; schriftliche Auskunft Jeremy Stenham, E-Mail vom 12.5.2008; schriftliche Auskunft Ro­bin Stenham, E-Mail vom 23.7.2010; wikipedia zu "humanities" and "open university", Zugriff vom 16.8.2010.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Recherche und Quellen.

druckansicht  / Seitenanfang