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Paul Seeger * 1910
Luruper Chaussee 119 (Altona, Bahrenfeld)
HIER WOHNTE
PAUL SEEGER
JG. 1910
GEDEMÜTIGT / ENTRECHTET
FLUCHT IN DEN TOD
21.2.1939
Paul Adolf Michael Seeger, geb. am 30.7.1910 in Hamburg, Suizid am 21.2.1939 in Hamburg
Luruper Chaussee 119
Am 21. Februar 1939 wurde dem 92. Polizeirevier am Bahrenfelder Marktplatz 8 um 21.50 Uhr fernmündlich mitgeteilt, dass sich aus einer Wohnung in der Luruper Chaussee 119 im ersten Stock starker Gasgeruch bemerkbar mache. Nach Eintreffen der örtlichen Polizei öffnete der Hauswart die von innen verriegelte Wohnung gewaltsam. Der Wohnungsinhaber Paul Seeger lag bewusstlos in der Küche auf einem Sofa. Die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls anwesende Ehefrau Sophie Seeger konnte wahrscheinlich nicht in die gemeinsame Wohnung gelangen und es war davon auszugehen, dass ihr Ehemann den Gashahn des Küchenherds in der Absicht, sich zu töten, geöffnet hatte. Auf dem Transport ins städtische Krankenhaus Allee in Altona verstarb dieser gegen 22.25 Uhr.
Laut Aussagen von Seegers Ehefrau gegenüber der bei "unnatürlichen Sterbefällen" stets ermittelnden Kriminalpolizei war ihr Mann seit dem 15. Februar nicht mehr an seiner Arbeitsstelle als Schlosser bei der Hamburger Hochbahn AG – Abteilung Oberleitung – am Bahnhof Schützenhof in Altona erschienen. In der Nacht vom 15. auf den 16. Februar 1939 habe er bereits einen ersten Suizidversuch durch Gas verübt, den sie rechtzeitig bemerkt und verhindert habe. Danach verschloss sie beim Verlassen der Wohnung am nächsten Mittag den Zugang zur Hauptgasleitung. Nach diesem Ereignis sei ihr Mann bis zum 21. Februar nicht mehr nach Hause gekommen. Sie hatte ihn jedoch nicht als vermisst gemeldet. Gegenüber der Polizei äußerte sich die Witwe: "… ich vermute aber, dass mein Mann entweder gewissenlosen Frauen oder auch Homosexuellen in die Hände gefallen ist." Ihre erste Vermutung begründete sie damit, dass ihr Mann "häufiger mit elegant gekleideten Frauen gesehen worden" sei und er ihr seit Anfang des Jahres weniger Haushaltsgeld gebe. Die zweite Vermutung beruhte auf einer Bekanntschaft ihres Mannes mit einem als homosexuell bekannten Paul Fuß. Dieser 1890 geborene Kaufmann aus der Missundestraße 26 war im April 1937 vom Landgericht Altona zu einer 18-monatigen Gefängnisstrafe nach § 175 verurteilt worden, aus der er im September 1938 entlassen wurde.
Was könnte den 28-jährigen Paul Seeger, der zuvor nicht wegen homosexueller Handlungen in Haft gewesen oder verurteilt worden war, zu dieser Verzweiflungstat getrieben haben?
Paul Seeger wurde 1910 in Hamburg als unehelicher Sohn des gleichnamigen Musikers und der Tabakarbeiterin Emma Tauber geboren. Die Eltern hatten noch zwei weitere unehelich gezeugte Kinder und schlossen 1914 in Hamburg die Ehe, ließen sich jedoch 1922 wieder scheiden. Nach dem Besuch der Volksschule machte Paul Seeger eine Lehre als Autoschlosser. Als Jugendlicher lebte er in einfachen wirtschaftlichen Verhältnissen bei seiner Mutter in der Marktstraße 133 in einer Hochparterrewohnung. Die Mutter verdiente ihren Unterhalt als Tabak- und Fabrikarbeiterin und suchte als Kartenlegerin einen Zusatzverdienst. 1941 kam heraus, dass sie zudem illegale Abtreibungen vorgenommen hatte, wofür sie 1942 zu einer vierjährigen Zuchthausstrafe verurteilt wurde. Im Oktober 1945 wurde ihre Reststrafe erlassen.
Paul Seeger wurde 1929 im Alter von 18 Jahren wegen Verstoßes gegen das Republikschutzgesetz und ruhestörenden Lärms zu einer Geldstrafe von fünf Reichsmark anstelle einer zweitägigen Gefängnishaft verurteilt. Er war zu diesem Zeitpunkt NSDAP-Mitglied und kam in den frühen Morgenstunden des 30. Januar 1929 in angetrunkenem Zustand mit dem drei Jahre älteren Elektriker Kurt Wegner von einer NSDAP-Versammlung in seiner Wohnstraße. Beide sangen lautstark republik- und judenfeindliche Lieder. Kurt Wegner soll zudem die Parolen "Nieder mit der Judenrepublik und Rathenau" sowie "Rathenau, diese alte Sau" gerufen haben und galt als der eigentliche Anführer.
1938 ging Paul Seeger eine Ehe mit der 1904 in Hamburg geborenen Sophie, geb. Sonntag, ein, aus der eine im selben Jahr geborene Tochter entstammte. Möglicherweise kam er durch diese Ehe auch mit homosexuellen Männern in Kontakt, entdeckte für sich ein Interesse an gleichgeschlechtlicher Sexualität und wurde deswegen erpresst. Jedenfalls ging der Bruder seiner Ehefrau, Walter, genannt "Walti", Sonntag relativ offen mit seiner Homosexualität um, was dem 1916 in Altona geborenen Elektromonteur vom Juni bis September 1937 eine dreimonatige Gefängnisstrafe nach § 175 einbrachte. Er war der Liebhaber eines 23 Jahre älteren Blumenladenbesitzers in Kiel, Gunthard von Pechmann, den er auf einer Zugfahrt kennengelernt hatte. Wegen dieser Verbindung saß Walter Sonntag vom November 1937 bis Februar 1938 ein zweites Mal in Haft.
Möglicherweise geriet Paul Seeger bereits in dieser Zeit ins Visier der Kriminalpolizei. Jedenfalls kam er auch mit Freunden seines homosexuellen Schwagers zusammen, wovon seine Frau der Kripo nach dem Tod ihres Mannes – wie oben beschrieben – nur andeutungsweise berichtete, vielleicht auch deshalb, um ihren Bruder zu schützen. Die fortgesetzte Beziehung ihres Bruders zu dem älteren Mann aus Kiel war 1941 Gegenstand eines weiteren Prozesses in Hamburg, nachdem die Liebschaft von einer Mitarbeiterin Pechmanns gegenüber der Kieler Kripo denunziert worden war. Parallel dazu wurde Walter Sonntag auch von dem bekannten Strichjungen Paul Kühnapfel als Partner genannt. Nach Inhaftierungen im KZ Fuhlsbüttel und im Untersuchungsgefängnis wurde Walter Sonntag im Januar 1942 zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Nach seiner Entlassung im August 1942 zur Wehrmacht eingezogen, galt er seit Dezember 1943 als vermisst. Sein Partner Gunthard von Pechmann überlebte den NS-Terror gegen Homosexuelle zu einem hohen Preis: Er ließ sich im November 1942 während seiner Verurteilung zu einer zweijährigen Zuchthausstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung "freiwillig" entmannen.
Alle diese späteren, sich jedoch 1939 bereits abzeichnenden Maßnahmen des NS-Verfolgungsapparates, vielleicht auch der deutlich gewordene Widerspruch zu einem System, mit dem er als junger Mensch sympathisiert hatte, mögen Paul Seeger eine Flucht in den Tod nahegelegt haben. An ihn erinnert in der Luruper Chaussee 119 ein Stolperstein an ein für Homosexuelle nicht untypisches Schicksal. Ungefähr 25 Prozent der Opfer der Homosexuellenverfolgung schieden durch eigene Hand aus dem Leben und kamen damit den Nationalsozialisten oft nur um wenige Monate zuvor.
Stand September 2015
© Bernhard Rosenkranz (†) / Ulf Bollmann
Quellen: AB Hamburg 1939; StaH, 213-11 Staatsanwaltschaft Landgericht – Strafsachen, A06393/30, 5541/42 und 3604/43; StaH 242-1 II Gefängnisverwaltung II, Ablieferungen 13 (jeweils zu Paul Fuss); StaH 331-5 Polizeibehörde – Unnatürliche Sterbefälle, 408/39; StaH 332-5 Standesämter, 3245 (Eintrag Nr. 113) und 5416 (Eintrag Nr. 353); Rosenkranz/Bollmann/Lorenz, Homosexuellen-Verfolgung, S. 256.