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Albert Gradenwitz * 1897
Rutschbahn 31 (Eimsbüttel, Rotherbaum)
HIER WOHNTE
ALBERT GRADENWITZ
JG. 1897
DEPORTIERT 1941
MINSK
1942 PLASZOW
1944 NATZWEILER-STRUTHOF
AUF TRANSPORT NACH
SACHSENHAUSEN
ERMORDET
Weitere Stolpersteine in Rutschbahn 31:
Vera Gradenwitz, Margot Gradenwitz, Moritz Pilatus, Anna Pilatus, Günther Pilatus
Bertha Vera Gradenwitz, geb. Zolinski, geb. 8.7.1906 in Hamburg, eingewiesen in die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn am 7.11.1940, verlegt in die Jacoby’sche Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn bei Koblenz am 21.4.1941, deportiert nach Izbica am 22.3.1942
Albert Gradenwitz, geb. 8.1.1897 in Prausnitz/ Trebnitz bei Posen (heute: Prusice, Dolnoslaskie, Polen), deportiert am 8.11.1941 nach Minsk, weiter deportiert über mehrere KZs ins KZ Sachsenhausen am 12.10.1944 (Stolperstein geplant)
Rutschbahn 31 (Eimsbüttel, Rotherbaum)
Bertha Vera Zolinski und Albert Gradenwitz waren beide Nachkommen jüdischer Eltern. Sie hatten am 3. Februar 1927 in Hamburg geheiratet und am 16. Juli 1928 die Tochter Margot bekommen. Wenige Monate nach der Totgeburt eines Knaben am 16. April 1929 wurde die Ehe am 23. Januar 1930 geschieden. Beide Eheleute wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Ihre Tochter Margot verließ Deutschland noch rechtzeitig im Mai 1939 mit einem Kindertransport nach England.
Bertha Vera Zolinski (verheiratete Gradenwitz) war am 8.7.1906 in Hamburg zur Welt gekommen. Sie war die Tochter des promovierten Lehrers Joseph Zolinski, geboren am 26.6.1870 in Jaraszewo (damals Kreis Jarotschin, ab 1887 Regierungsbezirk Posen, heute Woiwodschaft Großpolen), und seiner Ehefrau Hertha, geb. David, geboren am 7.12.1880 in Hamburg. Ein Jahr vor Bertha Veras Geburt hatte das Ehepaar Zolinski bereits ein Kind bekommen, das am Tag nach seiner Geburt starb und auf dem Jüdischen Friedhof in Ohlsdorf beigesetzt wurde (Grablage A10 Nr. 401).
Bertha Veras Eltern hatten am 2. August 1904 in Hamburg geheiratet. Die Familie, zu der neben Bertha Vera die Töchter Ada Lotte Vita, geboren am 16.9.1907, Hanna Erna, geboren am 21.11.1910, und der Sohn Herbert, geboren am 18.1.1921, gehörten, wohnte im Grindelviertel im Stadtteil Rotherbaum, in der Roonstraße 38, im Stadtteil Hoheluft-West und schließlich in der Straße Loogestieg 6 in Eppendorf. Joseph und Hertha Zolinski waren mehrere Jahre im Hamburger Adressbuch je für sich eingetragen, Joseph als "wissenschaftlicher Lehrer" und Hertha mit der Ergänzung "Neuheitenvertrieb". Wahrscheinlich waren beide Eheleute beruflich eigenständig aktiv.
Joseph Zolinskis Berufsbezeichnung im Adressbuch deutet auf seine seit etwa 1903 geführte private Lehreinrichtung zur Vorbereitung junger Leute auf das "Einjährig freiwillige Examen" hin. Er gab Schülern höherer Schulen Nachhilfeunterricht. Zudem bot er "besondere Beamtenkurse, Privatstunden und Brieflichen Unterricht in allen Sprachen und Wissenschaften" an. Die Hamburger Oberschulbehörde beobachtete Joseph Zolinskis Tätigkeit über Jahre mit Skepsis. Sie verdächtigte ihn, seinen Schülern nicht gerechtfertigte "brilliante Zeugnisse" auszustellen. Erst im September 1918 kam ein Gremium, die "Zweite Sektion" der Oberschulbehörde, zu dem Ergebnis, dass strafbare Handlungen nicht vorlägen, aber Schulentlassene seien nicht auf Prüfungen vorbereitet worden. Möglicherweise infolge dieses Konfliktes mit der Hamburger Schulbehörde musste Joseph Zolinski sein "Unterrichts-Institut Rex" schließen. Er war nun arbeitslos. Aufgrund der dadurch entstandenen wirtschaftlichen Probleme war das Ehepaar Zolinski auf einen Zuverdienst angewiesen und vermietete ein Zimmer unter.
Im Oktober 1923 wanderte Joseph Zolinski, begleitet von seiner Tochter Ada Lotte Vita, die stets Charlotte oder Lotte genannt wurde, in die USA aus. Vielleicht erhoffte er sich in Amerika bessere berufliche Möglichkeiten als in Hamburg. Auf der Passagierliste des Dampfers "Jeanette Kayser" wurde er als "Rabbi" geführt. Nachdem Vater und Tochter in New Orleans an Land gegangen waren, ließen sie sich in Baltimore im Staat Maryland nieder. Joseph Zolinski fand eine Anstellung als Katalogisierer und Klassifizierer in der Orient-Abteilung der Johns Hopkins Bibliothek und erwarb 1929 die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er hieß jetzt Zolin.
Charlotte Zolinski, die als Schneiderin in den Einwanderungsdokumenten geführt wurde, beantragte zwar 1928 ebenfalls die amerikanische Staatsbürgerschaft, erhielt sie aber erst 1941, als sie erneut deswegen vorstellig wurde. Sie besuchte 1928 noch einmal ihre Hamburger Familienangehörigen. Nach einer 1931 in New York geschlossenen und später geschiedenen Ehe mit dem aus Nürnberg stammenden, 1902 geborenen Reinhart Schönberger, heiratete sie ein zweites Mal. Sie hieß nun Charlotte Foster Zolin und bekam zwei Kinder. (Hochbetagt starb sie am 12. Juli 2015 in Venice, Florida. Dort hatte sie zuletzt auch gewohnt.)
Hertha Zolinski blieb in Hamburg, sie lebte mit ihrer Tochter Bertha Vera und Sohn Herbert in der Wohnung im Loogestieg 6. Ob hier auch die Tochter Hanna Erna wohnte, wissen wir nicht.
Albert Gradenwitz hatte 1919 bei der Familie Zolinski am Loogestieg 6 seine erste Hamburger Unterkunft gefunden und dort Bertha Vera, seine künftige Ehefrau, kennengelernt. Der am 3.2.1897 geborene Handlungsgehilfe und Reisende für eine Druckfirma stammte aus dem in der Nähe von Posen gelegenen Ort Prausnitz (heute Prusice, Dolnoslaskie, Polen). Möglicherweise war er seinem älteren Bruder Ismar, der seit 1918 in Hamburg lebte, in die Hansestadt gefolgt.
Das Untermietverhältnis im Loogestieg 6 endete 1926 als Albert Gradenwitz die Miete für das Zimmer aufgrund längerer Arbeitslosigkeit nicht mehr aufbringen konnte. Auch Albert Gradenwitz‘ 1922 nach Hamburg zugewanderter Vater Raphael Gradenwitz konnte ihn nicht unterhalten, wie dieser dem Wohlfahrtsamt erklärte. Albert durfte jedoch in der Wohnung seines Vaters und seiner Stiefmutter in der in Eimsbüttel gelegenen Koopstraße 1 in einem Zimmer, das sein Bruder Bruno und sein Halbbruder Siegfried bewohnten, auf dem Sofa schlafen.
Raphael Gradenwitz, Sohn eines Kantors, war 1865 ebenfalls in Prausnitz zur Welt gekommen. Er hatte am 13. November 1894 die am 22.12.1868 in Ostrowo in der Provinz Posen (heute Ostrow Wielkopolski, Polen) geborene Martha Pietrkowski geheiratet und mit ihr außer Albert weitere fünf Kinder bekommen, die alle in Posen zur Welt kamen: Ismar Fred Gradenwitz, geboren am 22.9.1895, Rosa Gradenwitz, geboren am 28.8.1898, Moritz Gradenwitz, geboren am 19.1.1900, Klara (Clara) Gradenwitz, geboren am 27.9.1902 und Bruno Gradenwitz, geboren am 17.9.1904.
Nachdem Martha Gradenwitz 1910 in Posen gestorben war, hatte Raphael Gradenwitz am 3. Mai 1912 in Berlin die in Aurich/ Ostfriesland am 17.10.1874 geborene, aus einer jüdischen Familie stammende Eva Meleh Wolffs in zweiter Ehe geheiratet. Dieses Paar bekam zwei Kinder, den am 9.1.1913 in Posen geborenen Siegfried und einen am 6.3.1914 geborenen Knaben, der bereits am 11.3.1914 starb. Die Familie lebte weiterhin in Posen.
Nach Inkrafttreten des Versailler Vertrages am 10. Januar 1920 und des damit verbundenen Minderheitenschutzvertrages konnten Deutsche, die zwischen 1908 und 1920 in dem an Polen abgetretenen Gebiet gelebt hatten, sich für die polnische oder die deutsche Staatsbürgerschaft entscheiden (optieren). Zwischen Deutschland und Polen war strittig, ob diejenigen, die die deutsche Staatsbürgerschaft behielten, das nun polnische Staatsgebiet verlassen mussten. Der Streit endete mit der deutsch-polnischen Wiener Konvention vom 30. August 1923: Danach hatten Deutsche, die vor "einer völkerrechtlichen Regelung" Polen verlassen hatten, damit zugleich auch für Deutschland optiert. Die Konvention sah weiter vor, dass die polnischen Behörden das Recht hatten, von ihnen zu fordern, das Gebiet zu verlassen.
Bruno Gradenwitz berichtete später, seine Eltern hätten im Jahre 1922 vor dem Deutschen Generalkonsulat in Posen die Option für Deutschland für sich und ihre Familienangehörigen abgegeben. Dies sei für sie eine Selbstverständlichkeit gewesen. Obwohl sein Vater, der bereits im 58. Lebensjahr gestanden habe, dadurch gezwungen gewesen sei, seine Existenz aufzugeben, habe es für seine Eltern kein Zögern gegeben, denn die Familie habe sich durch Geburt, Sprache, Erziehung und Kultur als Deutsche gefühlt. Raphael Gradenwitz habe im Übrigen während des Ersten Weltkrieges als Soldat gedient.
Die Söhne Ismar, Albert und Bruno hatten sich bereits zwischen 1918 und 1920 in Hamburg niedergelassen. So lag es nahe, dass sich auch Raphael Gradenwitz mit seiner Ehefrau und Sohn Siegfried nach der Option für die deutsche Reichsbürgerschaft dorthin wandten. Ab 1923 gehörte Raphael Gradenwitz der Jüdischen Gemeinde in der Hansestadt an.
Das Ehepaar Raphael und Eva Gradenwitz fand eine Kellerunterkunft in der Koopstraße 1 als Mieter bei der Witwe J. Koop, die dort einen Eierhandel betrieb. Es wohnte danach in der Bieberstraße 7 und in der Bogenstraße 11 jeweils zur Untermiete, schließlich ab 1935 in der Grindelallee 47 in einer eigenen Wohnung. Raphael Gradenwitz bezeichnete sich als "Bürobeamter"; im Hamburger Adressbuch wurde er als "Buchhalter" geführt. Allerdings fand der inzwischen 69jährige in Hamburg keine Beschäftigung mehr.
Albert Gradenwitz und Bertha Vera Zolinski heirateten – wie oben erwähnt – am 3. Februar 1927. Bertha Vera war zu diesem Zeitpunkt schwanger. Der am 15. Mai 1927 im Israelitischen Krankenhaus geborene Junge starb bereits nach 40 Minuten. Er wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Ohlsdorf beigesetzt (Grablage M 1 12). Auch ein weiteres Kind, das in der Beerdigtenkartei des Jüdischen Friedhofs Ohlsdorf aufgeführt ist, starb einen Tag nach seiner Geburt am 17. April 1929 (Grablage M1 12c).
Schon vor seiner Heirat mit Bertha Vera Zolinski hatte sich Albert Gradenwitz oft zu den Mahlzeiten im Haushalt seiner späteren Schwiegermutter eingefunden. Nach der Eheschließung wohnte er dort wieder.
Am 16. Juli 1928 kam Bertha Vera und Albert Gradenwitz‘ Tochter Margot zur Welt. Die Eltern übergaben sie als Kleinkind am 17. April 1929 dem Waisenhaus für jüdische Mädchen (Paulinenstift), Laufgraben 37. Albert Gradenwitz hatte Margots Aufnahme durch die erfundene Behauptung erwirkt, die Oberfürsorgerin habe Margots Waisenhausaufnahme angeordnet.
Das junge Ehepaar lebte weitgehend von Fürsorgeunterstützung. Auf eine entsprechende Anfrage der Fürsorgebehörde im Jahre 1929 äußerte Hertha Zolinski, sie könne nicht helfen, denn sie sei infolge der früheren Arbeitslosigkeit ihres jetzt in den USA lebenden Mannes selbst in große Not geraten.
Am 16. Mai 1930 folgte Hertha Zolinski ihrem Ehemann zusammen mit ihrem nun neunjährigen Sohn Herbert in die USA. Mutter und Sohn erreichten New York am 24. Mai an Bord der S.S. "Albert Ballin" und reisten nach Baltimore. Hertha Zolinski beantragte 1937 mit Erfolg ihre Einbürgerung. Bereits im August 1929 war ihre Tochter Hanna Erna Zolinski, die vorher als Haushaltshilfe gearbeitet hatte, in die USA ausgewandert. Auch sie lebte zunächst in Baltimore, später in Williamsport/ Pensylvania. Aus den zugänglichen Dokumenten ist nicht ersichtlich, ob versucht wurde, auch Bertha Veras Auswanderung zu ermöglichen.
Wenige Tage nach Hertha Zolinskis Auswanderung wurde die Ehe zwischen Albert und Bertha Vera Gradenwitz am 24. März 1930 geschieden. Sie konnten nun die Miete für die Wohnung im Loogestieg 6 nicht mehr aufbringen und fanden Unterkunft in möblierten Zimmern, die sie je für sich bewohnten.
Für Bertha Vera Gradenwitz sind Adressen in der Grindelallee 50 bei Nowigk, in der Rappstraße 15 bei Kramer, in der Heinrich-Barth-Straße Nr. 3 bei Mularski und Nr. 8 bei Willy Wolff, im Holsteinischen Kamp 18 bei Schnell und in der Rutschbahn 31 bekannt.
Albert Gradenwitz kam nach seiner Scheidung zunächst in Wohnungen in der Straße Alter Teichweg 40, 31 und 38 in Barmbek unter, dann am Alten Steinweg 31, in der Rappstraße 31 und Nr. 24 bei Davids, im Grindelberg 4 bei Apper, am Grindelweg, am Grindelstieg 4 bei Ascher und wohnte schließlich zusammen mit seiner früheren Ehefrau in der Straße Rutschbahn 31.
Die Arbeitssuche gestaltete sich bei beiden schwierig: Eine Stelle als Reisender für Gummiabsätze lehnte Albert Gradenwitz ab, weil ihm diese Tätigkeit "zu geringfügig" erschien. Bertha Vera Gradenwitz war zeitweise in der Nähstube der Israelitischen Gemeinde und kurzzeitig als Putzfrau beschäftigt. Auch gab sie Arbeitsstellen schnell wieder auf, u.a. weil ihr der Weg dorthin zu lang erschien.
Bei Bertha Vera Gradenwitz müssen schon vor der Eheschließung 1927 Zeichen einer Geisteskrankheit aufgetreten sein. So war sie bereits um 1924 in der damaligen Staatskrankenanstalt Friedrichsberg aufgenommen worden. Eine dortige Patientenkarteikarte weist bis 1939 fünf Aufnahmen auf. Einzelheiten kennen wir nicht, denn ihre Patientenakte aus Friedrichsberg ist nicht verfügbar.
Die Anstalt Friedrichsberg war lange Zeit Hamburgs zentrale Aufnahmeeinrichtung für Menschen mit psychischen bzw. geistigen Erkrankungen. Sie konnten von dort anderen Einrichtungen zugewiesen werden. In vielen Fällen wurden sie im Anschluss an den Aufenthalt in Friedrichsberg in die Staatskrankenanstalt Langenhorn überwiesen.
Vermutlich wurde auch Bertha Vera Gradenwitz 1935 durch Verlegung mehrere Monate Patientin der Staatskrankenanstalt Langenhorn, bis sie am 12. Juni 1935 nach Hause entlassen wurde. Bertha Vera und Albert Gradenwitz lebten zwar wieder in verschiedenen Wohnungen, sollen sich in dieser Zeit aber gut verstanden und auch besucht haben.
Im Jahre 1938 strebte Bertha Vera Gradenwitz die Ausreise aus dem nationalsozialistischen Deutschland zusammen mit ihrer Tochter Margot an. Die zehnjährige Margot Gradenwitz lebte weiterhin im Mädchenwaisenhaus Laufgraben 37 und besuchte die Israelitische Töchterschule in der Carolinenstraße 35. Doch Bertha Vera Gradenwitz‘ Plan, mit ihrer Tochter in die USA zu emigrieren, scheiterte.
Margot konnte im Mai 1939 mit einem Kindertransport nach England entkommen. Nach der Verabschiedung von den Eltern sah sie diese nie wieder. In England lebte sie in einem Pflegeheim in Colwyn Bay im nördlichen Wales und besuchte zunächst eine Elementarschule und dann die weiterführende Pendorlan School, bis ihre Pflegeeltern, das Ehepaar Morris Englemann, den Schulbesuch nicht mehr finanzieren konnten. Bis 1940, so berichtete Margot später, habe ein brieflicher Kontakt – auch vermittelt über ihre Großmutter Hertha Zolinski in den USA – mit ihren Eltern bestanden, der 1941 nach Kriegseintritt der USA völlig abbrach. (Nach der Beendigung der Schule arbeitete Margot als Angestellte in Colwyn Bay und 1946 in Birmingham. Im April 1947 schiffte sie sich in Southampton auf dem Dampfer "Batory" ein, um über New York nach Baltimore zu ihrer Großmutter zu reisen. 1967 ging sie eine Ehe mit einem Optiker ein, dessen Namen wir aus einer 1981 verfassten "Page of Testimony" der Gedenkstätte Yad Vashem kennen. Margot Gradenwitz trug nun den Nachnamen Graden Brilliant.)
Erst nach dem Krieg erfuhr Margot Gradenwitz vom Schicksal ihrer Eltern: Nach Bertha Vera Gradenwitz‘ Entlassung aus der Staatskrankenanstalt Langenhorn im Jahre 1935 scheint sie selbständig gelebt zu haben, bis ihr früherer Ehemann sie am 7. November 1940 erneut in die inzwischen in "Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn" umbenannte Einrichtung einlieferte. Die Aufnahmediagnose lautete "periodische Katatonie (Schizophrenie)". In ihrer Krankenakte wurde vermerkt, die Patientin sei bei der Aufnahmeuntersuchung außerordentlich erregt gewesen. Und weiter: "Sie lacht, weint und schreit durcheinander. Auf Fragen gibt sie incohärente Antworten". Weitere Vermerke über ihren Aufenthalt in Langenhorn fehlen.
Bertha Vera Gradenwitz war eine von nur ganz wenigen jüdischen Patientinnen und Patienten, die zu dieser Zeit noch in einer staatlichen psychiatrischen Krankenanstalt aufgenommen wurden. Alle jüdischen Patientinnen und Patienten aus Norddeutschland waren vorher in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn zusammengezogen, am 23. September 1940 abtransportiert und am selben Tag in der Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel mit Kohlenmonoxid ermordet worden. Für die Zeit danach ordnete ein Runderlass des Reichs- und Preußischen Ministeriums des Inneren vom 12. Dezember 1940 an, "daß geisteskranke Juden nur noch in die von der Reichsvereinigung der Juden unterhaltenen Heil- und Pflegeanstalt in Bendorf-Sayn, Kr. Koblenz, aufgenommen werden dürfen. […] Falls aus Gründen der öffentlichen Sicherheit die Unterbringung eines geisteskranken Juden in einer deutschen Heil- und Pflegeanstalt erforderlich wird, ist für eine umgehende Weiterleitung des Patienten in die Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn zu sorgen."
So geschah es mit Bertha Vera Gradenwitz: Sie wurde am 21. April 1941 "entlassen nach Bendorf-Sayn". Dort lebte sie noch elf Monate, bis sie am 22. März 1942 mit 336 Menschen aus der Anstalt, aus der Stadt und dem Landkreis Koblenz "nach Osten" deportiert wurde. Die Staatspolizeileitstelle Koblenz der Geheimen Staatspolizei vermerkte am 13. April 1942, "daß die unter lfd. Nr. 1-337 auf Grund der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.1941 – RGBl. I S. 722 – aufgeführten Juden am 22.3.1942 ausgewandert sind und somit die deutsche Staatsbürgerschaft verloren haben. Gez. Schubert".
Der Zielort dieser Deportation ist nicht völlig geklärt. Es wird aber davon ausgegangen, dass diese Menschen in das sog. Transitgetto Izbica zur vorübergehenden Unterbringung ausländischer Juden gebracht wurden und entweder dort zu Tode kamen oder in einem der Vernichtungslager der "Aktion Reinhardt", wahrscheinlich Belzec oder Sobibor, ermordet wurden. So sind weder der Todesort noch das genaue Todesdatum von Bertha Vera Gradenwitz bekannt.
Über die weitere Lebenssituation von Albert Gradenwitz wissen wir nur wenig. Er musste in den 1930er Jahren als Wohlfahrtsempfänger "Pflichtarbeit" leisten. Während der Volkszählung im Mai 1939 wohnte er in der Straße Grindelstieg 4 bei Ascher, zuletzt in der Sedanstraße 21 bei Rosa, Hugo und Bela Feilmann. Hier erhielt er den Deportationsbefehl. Albert Gradenwitz wurde wie die Familie Feilmann am 8. November 1941 nach Minsk "evakuiert", wie Deportationen damals beschönigend umschrieben wurden (An Familie Feilmann erinnern in der Sedanstraße 21 Stolpersteine).
Von dort wurde Albert Gradenwitz in das im November 1942 aus dem bisherigen Getto entstandenen Zwangsarbeitslager Reichshof (Rzeszów, Woiwodschaft Karpatenland im Südosten Polens) und im Juli 1944 in das Konzentrationslager Plaszow am südöstlichen Stadtrand von Krakau bzw. dessen Außenlager Wieliczka überstellt.
In diesem Außenlager wurden nach Zeugenaussagen 465 Juden für die Montage von Diesel Motoren für DB-605 Flugmaschinen der Luftwaffe ausgebildet, darunter Albert Gradenwitz. Am 28. Juli 1944 mussten diese Häftlinge das Außenlager Wieliczka wieder verlassen. Albert Gradenwitz kam am 4. August 1944 als "Monteur" in das KZ Flossenbürg (Gefangenennummer 14810), wurde jedoch bereits am 21. August 1944 in das KZ Natzweiler im Elsass eingewiesen. Dort war er einer derjenigen Häftlinge, die im Außenlager Urbis-Wesserling Daimler-Benz Flugzeugmotoren bauen sollten.
Am 12. Oktober wurden 462 von den 465 Häftlingen nach Sachsenhausen gebracht. Sie sollen von dort noch in andere Lager verschleppt worden sein. Eine Bestätigung, dass Albert Gradenwitz in Sachsenhausen eintraf, konnte im Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen nicht gefunden werden. Über seinen Aufenthalt dort existiert kein Nachweis, auch ein anderes Lebenszeichen von ihm fand sich nicht.
Wie bei seiner geschiedenen Ehefrau sind auch Albert Gradenwitz‘ genauer Todesort und das Todesdatum unbekannt.
Albert Gradenwitz‘ Eltern, Raphael und seine Stiefmutter Eva Meleh Gradenwitz hatten sich offenbar nach dem Novemberpogrom 1939 entschlossen, nach England zu emigrieren. Nach der Ankunft dort im Juni oder Juli 1939 wurde das mittellose Ehepaar von dem bereits im März 1939 nach England emigrierten Sohn Bruno unterhalten.
Über Albert Gradenwitz‘ Geschwister wissen wir folgendes:
Bruno Gradenwitz, der sich später Bernard Charles Graydon nannte, lebte seit Oktober 1920 als Devisen- und Wertpapiermakler bei einer Bank in Hamburg. Im Dezember 1933 lehnte der Vorstand der Wertpapierbörse in Hamburg seinen Antrag auf Zulassung als freier Makler ab und betonte, dies sei nicht aus rassischen Gründen, sondern deshalb geschehen, weil Bruno Gradenwitz vor der Aufhebung sämtlicher Maklerzulassungen im Juni 1933 und ihrer teilweisen Wiederzulassung noch kein selbständiger Makler gewesen sei. Er wohnte in der Grindelallee 47 bei seinen Eltern, bis er im März 1939 nach England emigrierte. Er wollte sich in England mit der Herstellung von Marzipanfiguren eine neue Existenz aufbauen. Zu diesem Zweck nahm er Gipsschablonen aus Deutschland mit. Ob er seine Absicht realisieren konnte, wissen wir nicht. Nach einer kurzen Internierung nach Kriegsbeginn diente Bruno Gradenwitz vom Januar 1940 bis 31. Oktober 1945 in der Britischen Armee. Bei seiner Heirat im Jahre 1952 lebte er im Londoner Stadtteil Paddington.
Auch die anderen Geschwister hatten Deutschland 1939 bereits verlassen oder strebten die Emigration an:
Siegfried Gradenwitz schloss im Alter von 16 Jahren die Talmud-Tora Schule in Hamburg mit der Obersekunda-Reife ab. Er absolvierte eine Lehre zum Kaufmannsgehilfen in einem Unternehmen, das Handel mit Tranen und Ölen sowie deren Bemusterung betrieb. Siegfried Gradenwitz wurde 1934 wegen seiner jüdischen Herkunft entlassen. Er verließ Deutschland am 8. Juni 1936. In England arbeitete er zunächst in derselben Branche, verlor seinen Posten aber nach zwei Jahren und war dann arbeitslos. Siegfried Gradenwitz, der seinen Namen in Stephen Frank Graydon änderte, wohnte in Edgware Middelsussex.
Ismar Gradenwitz, der sich später Fred Graydon nannte, hatte in Posen drei Jahre die Mittelschule und sechs Jahre das Wilhelm Gymnasium besucht. Danach absolvierte er eine dreijährige Lehre in einer Herrenkleiderfabrik und war anschließend in dieser Branche in Posen und Stettin tätig. 1916 wurde Ismar Gradenwitz zur Garde Feldartillerie in Jüterbog im heutigen Brandenburg eingezogen. Er wurde Ostern 1918 in Hamburg ausgemustert und ließ sich in der Hansestadt nieder. Am 13. Dezember 1922 heiratete er die 1894 in Glücksburg geborene ebenfalls jüdische Frieda Hinsch. Das Paar bekam die Kinder Ellen, geboren am 23.4.1926, und Alfred, geboren am 2.8.1929. Wahrscheinlich 1920 eröffnete Ismar Gradenwitz in der Kielortallee 3/5 ein Papierwarengeschäft engros, das Geschäftsräume ab etwa 1924 am Gänsemarkt 13 betrieb. Unter der Firma seiner Frau Frieda führte er das Geschäft ab etwa 1932 in den Colonnaden 80/82. Nachdem Ismar Gradenwitz‘ Hauptkunden 1935 nicht mehr bei Juden kaufen durften, reichten die Geschäftserträge nicht mehr für den Lebensunterhalt der Familie. Ismar Gradenwitz mietete nun eine große Wohnung in der Beneckestraße 22 und versuchte, sich finanziell durch Zimmervermietung über Wasser zu halten. Doch ältere Mieter starben, andere emigrierten. Mit Hilfe eines in England lebenden Bruders konnte die Familie 1939 dorthin flüchten, zuerst Anfang April Ismar und einen Monat später Frieda mit den beiden Kindern. Frieda Gradenwitz übersiedelte 1940, Ismar 1943 in die USA.
Rosa (Rose) Gradenwitz hatte seit dem 18. August 1921 als Lehrerin an der Israelitischen Töchterschule in der Carolinenstraße 35 gearbeitet. Sie wurde zum 1. März 1939 entlassen, als die Mädchenschule ihre Selbständigkeit verlor und die Schülerinnen mit ihren Lehrkräften zum Grindelhof in die Talmud Tora Schule sowie benachbarte Gebäude umziehen mussten. Rosa Gradenwitz wohnte bis zu ihrer Emigration in der Straße Schlump 58 bei Tradelius. Sie verließ Deutschland am 8. März 1939. In England nannte sich die ledige Frau später Rose Graydon. Die leidenschaftliche Lehrerin musste nun im Haushalt arbeiten. Zeitweise war sie erwerbslos. Sie erwarb die britische Staatsangehörigkeit und lebte wie ihr Bruder Siegfried in Edgware, Middlesussex.
Moritz Gradenwitz arbeitete als Bankangestellter in Berlin-Charlottenburg. Der allein stehende Mann emigrierte in die Niederlande und ließ sich am 3. Mai 1933 in Nimwegen nieder. Als die deutsche Wehrmacht im Mai 1940 die Niederlande besetzte, wurde er dort wieder als Juden verfolgt. Am 10. April 1943 wurde er in das KZ Herzogenbusch (niederländisch: Kamp Vught), am 23. Mai 1943 in das "polizeiliche Judendurchgangslager Kamp Westerbork" eingeliefert und am 25. Mai 1943 mit dem Transport Nr. 65 von Westerbork nach Sobibor deportiert, wo er am 28. Mai 1943 ermordet wurde.
Die ebenfalls in Berlin-Charlottenburg lebende Schwester Klara (Cläre) Gradenwitz arbeitete als Modistin. Sie emigrierte nach Frankreich. Ihr weiteres Schicksal kennen wir nicht.
Stand: September 2021
© Ingo Wille
Quellen: 1; 4; 5; 8; 9; Adressbuch Hamburg (diverse Jahrgänge); StaH 213-13 Landgericht Hamburg – Wiedergutmachung 21675 Fred Graydon/ Ismar Gradenwitz, 34471 Margot Graden/ Gradenwitz, 35115 Fred Graydon/ Ismar Gradenwitz, 3658 Rosa Rose Graydon/ Gradenwitz; 314-15 Oberfinanzpräsident (Devisenstelle und Vermögensverwertungsstelle) FVg 3658 Rosa Gradenwitz, FVg 3678 Bruno Gradenwitz, FVg 3681 Rosa Gradenwitz, FVg 4030 Ismar (Fred) und Frieda Gradenwitz, FVg 4707 Raphael und Eva Gradenwitz, FVg 5869 Vera und Margot Gradenwitz; 332-5 Standesämter 1982 Geburtsregister Nr. 4481/1880 Hertha David, 113946 Geburtsregister Nr. 706/1910 Hanna Erna Zolinski, 14674 Geburtsregister Nr. 361/1906 Bertha Zolinski, 14860 Geburtsregister Nr. 470/1907 Ada Lotte Vita Zolinski, 8632 Heiratsregister Nr. 478/1904 Joseph Zolinski/ Hertha David, 9612 Heiratsregister Nr. 49/1927 Albert Gradenwitz/ Bertha Eva Zolinksi, 7982 Sterberegister Nr. 312/1905 NN. Gradenwitz; 351-11 Amt für Wiedergutmachung 17680 Ismar Gradenwitz, 20467 Rose Graydon/ Gradenwitz, 28882 Bruno Gradenwitz, 38901 Stephen Frank Graydon/ Siegfried Gradenwitz, 38901 Stephen Frank/ Siegfried Gradenwitz; 48845 Margot Gradenwitz/ Brilliant, 48846 Margot Gradenwitz/ Brilliant; 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn Abl. 1995/1 Nr. 21304 Vera Gradenwitz; 361-2 V Oberschulbehörde V 712 b 18 Einjährigeninstitut von Dr. Joseph Zolinski (Unterrichtsinstitut Rex) und wissenschaftliches Lehrinstitut Dr. Carl Theodor Hoefft; Stadtarchiv Berlin, Heiratsregister Nr. 404/1912 Raphael Gradenwitz/ Eva Meleh Wollfs; KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Häftlingskarteikarte Albert Gradenwitz, Archivdatenblatt Albert Gradenwitz; KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen, Negativmitteilung zu Albert Gradenwitz vom 25.8.2021; Jüdischer Friedhof Ohlsdorf, Friedhofsdatenbank, Grabstelle A 10 Nr. 401 A, NN. Zolinksi, 8.7.1905; Joods Monument, Moritz Gradenwitz; https://www.oorlogslevens.nl/tijdlijn/Moritz-Gradenwitz/02/53043?lang=en, Zugriff 26.8.21; Yad Vashem, Moritz Gradenwitz; Ursula Randt, Carolinenstraße 35, Hamburg 1984, S. 79 ff.; Steffen Hänschen, Das Transitghetto Izbica im System des Holocaust, Berlin 2018, S. 138; Marian Wojciechowski, Die deutsche Minderheit in Polen (1920-1939), in: Deutsche und Polen zwischen den Kriegen. Minderheitenstatus und "Volkstumskampf" im Grenzgebiet (1920-1939). Texte und Materialien zur Zeitgeschichte, Bd. 9/1. hrsg. von Rudolf Jaworski und Marian Wojciechowski, München u.a. 1997, S. 6 ff.; Martin Weimann, Das nationalsozialistische Lagersystem, Frankfurt/M. 1990, S. 175, 346, 679; Ancestry.de Einbürgerungsregister der USA 1840-1957 hier: Joseph Zolinski (Joseph Zolin), Lotte Zolinski, (Zugriff 21.8.2021); Ancestry.de Hamburger Passagierlisten 1850-1934, 373-7 I, VIII A 1 Band 379, Hertha Zolinski, (Zugriff 21.8.2021); Ancestry.de Föderales Einbürgerungsregister Maryland, USA, 1795-1931, Petitionsnummer 15465, Hertha Zolin, (Hertha Zolinski), (Zugriff 21.8.2021); Ancestry.de Föderales Einbürgerungsregister Maryland, USA, 1795-1931, Deklarationsnummer 30396, Charlotte Zolinksi (Charlotte Zolin), (Zugriff 21.8.2021); Ancestry.de Hamburger Passagierlisten 1850-1934, 373-7 I, VIII A 1 Band 352, Charlotte Zolinski, (Zugriff 21.8.2021); Ancestry.de Hamburger Passagierlisten 1850-1934, 373-7 I, VIII A 1 Band 370, Erna Zolinski, (Zugriff 21.8.2021); Ancestry.de Sammlung Passagierlisten 1813-1963, Joseph Zolinski, Ankunft USA 15.10.1923, (Zugriff 21.8.2021); Ancestry.de Einbürgerungsregister der USA, 1840-1957, Joseph Zolinski, (Zugriff 21.8.2021); Männerlager Szebnie, http://www.tenhumbergreinhard.de/1933-1945-lager-1/1933-1945-lager-s/szebnie-maennerlager.html; Zwangsarbeitslager Reichshof (Rzeszów, https://de.wikipedia.org/wiki/Rzeszów#Zeit_des_Zweiten_Weltkrieges_und_Holocaust; https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/O6X63QAA6DTCY5RKNQN5EZN2NGJICN3C; http://urbes-alsace.fr/wp-content/uploads/2017/10/P7e.Das-Kommando-A-10-in-Zusammenhang-mit-dem-Aussenlager-Urbis-Wesserling-1944.pdf; https://docplayer.org/63902463-Auvenlager-wesserling-urbis-liste-der-465-juedischen-haeftlinge-auch-daimler-benz-juden-oder-produktionshaeftlinge-genannt.html.