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Pinkus Adest * 1887
Bernstorffstraße 161 (Altona, Altona-Altstadt)
HIER WOHNTE
PINKUS ADEST
JG. 1887
"POLENAKTION" 1938
BENTSCHEN / ZBASZYN
ERMORDET IM
BESETZTEN POLEN
Weitere Stolpersteine in Bernstorffstraße 161:
Anna Mathilde Adest, Mejer Meier Adest, Senta Adest
Pinkus Adest, geb. am 15.6.1885 in Strzyzow (heute Strzyżów, Polen), am 28.10.1938 über die deutsch-polnische Grenze bei Zbąszyń (deutsch Bentschen) abgeschoben, ermordet im besetzten Polen
Chana (Anna Mathilde) Adest, geb. Engelberg, geb. wahrscheinlich am 1.9.1888 in Rzeszow (Polen), am 28.10.1938 über die deutsch-polnische Grenze bei Zbąszyń (deutsch Bentschen) abgeschoben, ermordet im besetzten Polen
Mejer Meier Abraham (Adolf) Adest, geb. am 7.1.1907 in Rzeszow (Polen), am 28.10.1938 über die deutsch-polnische Grenze bei Zbąszyń (deutsch Bentschen) abgeschoben, ermordet im besetzten Polen
Senta Adest, geb. am 25.6.1914 in Altona, am 28.10.1938 über die deutsch-polnische Grenze bei Zbąszyń (deutsch Bentschen) abgeschoben, ermordet im besetzten Polen
Bernstorffstraße 161 (früher Adolphstraße bzw. Adolfstraße), Altona Altstadt
Die jüdische Familie Adest war 1910 aus Galizien in die damals noch selbstständige Stadt Altona eingewandert. Dies ergibt sich aus der Beitrittserklärung zur Hochdeutschen Israeliten-Gemeinde. Galizien gehörte zu dieser Zeit noch zu Österreich.
Pinkus Adest war am 15. Juni 1885 in Strzyzowin Galizien zur Welt gekommen. Das heutige Strzyżów liegt im Südosten von Polen in der Woiwodschaft Karpatenvorland am Zusammenfluss der Flüsse Wisłok und Stobnica.
Das Ehepaar Pinkus und Anna Mathilde (Chana), geborene Engelberg, wahrscheinlich geboren am 1. September 1888 in Rzeszow (heute Polen), hatte noch in Galizien geheiratet. Dort kamen zwei ihrer drei Kinder zur Welt: Mejer Meier Abraham (Adolf), geboren am 7. Januar 1907 in Rzeszow, und Moryc (Moritz/Morris), geboren am 15. Januar 1908 in Rzeszow. Senta, das dritte und jüngste Kind, wurde am 25. Juni 1914 in Altona geboren.
Alle Familienangehörige wurden in den behördlichen Dokumenten als polnische Staatsangehörige geführt.
Die Familie ließ sich zunächst in einem Hinterhaus in der damaligen Adolphstraße 149 (ab 1938 Adolfstraße nach dem Vornamen von Hitler, ab 1. Januar 1939 Bernstorffstraße) nieder. Pinkus Adest sorgte für seine Familie anfangs als Arbeiter. Schon 1914 betrieb er aber laut Adressbuch von Altona in der Adolphstraße 159 einen Wäschegroßhandel. Das Geschäft muss sehr erfolgreich angelaufen sein. Bereits etwa 1924 hatten Pinkus und Anna Mathilde Adest das benachbarte (Mietwohn-) Grundstück Adolphstraße Nr. 161 erworben, das sie auch bezogen. Eigentümerin war laut Grundbuch Anna Mathilde (Chana) Adest. Auch das Adressbuch von Altona benannte "Frau Anna" noch bis zur Ausgabe von 1940 als Eigentümerin, 1941 befand sich hinter "E." (für Eigentümer) nur noch ein Leerstrich.
Der älteste Sohn Adolf Adest war als Kaufmann tätig. Moritz Adest, der zweitjüngste Sohn, der als einziger die Zeit des Nationalsozialismus überlebte, besuchte von 1914 bis 1923 die Talmud Tora Schule in Hamburg. Er absolvierte danach eine kaufmännische Lehre bei dem Weißwaren-Großhandel Seligmann & Franck in der Deichstraße 9 in Hamburg-Altstadt. Zwischen 1930 und 1933 arbeitete Moritz Adest aushilfsweise im Kaufhaus Alsterhaus am Jungfernstieg. Parallel handelte er auf eigene Rechnung mit Stoffen und Tuchen. Er wohnte weiterhin bei seinen Eltern in der Adolphstraße 161.
Senta Adest, das jüngste der drei Kinder, war nach den Berichten der Eltern in der Schule sehr tüchtig. Sie besuchte die Handelsschule und arbeitete danach als Kontoristin. Seit September 1932 – Senta Adest war jetzt achtzehn Jahre alt – nahmen ihre Eltern Veränderungen an ihr wahr. Sie verhielt sich ängstlich und menschenscheu. Deshalb wurde sie vom 30. Juni 1934 bis 30. April 1935 in der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg behandelt und dann in die Staatskrankenanstalt Langenhorn verlegt. Dort hatte sie lt. den Eintragungen in der Krankenakte wenig Kontakt zu ihrer Umgebung. Sie habe Selbstgespräche geführt, zeitweise laut aufgeschrien und um Hilfe gerufen. Ihre Diagnose lautete Schizophrenie.
Gegen ärztlichen Rat holte ihr Vater sie am 14. Mai 1935 auf Urlaub nach Hause, brachte sie am 9. November 1935 jedoch in die Anstalt zurück. Das Krankheitsbild, wie es nun in der Krankenakte dokumentiert wurde, ähnelte dem in Friedrichsberg. Sie soll antriebslos im Tagesraum gesessen haben, ohne sich um ihre Umgebung zu kümmern. Handarbeiten, die die Angehörigen mitgebracht hatten, habe sie hastig angefertigt. Zuweilen habe sie mit großer Lust Klavier gespielt, immer im Marschtempo. Die junge Frau wurde wiederholt als unrein beschrieben. Sie habe unmäßig gegessen, entsprechend stieg ihr Gewicht stark an.
Am 9. Mai 1938 wurde sie in das Allgemeine Krankenhaus Barmbek verlegt und dort am 13. Mai 1938 zwangssterilisiert. Aufgrund einer Folgekrankheit konnte sie die Klinik erst am 22. Juli verlassen. Sie galt danach als psychisch ruhig, ohne Antrieb, autistisch. Pinkus Adest holte seine Tochter am 31. August 1938 gegen Revers nach Hause. Seit dem 28. September führte die Langenhorner Anstalt sie als "endgültig entlassen".
Während sich die Eltern um Senta sorgten und kümmerten, trafen sie die antijüdischen Maßnahmen der Nationalsozialisten wie der Boykott jüdischer Geschäfte im April 1933. Moritz Adests Bericht im Wiedergutmachungsverfahren nach dem Kriege gibt einen Eindruck davon. Er erinnerte sich daran, dass seine Eltern 1930 und 1931 jeweils Einkommen von etwa 40 000 RM bis 45 000 RM erwirtschaftet hatten, die 1937 auf 5 000 RM und 1938 auf 1 000 RM zusammenschmolzen.
Seine eigenen Einnahmen bezifferte Moritz Adest zwischen 1930 und1932 auf 5 000 RM bis 6 000 RM pro Jahr. 1933 gingen sie auf 3 000 RM und 1934 auf 1 500 RM zurück. Ab 1935 verdiente er nichts mehr. Seine Außenstände konnte er nicht einziehen, weil sich die Kunden weigerten, offene Rechnungen zu begleichen.
Am 28. Oktober 1938 wurden 17 000 Juden polnischer Herkunft im Rahmen der sogenannten Polenaktion aus dem Deutschen Reich über die polnische Grenze zwangsausgewiesen. Die polnische Regierung hatte zuvor damit gedroht, die Pässe der im Ausland lebenden Polen nicht zu verlängern. Dadurch wären sie zu Staatenlosen geworden. Die NS-Regierung befürchtete deshalb, dass Tausende "Ostjuden" dauerhaft auf deutschem Gebiet bleiben würden. Ohne Vorwarnung und ohne Ansehen der Person wurden Männer, Frauen und Kinder von ihren Arbeitsplätzen oder aus ihren Wohnungen im gesamten Deutschen Reich abgeholt, an verschiedenen Orten zusammengetrieben und noch am selben Tag mit der Eisenbahn über die polnische Grenze bei Zbąszyń (Bentschen), Chojnice (Konitz) in Pommern und Bytom (Beuthen) in Oberschlesien abgeschoben. Die Kosten der Deportationsaktion sollten aus dem Reichshaushalt getragen werden, "soweit sie nicht [...] bei den deportierten Ausländern erhoben werden können".
Aus Hamburg, zu dem seit 1. Januar 1938 auch Altona gehörte, wurden etwa Tausend Menschen zwangsweise nach Neu Bentschen (heute Zbąszynek) auf der deutschen Grenzseite befördert und von dort mit Gewalt über die polnische Grenze in das etwa 10 km entfernte Zbąszyń getrieben. Zu den Ausgewiesenen gehörte das Ehepaar Adest mit den beiden Kindern Adolf und Senta.
Moritz Adest entging der Abschiebung, weil er sich zu dieser Zeit in Berlin aufhielt. Er wurde dort im Gestapo-Gefängnis am Alexanderplatz inhaftiert. Nach vier Wochen kam er wieder frei, nachdem geklärt war, dass er sich der Ausweisung nicht entzogen hatte. Er erhielt die Anweisung, Deutschland binnen sechs Monaten zu verlassen.
Sein Versuch, die Vermögenswerte seiner Eltern zu retten, indem er Ende November 1938 für sie und die beiden Geschwister die bereits vollzogene "Auswanderung" nach Polen beantragte, blieb erfolglos. Er bezifferte das Barvermögen auf 500 RM, Forderungen an abgeschobene Kunden auf ca. 5 000 RM. Als weitere Vermögenswerte nannte er den Hausstand und Möbel. Die Frage, welcher Betrag in bar ausgeführt werden sollte, wurde mit 10 RM beantwortet. Pinkus und Anna Adest kamen nie in den Besitz ihres notgedrungen zurückgelassenen Geldvermögens.
Von Zbąszyń zogen Pinkus und Anna Adest mit den beiden Kindern Adolf und Senta nach Rzeszow. Die Familie lebte dort nach einem Bericht von Moritz Adest im späteren Wiedergutmachungsverfahren in der Seitenfrauengasse 10 bzw. in der Ulica Tredy 16a. Moritz Adest erhielt von ihnen mit Datum vom 15. Juli 1942 als letztes Lebenszeichen eine Postkarte. Daraus ging hervor, dass Senta Adest nicht mehr bei ihren Eltern lebte. Ob sich Adolf Adest zu dieser Zeit noch bei seinen Eltern befand, ist nicht bekannt.
Die Deutschen errichteten 1941 in Rzeszow ein Getto, aus dem viele jüdische Bewohner später im Vernichtungslager Belzec ermordet wurden. Es ist davon auszugehen, dass auch alle nach Polen verschleppten Angehörigen der Familie Adest ermordet wurden. Näheres ist nicht bekannt. Alle wurden auf den 8. Mai 1945 für tot erklärt.
Moritz Adest bestieg am 28. März 1939 ein Schiff nach Kuba. Im Dezember 1940 erhielt er schließlich die Einreiseerlaubnis nach New York. Er wurde Staatsbürger der Vereinigten Staaten und änderte seinen Vornamen in Morris.
Nach Moritz Adests Abreise verwaltete auf seinen Wunsch hin zunächst die Mieterin Bertha Durkee das Grundstück Bernstorffstraße 161. Noch 1939 übernahm die Hamburgische Grundstücksverwaltungs-Gesellschaft von 1938 m.b.H. das Grundstück in ihre Zwangsverwaltung. Die Gauleitung hatte diese Gesellschaft 1938 eigens zum Zweck der Enteignung jüdischer Immobilienbesitzer gegründet und sich damit eines Großteils des jüdischen Grundbesitzes bemächtigt.
An Pinkus, Anna Mathilde, Mejer Meier und Senta Adest erinnern Stolpersteine vor ihrem früheren Haus in der Bernstorffstraße 161.
Stand: März 2024
© Ingo Wille
Quellen: Adressbücher Altona und Hamburg (diverse Jahrgänge, 1; 2; 4, 5; StaH 213-13 Landgericht Hamburg – Wiedergutmachung 2018 (Anna Adest), 2019 (Morris Adest), 34598 (Morris Adest), 314-15 Oberfinanzpräsident F11 (Pinkus und Mathilde Adest geb. Engelberg), FVg 3973 (Morris Adest), R1939/126 (Sicherungsmaßnahmen Pinkus und Mathilde Adest), 424-111 Amtsgericht Altona 7278 (Adest, geb. Engelberg, Anna Mathilde (Chana)), 351-11 Amt für Wiedergutmachung 3305 (Morris Adest), 352-8/7 Staatskrankenanstalten 21474 Senta Adest; 741-4 Fotoarchiv Alpabetische Meldekartei Altona K7270 (1892-1919). Frank Bajohr, "Arisierung" in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933-1945, Hamburg 1998, S. 290-293 (Hamburgische Grundstücksverwaltungsgesellschaft von 1938 mbH); Alina Bothe, Gertrud Pickhan (Hrsg.); Ausgewiesen! Berlin, 28.10.1938, Die Geschichte der "Polenaktion", Berlin 2018; Marian Wojciechowski, Die deutsche Minderheit in Polen (1920-1939), in: Deutsche und Polen zwischen den Kriegen. Minderheitenstatus und "Volkstumskampf" im Grenzgebiet (1920-1939). Texte und Materialien zur Zeitgeschichte, Bd. 9/1, Hrsg. von Rudolf Jaworski und Marian Wojciechowski, München u.a. 1997, S. 6 ff.; Ina Lorenz und Jörg Berkemann, Die Hamburger Juden im NS-Staat 1933 bis 1938/39, Band II, S. 1096-1107, Göttingen 2016; Beate Meyer (Hrsg.), Die Verfolgung und Ermordung der Hamburger Juden 1933-1945, 2. Aufl., Hamburg 2007, S. 25; Jerzey Tomaszewski, Auftakt zur Vernichtung, Warschau 1998, S. 15 ff.; Jürgen Sielemann, Paul Flamme, Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus – Gedenkbuch, Staatsarchiv Hamburg 1995, S. XVII; Das nationalsozialistische Lagersystem, Frankfurt/M, 1998.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".