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David Schullerer * 1930

Wohlers Allee 38 (Altona, Altona-Altstadt)


HIER WOHNTE
DAVID
SCHULLERER
JG. 1930
"POLENAKTION" 1938
BENTSCHEN / ZBASZYN
NÄHE TARNOW
ERMORDET DEZ. 1939

Weitere Stolpersteine in Wohlers Allee 38:
Adolf Uscher Friedmann, Berta Brandla Friedmann, Hanna Toni Friedmann, Berta Ruth Friedmann, Siegbert Friedmann, Golda Friedmann, Mirjam Friedmann, Szyja Schullerer, Taube Toni Schullerer, Scheindel Sabina Weissmann, Nechemiah Norbert Weissmann

Szyja (Osias) Schullerer, geb. 31.1.1894 in Wojnitz/Galizien, am 28.10.1938 an die polnische Grenze bei Zbaszyn (deutsch Bentschen) transportiert, wahrscheinlich Anfang 1940 aus der Nähe von Tarnow deportiert nach Sanalny/Sibirien, umgekommen am 19.7.1942

Taube Toni Schullerer, geb. 27.7.1928 in Hamburg, am 28.10.1938 an die polnische Grenze bei Zbaszyn (deutsch Bentschen) transportiert, ermordet in der Nähe von Tarnow Ende Dezember 1939

David Schullerer, geb. 6.12.1930 in Hamburg, am 28.10.1938 an die polnische Grenze bei Zbaszyn (deutsch Bentschen) transportiert, ermordet in der Nähe von Tarnow Ende Dezember 1939

Wohlers Allee 38 (Altona-Altstadt)

Die aus Galizien stammende fromme jüdische Familie Schullerer wurde am 28. Oktober 1938 mit etwa Tausend jüdischen Frauen, Männern und Kindern polnischer Herkunft mit der Eisenbahn vom Bahnhof Hamburg-Altona nach Neu Bentschen (Zbąszynek) an die polnische Grenze transportiert und gewaltsam über diese bei Zbaszyn (deutsch Bentschen) getrieben. Überwiegend bei Zbaszyn (Bentschen), aber auch bei Chojnice (Konitz) in Pommern und Beuthen in Oberschlesien wurden im Rahmen dieser von den Nationalsozialisten "Polenaktion" genannten Massenausweisung etwa 17000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit aus dem Deutschen Reich nach Polen abgeschoben.

Zu der Familie Schullerer gehörten der Kaufmann Szyja (Osias) Schullerer, geboren am 31. Januar 1894 in Wojnitz bei Tarnow im damals österreichischen Galizien (heute Polen), dessen Ehefrau Brancia (Berta), geborene Gutstein, geboren am 20. März 1889 in Bołszowce im damals ebenfalls österreichischen Galizien (heute Bilsziwci – eine Siedlung in der Oblast Iwano-Frankiwsk, Region Halychyna in der Ukraine) und die Kinder Josef Leib, geboren am 14. Juli 1927 in Hamburg, Taube Toni, geboren am 27. Juli 1928 in Hamburg, David, geboren am 6. Dezember 1930 in Hamburg, und Rosa (Shoshana), geboren am 21. März 1936 in Hamburg.

Brancia Gutstein, wie sie zu dieser Zeit noch hieß, war mit ihren Eltern Taube Gutstein und Israel Ozer Abraham Shifman gegen Ende 1915 aus Bołszowce nach Lüneburg gezogen. Voraussetzung für die Zuzugserlaubnis war ein tadelloses "Moralitätszeugnis", heute würde man es wohl Führungszeugnis nennen. Sie betrieb dort einen Handel mit Weiß- und Kurzwaren (als Weißware wurde früher oft Unterwäsche bezeichnet, Kurzwaren umfassten Nähbedarf).

Auch Brancia Gutsteins ebenfalls in Bołszowce geborene Geschwister, der "Reisende" (Vertreter) David Gutstein, geboren am 2. Februar 1897, Vittel Gutstein, geboren 18. März 1898 und Sara Gutstein, geboren am 10. Juni 1899 hatten sich zwischen 1916 und 1919 in Lüneburg niedergelassen.

Dort hatte sich 1920 auch der Händler Szyja Schullerer, der später auch Osias genannt wurde, von Köln-Mühlheim kommend, angesiedelt. Er handelte mit Textilwaren. Von Lüneburg war er in die damals noch eigenständige preußische Stadt Altona gezogen, zunächst in die Straße Neueburg 27 (heute Reeperbahn zwischen Große Freiheit und Holstenstraße). Er meldete am 3. April 1922 ein Gewerbe an, eröffnete ein Konfektionsgeschäft in der Fährstraße 50 in Wilhelmsburg und wohnte dann in der Schüttstraße 18 in Harburg.

Szyja Schullerer und Brancia Gutstein werden sich in Lüneburg möglicherweise über ihre gleiche Geschäftstätigkeit kennengelernt haben. Am 22. Februar 1923 zog Brancia Gutstein, die sich in Deutschland Berta nannte, zu Szyja Schullerer in die Schüttstraße 18. Fünf Tage später, am 27. Februar 1923, heirateten sie auf dem Standesamt in Altona.

Wie die Familie Schullerer waren im 19. Jahrhundert und bis vor dem Ende des Ersten Weltkrieges nichtjüdische und jüdische Weißrussen, Litauer, Polen und Ukrainer, die in ihrer Heimat keine Aussicht hatten, Arbeit und Lebensunterhalt zu finden oder Diskriminierungen ausgesetzt waren, aus den Herrschaftsgebieten der Teilungsmächte Russland, Preußen und Österreich ausgewandert, oft nach Amerika. Ein verhältnismäßig kleiner Teil aus dem österreichischen und russischen Teilungsgebiet wandte sich nach Deutschland. Vielen gelang es, sich in ihrer neuen Umgebung einzurichten.

Mit dem Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919 wurde u. a. geregelt, dass jeder Mensch eine Staatsbürgerschaft in dem Staat, in dem er durch die Teilung nun lebte, erhalten oder für seine alte Staatsbürgerschaft optieren konnte. Die Ausführungsregelungen der polnischen Regierung, insbesondere der Erlass über die Erlangung der polnischen Staatsangehörigkeit vom 20. Januar 1920 (Gesetzblatt der Republik Polen, 1920 Nr. 7, poz. 44) waren sehr kompliziert. Sie verlangten, dass die im Ausland lebenden früheren Bewohner der ehemaligen Teilungsgebiete sich aktiv um die polnische Staatsbürgerschaft bemühten. Diese Rechtsentwicklung war den meisten nicht bekannt. Deshalb ließen viele ihren Status ungeklärt und konzentrierten sich vordringlich auf die Sicherung ihrer materiellen Existenz.

Auch für die Familie Schullerer war die Frage der Staatsangehörigkeit zunächst ohne Bedeutung, sie sollte aber 1938 ihr weiteres Schicksal bestimmen. Wir wissen nicht, ob Szyja Schullerer und Brancia Gutstein dem Altonaer Standesbeamten für ihr Aufgebot eine Staatsangehörigkeit nachweisen mussten. In der Heiratsurkunde von 1923 wurde lediglich beurkundet, dass beide in Polen geboren worden waren, ihre Staatsangehörigkeit blieb unerwähnt. Das Ehepaar Schullerer sah sich selbst – und so stuften auch die Hamburger Behörden sie ein - als jüdische Familie polnischer Staatsangehörigkeit.

Nach der Eheschließung wohnte das Ehepaar Schullerer noch lange Jahre in der Schüttstraße 18 in Harburg. Hier bekam es drei seiner vier Kinder: Josef Leib, Taube Toni und David.

Berta Schullerer arbeitete in dem Geschäft ihres Mannes. Der Textilwarenhandel florierte so erfolgreich, dass die Familie von den Erträgen gut leben konnte. Im Mai 1934 wechselte die Familie in eine Drei-Zimmer-Wohnung in der Wohlers Allee 38 in Altona-Altstadt. Wir kennen den Grund für den Umzug nicht, doch möglicherweise waren die Wohnverhältnisse in der Schüttstraße 18 für die inzwischen fünfköpfige Familie zu beengt geworden.

Für die Wahl des neuen Wohnsitzes in der Wohlers Allee könnte aber auch von Bedeutung gewesen sein, dass sich in der gutbürgerlichen Wohnstraße einige aus dem Osten zugewanderte jüdische Familien niedergelassen hatten. Obwohl die "deutschen Juden" und die meisten "Ostjuden" Deutsch als Umgangssprache benutzten, verkehrten die beiden Gruppen gesellschaftlich und privat kaum miteinander.

Für Osias Schullerer, der von seiner Frau im späteren Wiedergutmachungsverfahren als Rabbiner bezeichnet wurde, könnte auch eine Rolle gespielt haben, dass in unmittelbarer Nachbarschaft, nämlich in der Wohlers Allee 62 und auch in der nahe gelegenen Adolphstraße 69 (heute Bernstorffstraße) kleine orthodoxe Synagogen lagen. Osias Schullerer gehörte ab 1. April 1935 der Hochdeutschen Israeliten-Gemeinde in Altona an.

Ein weiterer Grund für den Einzug in die Wohlers Allee 38 könnte gewesen sein, dass das große Haus zu dieser Zeit u.a. von der jüdischen Familie Weissmann (s. www.stolpersteine-hamburg.de) und dem Eigentümer, dem jüdischen Kaufmann Adolph Uscher Friedmann (s. www.stolpersteine-hamburg.de) und seiner Familie sowie weiteren jüdischen Mitbürgern bewohnt wurde.
Am 21. März 1936 wurde Rosa, das vierte Kind, in der Wohlers Allee 38 in Altona geboren.

Der älteste Sohn Josef Leib besuchte die Talmud-Tora-Realschule im Grindelviertel in Hamburg, die Kinder Taube Tony und David die "Israelitische Gemeindeschule in Altona", Palmaille 17.

Mit der Machtübergabe an Adolf Hitler und die Nationalsozialisten änderten sich die Lebensumstände für jüdische Menschen im Deutschen Reich und damit auch für die jüdische Familie Schullerer in kurzer Zeit radikal.

Das Textilwarengeschäft in der Fährstraße musste nach dem Boykott im April 1933 aufgelöst werden. Es gelang Osias Schullerer, bei den Margarine-Werken Thoerl in Hamburg-Wilhelmsburg eine Anstellung zu bekommen, die mit RM 180 monatlich bezahlt wurde. (Zum Vergleich: Ein Schlachter verdiente 1933 rd. 215 RM pro Monat). Bei dieser Firma war er zusätzlich als ehrenamtlicher ritueller Aufseher (Kashrut-Aufseher) tätig. Es war seine Aufgabe dafür zu sorgen, dass die für Juden bestimmte Margarine nach den rituellen Vorschriften hergestellt und ausgeliefert wurde. In dieser Stellung blieb er bis Ende Oktober 1938.

Das Einkommen, das Osias Schullerer für seine Tätigkeit bei den Margarinewerken Thoerl bezog, reichte nicht aus, um die sechsköpfige Familie zu ernähren. Berta Schullerer meldete daher noch 1933 in der Schüttstraße 18 einen Geflügelhandel an. Die nichtjüdische Tochter des Hauseigentümers erinnerte sich, dass sich in der Wohnung der Schullerers und auf dem Hausboden regelmäßig lebende Hühner befanden, die dann später geschächtet und verkauft wurden. Diesen Hühnerhandel habe allein Frau Schullehrer betrieben, wie diese überhaupt den größten Teil des Gewerbes auf sich genommen habe. Der Ehemann habe viel gebetet und geschächtet sowie unentgeltlich hebräischen Unterricht erteilt. Er sei ganz in seinem Glauben aufgegangen.

Nach dem Umzug in die Wohlers Allee setzte Berta Schullerer den Handel mit Geflügel fort. Das Geschäft betrieb sie in den zur Wohnung gehörenden geräumigen Kellerräumen. Sie erwies sich schon nach kurzer Zeit als sehr erfolgreich und konnte den Geflügelhandel so erweitern, dass sie eine Angestellte beschäftigte und auch Kunden außerhalb Altonas mit Geflügel versorgte. Ihre Einnahmen aus diesem Geschäft erreichten sehr bald monatlich 250 RM bis 300 RM, während der Monate mit jüdischen Feiertagen sogar häufig um 500 RM.

Der bei der jüdischen Gemeinde in Altona angestellte Schlachter reiste wöchentlich zum Schächten nach Dänemark und belieferte Berta Schullerer anschließend regelmäßig mit Geflügel. Vier weitere jüdische Lieferanten arbeiteten in Berlin. Der Erfolg des Geschäftes lässt sich auch daran erkennen, dass ständig ein Kindermädchen und eine Haushaltshilfe angestellt werden konnten.

Berta Schullehrer führte den Geflügelhandel, bis sie Deutschland verlassen musste.

Am 28. Oktober 1938 wurden im Rahmen der sogenannten Polenaktion rund 1000 Hamburger Jüdinnen und Juden polnischer Herkunft von Kräften der Ordnungspolizei und der Gestapo verhaftet, mit der Eisenbahn aus Hamburg abtransportiert und nahe der polnischen Stadt Zbaszyn auf brutale Weise über die deutsch-polnische Grenze getrieben. Zu diesen Menschen gehörten neben der Familie Schullerer auch deren Nachbarn in der Wohlersallee 38, das Ehepaar Nechemiah und Scheindel Sabina Weissmann sowie die Familie von Adolf Uscher Friedmann. Dessen Bruder Martin Friedmann wohnte mit seiner Familie in der Wohlers Allee 62. Die Familie wurde ebenfalls abgeschoben. Allein aus diesen beiden Häusern waren 21 Menschen betroffen, darunter 13 Kinder bzw. Jugendliche.

Die folgende Darstellung des Geschehens basiert auf Erfahrungsberichten der überlebenden Berta Schullerer, die sie nach dem Krieg für das sogenannte Wiedergutmachungsverfahren verfasste.

"Am 28. Oktober 1938 wurden wir um 5:00 Uhr morgens von Polizeibeamten geweckt. Mein Mann wurde aufgefordert, sich anzuziehen und sofort mitzukommen. Er wurde mitgenommen, ohne dass ihm die Möglichkeit gegeben wurde, nur das Geringste mit sich zu nehmen. Das Einzige was er mit sich hatte war der Gebetbeutel. […] In seiner Aufregung hat er sogar seine Zahnprothese zurückgelassen.
In meiner Aufregung habe ich versucht, den Aufenthalt meines Mannes zu erfahren und festgestellt, dass er sich auf einem Schulhof befand, dort wurde mir sogar gestattet, zu ihm zu gehen und mit ihm zu sprechen. Auf diesem Hof befanden sich alle polnischen Juden, die man schon zusammen geholt hatte, und man war immer noch dabei, weitere zusammen zu holen.
Nach stundenlangem Herumstehen wurde mein Mann auf ein Polizeirevier gebracht.
Unter den bereits Verhafteten kursierte das Gerücht, dass sie bald wieder freigelassen werden würden. Auch mein Mann versuchte mich mit dieser Erklärung zu beschwichtigen.
Als ich am Nachmittag zwischen 4 und 4 1/2 Uhr in meine Wohnung zurückkehrte, um die Schabbatlichter anzuzünden, standen drei deutsche Gestapoleute vor der Tür, um mich mitzunehmen. Es wurde mir gesagt, dass ich zu meinem Mann gebracht werde. Sie erklärten mir, mein Mann hätte mich gebeten zu kommen. Es hat sich herausgestellt, dass dies eine glatte Lüge war, denn mein Mann hat davon nichts gewusst.
Ich bat die Polizisten noch, die Schabbatlichter enden zu lassen zu dürfen, was sie mir noch großzügig gestatteten. Ich nahm meine vier Kinder, die damals im Alter von ungefähr elf bis zweieinhalb Jahren standen, so wie sie bekleidet waren und ging mit ihnen zu meinem Mann. Auch ich konnte nichts mitnehmen, nicht einmal etwas zum Essen für die Kinder. Die Gestapo-Leute schlossen die Wohnung ab und behielten den Schlüssel bei sich.
Unsere vollkommen möblierte, gut eingerichtete Drei-Zimmer Wohnung samt allen Sachen, Silber, Service, Kristall, Geschirr, Kleider der ganzen Familie, und überhaupt alles blieb in der Wohnung zurück.
Als ich im Jahre 1946 nach Hamburg kam, um nach meinen Sachen und nach meiner Wohnung zu sehen, fand ich fremde Menschen dort und von meinen Sachen war nichts mehr vorhanden.
Man brachte mich mit meinen Kindern zum Polizeirevier, wo ich meinen Mann wieder traf. Am gleichen Abend – es war ein Freitagabend [Freitag, 28. Oktober 1938]– wurden wir mit Lastwagen zum Bahnhof [Altona] gebracht, dort in Züge verfrachtet und unter deutscher Bewachung nach Zbaszyn deportiert.
An der deutsch-polnischen Grenze wurden uns von Deutschen alle Gegenstände abgenommen, wir wurden durchsucht und mussten alle Beträge, die wir mehr als RM 10 hatten, abliefern."

Berta Schullerer berichtete weiter:
"Wir sind Ende Oktober 1938 völlig mittellos und mangelhaft bekleidet in Polen angekommen, haben dort unter primitivsten Verhältnissen hausen müssen, die erste Nacht haben wir in strömendem Regen im Freien verbringen müssen. Meine Hauptsorge waren damals meine vier kleinen Kinder einigermaßen zu schützen und sie nicht hungern zu lassen.
In Polen wollte man uns überhaupt nicht reinlassen, die Polen haben uns nicht als polnische Staatsbürger anerkannt. Wir mussten zunächst in einem Flüchtlingslager in Bentschen bleiben, dort gab es überhaupt keine Schulen. Einige Lagerinsassen, darunter auch mein Mann, erteilten den Kindern im Lager einen Notunterricht, aber von einem geregelten Unterricht kann überhaupt keine Rede sein. Es hat an allem gefehlt, an Lehrern, an Lernmaterial, an Klassenräumen, und die Kinder hatten die unterschiedlichste Vorbildung für den Unterricht.
Auch später als wir das Lager verlassen durften, konnten meine Kinder keine ordentliche Schule besuchen, da sie kein Wort polnisch konnten und nicht in der Lage gewesen wären, einem normalen Unterricht zu folgen. Nachdem die Kinder durch die Deportation aus Deutschland den Schulbesuch plötzlich abbrechen mussten, haben sie nie wieder eine ordentliche Schule besucht und daher auch ihre Schulbildung nicht beendet."

Die Familie blieb neun Monate in dem Lager in Bentschen und kam danach nach Ostpolen, ob aufgrund eigener Entscheidung oder durch Anweisung der polnischen Behörden, wissen wir nicht. Kurze Zeit später, im September 1939, überfiel die deutsche Wehrmacht Polen.

"Im Dezember 1939 befanden wir uns in einer kleinen Ortschaft in der Nähe von Tarnow. Ende Dezember – es war knapp nach Weihnachten –, an einem Freitag-Nachmittag [wahrscheinlich 29.12.1939] fand in dem erwähnten Städtchen eine Razzia und Aktion der Deutschen statt, die gegen die Kinder gerichtet war. Wir wurden auf die Straße getrieben, und zwei SS-Männer nahmen meinen Sohn David und meine Tochter Taube Tony an der Hand und befahlen meinem Sohn Josef, hinter ihnen her zu gehen.
Mich und meinen Mann ließen sie zurück, nachdem sie versucht hatten, mir meine Tochter Rosa, die ich auf den Armen hielt, zu entreißen; ich hielt sie aber so fest, dass die Männer weggingen, ohne mir das Kind wegzunehmen. Der Sohn Josef bemerkte, dass mein Mann ihm Zeichen machte, zurückzukommen und lief zu uns zurück. Die beiden SS-Leute entfernten sich mit den beiden anderen Kindern.
Das alles spielte sich inmitten eines wüsten Gemetzels ab. […] Wir wollten retten was zu retten war, zumindest unser eigenes Leben und das der beiden Kinder, die uns geblieben waren und flüchteten aus dem Städtchen. Die Kinder David und Tony habe ich niemals wieder gesehen, und es kann nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, dass sie an diesem Tage dem durch die Deutschen veranstalteten Gemetzel zum Opfer gefallen sind. Bestärkt werde ich durch die Tatsache, dass die Tochter Taube Tony, während sie durch den SS-Mann an der Hand weggeführt wurde, fürchterlich schrie, und dass ich gesehen hatte, dass man sich speziell schreiender Kinder sofort entledigte.
Mit meinem inzwischen verstorbenen Mann und mit meinen beiden Kindern Joseph und Rosa flüchtete ich zuerst nach Ostgalizien, war dort in Stanislawow."

Aufgrund des deutsch-sowjetischen Vertrages vom 23. August 1939 und des Geheimen Zusatzprotokolls vom 28. September 1939 fielen die ukrainisch besiedelten ostpolnischen Gebiete, also auch Stanislawow, unter sowjetische Verwaltung. Die Sowjets verschleppten Berta und Osias Schullerer mit den Kindern Rosa und Josef nach Sibirien. Sie mussten schwere Arbeiten in den Wäldern verrichten, die Osias nicht überstand. "Er war den Anstrengungen, Leiden und Entbehrungen in Sibirien nicht gewachsen und starb am 18. Juli 1942 in Sanalny/Sibirien", berichtete Berta Schullerer.

Sie fuhr fort:
"Nach dem Kriege kam ich im April 1946 mit meiner Tochter Rosa nach Stettin, wo ich nur ganz kurze Zeit war, dann nach Bad Segeberg, von wo ich nach etwa zwei Wochen in das DP-Lager Neustadt geschickt wurde. Von dort aus kam ich im Herbst 1946 in das DP-Lager Bergen-Belsen. Dort arbeitete mein Sohn Josef als Lagerpolizist. Wir blieben bis Mitte Mai 1947 in Bergen-Belsen und wanderten nach Palästina aus.
Am 30. Mai 1947 kam ich mit meiner Tochter Rosa in Palästina an, wo ich seither wohne."

Josef Schullerer kam am 9. Juli 1948 im israelischen Unabhängigkeitskrieg ums Leben.

Rosa Schullerer besuchte in Palästina eine Elementarschule, lernte Kinderpflege und heiratete 1954. Mit ihrem Mann Daniel ben Moshe bekam sie drei Töchter.

Über Berta Schullerers Geschwister, die wie sie zeitweise in Lüneburg gelebt haben, sind nur unvollständige Informationen zu finden:

David Gutstein, ihr Bruder, war von Lüneburg nach Altona und dann nach Dortmund gezogen. Er reiste im September 1938 von Rotterdam nach New York, arbeitete dort als Schneider und erhielt die amerikanische Staatsbürgerschaft.

Vittel Gutsteins Schicksal, Berta Schullerer Schwester, kennen wir nicht.

Sara Gutstein, Berta Schullerers zweite Schwester, zog 1921 nach Essen, heiratete in Dortmund und trug nun den Nachnamen Kohn. Vor ihrer Abschiebung am 28. Oktober 1938 nach Bentschen wohnte sie in Herten/Recklinghausen. Ihr weiteres Schicksal kennen wir nicht.

Stand: November 2021
© Ingo Wille

Quellen: 1; 5; 9; StaH213-13 Landgericht Hamburg – Wiedergutmachung, 26535 Erben nach Osiasz Schullerer, 31653 Bertha Schullehrer, 332-5 Standesämter 6071 Heiratsregister Nr. 177/1923 Szyja Schullerer/Brancia Gutstein, 351-11 Amt für Wiedergutmachung 49071 Toni Schullerer, 49706 David Schullerer, 48692 Josef Schullerer, 11621 Berta (Bertha) Schullerer, 16809 Berta (Bertha) Schullerer, 741-4 Meldewesen K4548 (Schullerer); Bundesarchiv, Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945: David Schullehrer, Sara Saly Kohn geb. Gutstein, Ozjasz Szyja Schullehrer, Toni Tauba Schullehrer; Stadtarchiv Lüneburg, Meldekarten Gutstein und Schullerer; Alina Bothe, Gertrud Pickhan (Hrsg.); Ausgewiesen! Berlin, 28.10.1938, Die Geschichte der "Polenaktion", Berlin 2018; Marian Wojciechowski, Die deutsche Minderheit in Polen (1920-1939), in: Deutsche und Polen zwischen den Kriegen. Minderheitenstatus und "Volkstumskampf" im Grenzgebiet (1920-1939). Texte und Materialien zur Zeitgeschichte, Bd. 9/1. Hrsg. von Rudolf Jaworski und Marian Wojciechowski, München u.a. 1997, S. 6 ff.; Ina Lorenz und Jörg Berkemann, Die Hamburger Juden im NS-Staat 1933 bis 1938/39, Band II, S. 1096-1107, Göttingen 2016; Beate Meyer (Hrsg.), Die Verfolgung und Ermordung der Hamburger Juden 1933-1945, 2. Aufl., Hamburg 2007, S. 25; Jerzey Tomaszewski, Auftakt zur Vernichtung, Warschau 1998, S. 15 ff.; Statistisches Jahrbuch für die Freie und Hansestadt Hamburg, Jahrgang 1933/1934, Hamburg 1934, S. 130 (mit eigener Umrechnung); Jürgen Sielemann, Paul Flamme, Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus – Gedenkbuch, Staatsarchiv Hamburg 1995, S. XVII; https://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/a-b/214-altona-frueher-schleswig-holstein, Zugriff 23.8.2021). The Central Archives for the History of the Jewish People Jerusalem (CAHJP), http://cahjp.nli.org.il/webfm_send/499 (Zugriff 5.9.2021)
David Gutstein: Ancestry.com. New York, USA, Listen ankommender Passagier und Besatzungen (einschließlich Castle Garden und Ellis Island), 1820-1957 [database on-line]. Provo, UT, USA: Ancestry.com Operations, Inc., 2010 (Zugriff 4.9.2021).
Hinweise und Ergänzungen der Angehörigen Sigi Klein, Michal Ben-Moshe und Adi Talbe zum Stammbaum der Familie in diversen emails.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Recherche und Quellen.

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