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Gertrud Dessau * 1873

Rutschbahn 26 (Eimsbüttel, Rotherbaum)


HIER WOHNTE
GERTRUD DESSAU
JG. 1873
EINGEWIESEN 1911
HEILANSTALT LANGENHORN
"VERLEGT" 23.9.1940
BRANDENBURG
ERMORDET 23.9.1940
"AKTION T4"

Gertrud Dessau, geb. am 8.12.1873 in Hamburg, ermordet am 23.9.1940 in der Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel

Rutschbahn 26

Gertrud Dessau war das dritte von sieben Kindern des Handelsmannes David Dessau und seiner Ehefrau Rosalie, geborene Wagner. Die Eltern gehörten dem jüdischen Glauben an und beide besaßen die hamburgische Staatsangehörigkeit. Sie heirateten am 26. Januar 1869 in Hamburg und wohnten zunächst in David Dessaus Junggesellenwohnung im Stadtteil St. Pauli, Karolinenstraße/Margarethenstraße 29. In dieser Wohnung wurde am 26. März 1870 der älteste Sohn Joseph geboren. Die noch kleine Familie zog wahrscheinlich 1872 in die Glashüttenstraße 6 um, ebenfalls in St. Pauli. Dort kamen die weiteren sechs Kinder zur Welt: Henriette Dessau, geboren am 27. Oktober 1872, Gertrud Dessau, geboren am 8. Dezember 1873, Dora Dessau, geboren am 7. Juni 1875, Martha Dessau, geboren am 2. August 1876, Edwin Dessau geboren am 2. November 1876 und Käthchen Dessau, geboren am 9. Dezember 1877.

Gertrud Dessaus Vater David verfügte über ein gutes Einkommen. Er arbeitete als Abteilungschef in der Firma "Hamburger Engros-Lager Gebr. Heilbuth", die ein Warenhaus in der Dammtorstraße 7/9 mit Filialen in der Steinstraße 121/127 und in der Straße Steindamm 28 betrieb.

Gertrud war ledig und ohne Einkünfte, als sie 33-jährig am 25. Februar 1907 ihren Sohn Curt in der städtischen Entbindungsanstalt (Allgemeines Krankenhaus Eppendorf) bekam. Aus ihrer Fürsorgeakte ergibt sich, dass ihr Vater sie "verstoßen" hatte, weil sie schon früher, vor der Geburt ihres Sohnes Kurt, ein Kind geboren haben sollte.

Die von Gertrud Dessau einem verheirateten Mann zugeschriebene Vaterschaft für Kurt wurde von diesem bestritten und deshalb die Unterhaltszahlung verweigert. Gertrud Dessau gab den Säugling in Pflege, um für ihren und für den Lebensunterhalt ihres Kindes sorgen zu können. Sie selbst wohnte in einem Mädchenheim. Im Mai 1907 arbeitete sie als Dienstmädchen in Hamburg-Winterhude, wenige Wochen später in Hamburg-St. Georg. Gertrud Dessau wechselte oft ihre Arbeitsstellen und verdiente so wenig, dass sie auf Fürsorgeleistungen angewiesen war. Ihr Lohn reichte weder für den Sohn noch für sie selbst. Unter diesen Bedingungen wird es ihr kaum möglich gewesen sein, eine enge emotionale Bindung zu ihrem Sohn zu entwickeln. Er befand sich im Oktober 1907 im Krankenhaus und starb kurz darauf im Alter von nur neun Monaten am 9. Dezember 1907. Die Todesursache ist in der Sterbeurkunde nicht vermerkt.

Nach dem Tod ihres Sohnes war Gertrud Dessau bis Mai 1909 in Dockenhuden gemeldet, damals eine Gemeinde westlich angrenzend an Blankenese. Wir wissen nicht, ob sie dort eine Arbeitsstelle hatte. Anschließend lebte sie ungeachtet des früheren Zerwürfnisses mit ihrem Vater fast zwei Jahre bei ihren Eltern in der Straße Rutschbahn 26, bis sie am 1. April 1911 in den damaligen Alsterdorfer Anstalten aufgenommen wurde. Nachdem Gertruds Vater nach langer schwerer Krankheit am 12. April 1919 gestorben war, zog ihre nun mittellose Mutter zu ihrem Schwiegersohn Wilhelm Ladewig und ihrer Tochter Dora nach Berlin.

Gertrud Dessaus Eltern hatten bis zum Tod des Vaters zu Gertruds Unterhaltskosten beigetragen. Die alleinstehende Mutter sah sich außerstande, dafür weiterhin aufzukommen. Sie war selbst auf die Unterstützung von Verwandten angewiesen und konnte die von der Allgemeinen Armenanstalt in Hamburg eingeforderten Unterhaltsbeiträge nicht leisten.

Im Dezember 1920 diagnostizierte der Oberarzt der Alsterdorfer Anstalten Gertrud Dessaus dauernde Anstaltsbedürftigkeit aufgrund "einer hochgradigen geistigen Behinderung" und eines schweren Augenleidens.

Als das Hamburger Wohlfahrtsamt im August 1921 feststellte, Gertrud Dessau sei der "öffentlichen Armenpflege anheimgefallen", war die bis dahin immer wieder in Frage gestellte Finanzierung der Pflegekosten in den Alsterdorfer Anstalten endlich geregelt. Nachdem Gertrud Dessaus Mutter im Dezember 1925 gestorben war, wurde Gertrud eine geringe Waisenrente zugebilligt, die die weitere Unterbringung in den Alsterdorfer Anstalten abzusichern half.

Nach 1933 entwickelten sich die Alsterdorfer Anstalten zu einem nationalsozialistischen Musterbetrieb, in dem eugenische Vorstellungen und damit einhergehend auch Zwangssterilisationen als "Verhütung unwerten Lebens" unterstützt wurden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Verfolgung der Juden im Deutschen Reich auch zu entsprechenden Maßnahmen in den Alsterdorfer Anstalten führte. Ein Urteil des Reichsfinanzhofs vom 18. März 1937 diente als Vorwand, die Entlassung aller Juden aus den Alsterdorfer Anstalten vorzubereiten. Pastor Friedrich Karl Lensch, der Leiter der Alsterdorfer Anstalten, leitete aus dem Urteil die Gefahr des Verlustes der steuerrechtlichen Gemeinnützigkeit ab, wenn künftig Jüdinnen und Juden in der Anstalt bleiben würden. Ein Schreiben vom 3. September 1937 an die Hamburger Fürsorgebehörde enthielt 18 Namen von "jüdischen Zöglinge[n], welche hier auf Kosten der Fürsorgebehörde untergebracht sind", darunter auch den von Gertrud Dessau. Sie wurde am 31. Oktober 1938 mit 14 weiteren jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern aus Alsterdorf zunächst in das Versorgungsheim Oberaltenallee verlegt und kam von dort in das Versorgungsheim Farmsen. Im April 1940 konnten sich die Alsterdorfer Anstalten schließlich des letzten jüdischen Anstaltsbewohners entledigen.

Wie alle jüdischen Frauen ohne "typisch jüdischen" Vornamen musste Gertrud Dessau ab dem 1. Januar 1939 den zusätzlichen Vornamen "Sara" führen. Ihre jüdische Herkunft war so für jedermann und jederzeit erkennbar. Gertrud Dessaus Fürsorgeakte wurde unübersehbar mit einem "J" und einem hingekritzelten Zeichen für den Davidstern versehen.

Im Frühjahr/Sommer 1940 plante die "Euthanasie"-Zentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4, eine Sonderaktion gegen Juden in öffentlichen und privaten Heil- und Pflegeanstalten. Sie ließ die in den Anstalten lebenden jüdischen Menschen erfassen und in sogenannten Sammelanstalten zusammenziehen. Die Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn wurde zur norddeutschen Sammelanstalt bestimmt. Alle Einrichtungen in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg wurden angewiesen, die in ihren Anstalten lebenden Juden bis zum 18. September 1940 nach Langenhorn zu verlegen.

Gertrud Dessau traf am 18. September 1940 in Langenhorn ein. Zusammen mit 135 weiteren Patienten wurde sie am 23. September nach Brandenburg an der Havel transportiert. Der Transport erreichte die märkische Stadt noch an demselben Tag. In dem zur Gasmordanstalt umgebauten Teil des ehemaligen Zuchthauses trieb man die Patienten umgehend in die Gaskammer und tötete sie mit Kohlenmonoxyd. Nur Hertha Zachmann entkam zunächst diesem Schicksal (siehe dort).

Wir wissen nicht, ob und ggf. wann Angehörige Kenntnis von Gertrud Dessaus Tod erhielten. In allen dokumentierten Mitteilungen über den Tod der in Brandenburg ermordeten Menschen wurde behauptet, dass der oder die Betroffene in Chelm oder Cholm verstorben sei. Die in Brandenburg Ermordeten waren jedoch nie in Chelm (polnisch) oder Cholm (deutsch), einer Stadt östlich von Lublin. Die dort früher existierende polnische Heilanstalt bestand nicht mehr, nachdem SS-Einheiten am 12. Januar 1940 fast alle Patienten ermordet hatten. Auch gab es in Chelm kein deutsches Standesamt. Dessen Erfindung und die Verwendung späterer als der tatsächlichen Sterbedaten dienten dazu, die Mordaktion zu verschleiern und zugleich entsprechend länger Verpflegungskosten einfordern zu können.

Gertruds Bruder Joseph Dessau hatte seinen Wohnsitz als Kaufmann nach Berlin verlegt. Er war verheiratet mit Martha Dub und verstarb am 19. Dezember 1918.

Gertrud Dessaus Schwester Käthchen, die 1902 Heinrich Emil Pierschel geheiratet hatte, lebte mit ihm in Thale im heutigen Sachsen-Anhalt. Sie starb dort am 12. März 1942.

Martha Dessau hatte 1897 Carlo Pasquale Somigli geheiratet. Edwin Dessau ging 1910 eine Ehe ein. Dora Dessau heiratete im Juli 1905 den kaufmännischen Abteilungschef Ludwig Samter aus Berlin. Er starb 1915 in Berlin. Dora Samter schloss 1919 eine zweite Ehe in Berlin mit dem Schilderfabrikanten Friedrich Wilhelm Ladewig, geboren 1870 in Meseritz geboren und ebenfalls jüdischer Herkunft. Henriette Dessau heiratete 1897 in Berlin den Lehrer und Doktor der Philosophie Heinrich Samter. Die weiteren Schicksale dieser vier Geschwister von Gertrud Dessau kennen wir nicht.


Stand: November 2018
© Ingo Wille

Quellen: 1; 4; 5; 8; 9; StaH 133-1 III Staatsarchiv III, 3171-2/4 U.A. 4, Liste psychisch kranker jüdischer Patientinnen und Patienten der psychiatrischen Anstalt Langenhorn, die aufgrund nationalsozialistischer "Euthanasie"-Maßnahmen ermordet wurden, zusammengestellt von Peter von Rönn, Hamburg (Projektgruppe zur Erforschung des Schicksals psychisch Kranker in Langenhorn); 332-03 Zivilstandsaufsicht A 231 Geburtsregister Nr. 416/1870 Joseph Dessau, A 242 Geburtsregister 1758/1872 Henriette Dessau, A 249 Geburtsregister Nr. 2071/1873 Gertrud Dessau, A 258 Geburtsregister Nr. 989/1875 Dora Dessau, B 23 Heiratsregister Nr. 3099/1868 David Rosalie Dessau; 332-5 Standesämter 595 Sterberegister Nr. 849/1907 Curt Dessau, 1885 Geburtsregister Nr. 3581/1876 Martha Dessau, 1888 Geburtsregister Nr. 5137/1876 Edwin Dessau, 1914 Geburtsregister Nr. 5780/1877 Käthchen Dessau, 8639 Heiratsregister Nr. 201/1905 Dora Dessau/Ludwig Samter; 351-14 Oberfinanzpräsident Nr. 1110 Gertrud Dessau; 352-8/7 Staatskrankenanstalt Langenhorn Abl. 1/1995 Aufnahme-/Abgangsbuch Langenhorn 26.8.1939 bis 27.1.1941; Landesarchiv Berlin Sterberegister Nr. 1450/1915 Ludwig Samter, Heiratsregister Nr. 106/1897 Henriette Dessau/Heinrich Samter, Sterberegister Nr. 1498/1918 Joseph Dessau, Heiratsregister Nr. 976/1919 Dora Samter/Wilhelm Ladewig; Evangelische Stiftung Alsterdorf, Archiv, Erbgesundheitskarteikarte Gertrud Dessau und Aufnahmebuch; Standesamt Thale, Sterberegister Nr. 33/1942 Käthchen Pierschel geb. Dessau. Markgraf, Geschichte Farmsen, Dok. 21. Wunder, Michael, Das Schicksal der jüdischen Bewohner der Alsterdorfer Anstalten, in: Wunder, Michael/Genkel, Ingrid/Jenner, Harald, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Hamburg 1987, S. 155ff.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen"

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