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Leo und Bella Stern im Kreise ihrer Kinder und Enkel, 1920er Jahre
© Privatbesitz

Leo Liebmann Stern * 1858

Maria-Louisen-Straße 120 (Hamburg-Nord, Winterhude)


HIER WOHNTE
LEO LIEBMANN
STERN
JG. 1858
FLUCHT 1938
ITALIEN
USA

Weitere Stolpersteine in Maria-Louisen-Straße 120:
Bella Stern

Leo (Liebmann) Stern, geb. 14.2.1858 in Breidenbach, Flucht über Italien und die Schweiz in die USA, dort verstorben am 19.11.1943 in New York

Bella Stern, geb. Abenheimer, geb. 12.10.1867 in Mannheim, Flucht über Italien und die Schweiz in die USA, dort verstorben am 6.9.1950 in New York)

Maria-Louisen-Str. 120, Hamburg-Winterhude

Leo Liebmann Stern wurde als jüngster von sechs Söhnen des Kleinviehhändlers Jacob Stern (1808-1889) in der hessischen Gemeinde Breidenbach bei Biedenkopf im heutigen Landkreis Marburg geboren. Leos Mutter Rachel (1812-1890), geb. Baumeister, war die zweite Ehefrau des zuvor verwitweten Jacob, der zuweilen auch ein Gewerbe als Metzger und hausierender Baumwollhändler betrieb.

Aus den "sehr bescheidenen" Verhältnissen eines jüdischen Elternhauses stammend, gründete Leo Stern gemeinsam mit seinem älteren Bruder Josef (1851-1934) Ende des Jahres 1880 in Köln das Handelsunternehmen "Gebrüder Stern" für Schmieröle und Wagenfette. Dieses bauten sie beständig zu einem Fertigungsunternehmen für Industriefette und –öle aus. Dessen Hauptproduktionsstandort wurde während der 1890er Jahre nach Hamburg in den Freihafen verlagert, wohin schließlich auch die Zentrale zog. Ab 1903 firmierte das Unternehmen als "Oelwerke Stern & Sonneborn A.G. Ossag" mit Sitz im Kleinen Grasbrook, nachdem die Stern-Brüder zuvor einen Verwandten aus Breidenbach, den Finanzkaufmann Jacques Sonneborn, in die Geschäftsführung aufgenommen hatten. Leo Stern und sein entfernter Cousin Sonneborn bauten dieses Aktienunternehmen, das noch immer von den Gründern geleitet wurde, von Hamburg aus zu einem führenden deutschen Mineralölunternehmen auf, das Filialen in ganz Europa besaß. Während des Ersten Weltkrieges baute Stern gemeinsam mit Sonneborn durch intensive Reisetätigkeit die Stellung des Unternehmens als kriegswichtiger Lieferant für das deutsche Heer weiter aus. Bereits in den 1890er Jahren waren ausländische Niederlassungen in Paris, London und dem italienischen Rivarolo bei Genua gegründet worden.

Dieser enorme unternehmerische Erfolg während des Kaiserreichs machte Stern, der in den 1890er Jahren seinen Wohnsitz von Köln nach Hamburg verlegte (1897 wohnte er in der Hamburger Schlüterstraße 22) zu einem wohlhabenden Mitglied der Hamburger Unternehmerschaft, das auch der jüdischen Kultusgemeinde beitrat und diese finanziell unterstützte. Im Januar 1890 hatte Stern in Mannheim seine dort geborene Ehefrau Bella aus der Kaufmannsfamilie Abenheimer geheiratet.

In Hamburg wurde der aus einem gemäßigt konservativen Hause stammende Stern Mitglied des liberalen Tempelverbands. Nach 1903 bezog er mit seiner Familie, Ehefrau Bella und den noch in Köln geborenen Kindern Otto (geb. 1890) und Erna (geb. 1894), sowie den in Hamburg geborenen Söhnen Walter (geb. 1898) und Paul (geb. 1901) – in die am Alsterufer in Winterhude neuerrichtete Stadtvilla im Leinpfad 6, die "mit aufwendigem Bauschmuck versehen" nach Plänen des Architekten Alfred Löwengard gestaltet worden war. Das repräsentative Anwesen, heute denkmalgeschützt und Sitz des japanischen Konsulats, war Ausdruck von Sterns Selbstbewusstsein als erfolgreicher deutscher Gründerunternehmer des Kaiserreichs, der nach Anfängen in der Handelsstadt Köln die familiengeführte Industrieproduktion auch in der Hansestadt Hamburg zum Erfolg geführt hatte.

Sterns damaliges Vermögen ist anhand der Höhe seiner Kultussteuerabgabe erahnbar, die stetig wuchs: Betrug diese Abgabe im Jahr 1913 400 Mark wurde Stern als Direktor der Ossag im Jahr 1921 mit 5000 Mark Kultussteuer veranlagt, ein Betrag, den Stern nach Bewältigung der Inflationskrise von 1923 erst wieder 1926 in dieser Höhe errichtete – dann in neuer Reichsmarkwährung. Die nach dem Ersten Weltkrieg gegründete Hamburger Universität wurde von der inhabergeführten Ossag 1920 durch eine großzügige Spende gefördert. Das Unternehmen fand sich damit im Kreis sowohl der jüdischen wie nichtjüdischen wirtschaftlich-industriellen Elite der Hansestadt.

Leo Stern hielt dennoch zu seinem Geburtsort im hessischen Hinterland Kontakt, wo noch immer Verwandte lebten. Anlässlich der 1000-Jahrfeier der Gemeinde Breidenbach im Jahr 1913 schickte Stern gemeinsam mit Sonneborn aus Hamburg Grußtelegramme sowie eine großzügige Geldspende an seinen Geburtsort.

1924 trat Leo Stern zugunsten seines Sohnes Otto aus der aktiven Firmenleitung der Ossag zurück und wechselte, wie Sonneborn, in den Aufsichtsrat des Unternehmens. Dieser Führungswechsel erfolgte im Zuge der Fusion mit einem deutschen Tochterunternehmen des Shell-Konzerns im Jahr 1925. Das Unternehmen firmierte fortan als Rhenania-Ossag Mineralölwerke AG und setzte seinen rasanten Expansionskurs auch am Hamburger Standort weiter fort. Der Verlust der vormals unabhängigen Position der Firma wurde für Stern durch seine Fortführung des Aufsichtsratsmandates zunächst kompensiert.

Seinen allmählichen Rückzug ‚ins Private‘, das er bevorzugt unauffällig mit Ehefrau und im Kreis der Familie verbrachte, zeigte auch der Verkauf der Hamburger Stadtvilla im Leinpfad 6 an einen japanischen Investor im Jahr 1928 an. Stern zog mit Ehefrau Bella daraufhin in eine Wohnung in der Andreasstr. 9. Während der 1920-er Jahre kamen alle sechs Enkelkinder von Leo und Bella Stern in Hamburg zur Welt, 1919 und 1920 die Kinder der Tochter Erna, 1924 und 1928 die Kinder des ältesten Sohnes Otto, sowie 1924, 1928 und 1930 die des Sohnes Walter.

Infolge der nationalsozialistischen Machtübernahme wurden die kaufmännischen Tätigkeiten der Stern-Söhne und des Schwiegersohns in Hamburg aufgrund ihrer "rassischen" Zugehörigkeit zunehmend erschwert und schließlich, im Zuge von Firmen"arisierungen" bis 1938 ganz unmöglich gemacht. Als erster der Familie Stern erfuhr jedoch Leo Stern, welche Formen der Zurücksetzung selbst Großindustrielle und erfolgreiche Unternehmensgründer im neuen Regime widerfuhren: Wie sein Geschäftspartner Sonneborn wurde Stern wegen seiner jüdischen Herkunft im Frühjahr 1933 aus dem Aufsichtsrat der Rhenania-Ossag herausgedrängt. Noch bevor die NS-Regierung offizielle Direktiven zur "Arisierung" von Unternehmen erließ, versuchte die neue Führung der Rhenania-Ossag, sich damit als Tochter eines ausländischen Konzerns, der Royal Dutch Shell, dem neuen Regime politisch anzudienen. Weitere nahe Angehörige der Gründerunternehmer, etwa Leo Sterns Neffe Richard Stern, sowie weitere leitende jüdische Angestellte der Rhenania-Ossag verloren infolge der antisemitischen Verfolgungen ihre Anstellung und versuchten durch Emigration ihr Leben zu retten.

Im Februar 1933 hatte Leo Stern aus Anlass seines 75sten Geburtstags einen "Lebenslauf" verfasst, in dem er seinen persönlichen und unternehmerischen Werdegang darstellte. Ende 1936, nachdem sein langjähriger Geschäftspartner Jacques Sonneborn verstorben war, gab Stern dieses 23seitige Manuskript "heraus", vermutlich zirkulierte es im engeren Familien-, aber auch Freundes- und Bekanntenkreis. Zu diesem Zeitpunkt musste Leo Stern schmerzhaft realisiert haben, das mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten der künftigen wirtschaftlich-industriellen Tätigkeit seiner Person und der seiner Familienangehörigen ein brutales Ende aufgezwungen worden war. Offen gestand Stern dies in seinem Lebenslauf allerdings nicht ein. Die antisemitischen Verfolgungsmaßssnahmen durch die Nationalsozialisten seit 1933 blendete er in diesem Text komplett aus, den er als Vermächtnis seiner unternehmerischen Lebensleistung konzipiert hatte und als solches verstanden wissen wollte. Eine Kopie von Leo Sterns Typoskript, das 1962 von dessen Tochter Erna ins Englische übersetzt wurde, gelangte 1965 ins Archiv des New Yorker Leo Baeck Instituts.

Leo und Bella Sterns Tochter Erna war mit Kindern und Ehemann, einem Versicherungsmakler, Ende 1937 ins Ausland verzogen, der Sohn Walter Stern verließ Hamburg und das Deutsche Reich mit Kindern und Ehefrau im März 1938. Es waren wohl erst die Mahnungen und das Beispiel ihrer eigenen Kinder, welche das Ehepaar Stern, das um 1937 in die Maria-Louisen-Straße 120 umgezogen war, schließlich zum Fortzug aus Hamburg bewogen. Hier hatten sie gut vierzig Jahre ihres gemeinsamen Lebens verbracht.

Anfang Mai 1938 verließ der damals 80jährige Leo Stern mit seiner Ehefrau das Deutsche Reich, zunächst mit dem Ziel Meran (Italien). Um sich dem Zugriff der Nationalsozialisten dauerhaft zu entziehen, reiste das Ehepaar nach rund sechs Monaten aus dem faschistischen Italien in die Schweiz ein, wo es ab November 1938 zunächst in Locarno lebte und später in Zürich unterkam. Wie knapp die Sterns in die "neutrale" Schweiz entkamen, zeigt der Umstand, dass in Absprache deutscher und schweizerischer Behörden ab Oktober 1938 die Pässe deutscher Staatsbürger jüdischer Konfession mit einem roten "J" gestempelt wurden und Einreisewillige dadurch fortan an der schweizerischen Grenze häufig abgewiesen wurden.

Sterns Versuche, Teile seines Vermögens aus Deutschland auszuführen, wurden durch die antijüdischen Sonderabgaben und Besteuerungsmaßnahmen deutscher Behörden weitgehend vereitelt. Wie Wiedergutmachungsakten belegen, musste Leo Stern an das Hamburger Finanzamt 1938 eine Reichsfluchtsteuer in Höhe von RM 67.750 entrichten sowie Ende des Jahres eine "Judenvermögensabgabe" in Höhe von RM 19.250 zahlen. Auf ein Kapital von RM 90.000, das Stern 1938 ins Ausland transferieren wollte, erhob das Deutsche Reich Abschläge von über 90 Prozent, sodass von dieser Summe nur RM 2.875 zur Auszahlung gelangten. Aufgrund der weitgehenden Vernichtung ihrer wirtschaftlichen Existenz gelang es den Sterns nur mit Hilfe und Unterstützung ihrer bereits in die USA und nach England geflüchteten Kinder, sich im schweizerischen Exil vorübergehend zu behaupten.

Offenbar waren Leo und Bella Stern aufgrund ihrer deutschen Herkunft sowie ihrer tiefen Verwurzelung in deutscher Sprache und Kultur zutiefst unwillig, Europa zu verlassen. Auch ihr fortgeschrittenes Alter mag ihnen, wie vielen anderen Deutschen ihrer Generation, diesen Entschluss schwergemacht haben. Erst im Laufe des Jahres 1941, angesichts der völligen Aussichtslosigkeit einer Rückkehr in ihre deutsche Heimat, betrieben die Sterns schließlich ihre Auswanderung aus der Schweiz.

Nachdem sie ihre am 27. Oktober 1941 in Zürich ausgestellten Visa erhalten hatten, schifften sie sich zweieinhalb Wochen später im portugiesischen Lissabon auf der amerikanischen SS Excambion ein, mit zahlreichen weiteren jüdischen Flüchtlingen aus ganz Europa. Nach zehntägiger Überfahrt erreichten sie am 24.November 1941 den Hafen von New York. Europa hatten die Sterns bereits in Lissabon als Staatenlose verlassen: Vier Tage nach der Ausstellung ihrer Visa erklärte das Deutsche Reich Leo und Bella Stern für ausgebürgert, was den Höhepunkt ihrer Entrechtung und damit ihrer sozialen und wirtschaftlichen Existenzvernichtung bedeutete.

Leo Stern starb 1943 in New York, noch immer staatenlos. Durch ihre Ausbürgerung verfiel das restliche in Deutschland verbliebene Vermögen der Sterns dem Deutschen Reich. Leos Witwe Bella starb 1950 in New York.

Ihr ältester Sohn Otto, 1940 mit Frau und Kindern aus Rumänien in die USA emigriert, war 1946 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.
Nur zwei von Leo Sterns Kindern, Erna und Walter, überlebten die Eltern. Der jüngste Sohn Paul war bereits am 24.12.1934 in Hamburg verstorben und auf dem Jüdischen Friedhof in Ohlsdorf beigesetzt worden.

Leo Sterns Bruder Josef verstarb am 13.7.1934 im Alter von 83 Jahren in Köln. Dessen Witwe Ella, geb. Gidion, die einer Köln-Siegburger Kaufmannsfamilie entstammte, verließ Deutschland Ende 1939, um in die Vereinigten Staaten zu ihrem Sohn Richard auszuwandern. Am 23.2.1940 erreichte sie auf der SS Statendam von Rotterdam New York, wo sie am 12.8.1943 starb.

Stand: August 2020
© Eva Pietsch

Quellen: Adressbücher der Stadt Hamburg; Ekkehard Nümann (Hg.), Die Begründer der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung, Hamburg 2017 (3. Aufl. 2019), S. 79, 103f.; Kultussteuerkartei der jüdischen Gemeinde Hamburg, Sta HH Bestand 522-1;Wilhelm Levison, Die Siegburger Familie Levison und verwandte Familien, Bonn 1952, S. 134-137; Eva Pietsch, "Alles wie geschmiert…"? Die Geschäfte mit "weissem Öl" zwischen internationalen Markt- und deutschen Kriegsinteressen 1880-1933 (aus Sicht des Gründerunternehmers Leo Stern), in: Yaman Kouli u.a. (Hg.), Regionale Ressourcen und Europa. Dimensionen kritischer Industrie- und Unternehmensgeschichtsschreibung (FS für Rudolf Boch), Berlin 2018, S. 53-74; Jürgen Runzheimer, Abgemeldet zur Auswanderung, Marburg 1992, Bd. 1, S. 67, 130; Namentliches Verzeichnis sämtlicher Gewerbesteuerpflichtigen, Gemeinde Breidenbach, Steuerbezirk Battenberg, in: Gemeindearchiv IX, Blätter No. 238, 248 u. 259, StA Marburg; Mitteilungen aus Geschichte und Heimatkunde des Kreises Biedenkopf, 7. Jg Nr. 7 und 8, vom 7.8.1913, S. 133, in: Gemeindearchiv Breidenbach, X, Nr. 273; http://www.bildarchivhamburg.de/hamburg/winterhude/leinpfad/index.htm. Für Nachweise zu Leos und Bellas Ausreise in die USA 1941 sei David Gordon gedankt.

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