Namen, Orte und Biografien suchen


Bereits verlegte Stolpersteine



Walter Rudolphi, 1930er Jahre
© Privatbesitz

Dr. Walter Rudolphi * 1880

Pfingstberg 6 (Bergedorf, Bergedorf)

1942 Theresienstadt
1944 Auschwitz

Dr. Walter Rudolphi, geb. 27.5.1880 in Hamburg, deportiert am 15.7.1942 nach Theresienstadt, weiterdeportiert am 23.10.1944 nach Auschwitz, dort am 30.10.1944 ermordet

Pfingstberg 6 (Hochallee 6)

Walter Julius Aloys Rudolphi wurde 1880 am Schweinemarkt 47 b, der in der Hamburger Altstadt östlich parallel zur Straße Langen Mühren verlief, geboren. Nach 1887 musste die Familie von dort fortziehen, da die Wohnhäuser für den Bau des neuen Naturhistorischen Museums abgerissen wurden. Im Jahr 2010 befindet sich an dieser Stelle ein Elektrokaufhaus. Walter Rudolphi wurde in eine jüdische Familie hineingeboren, in der Bildung einen hohen Stellenwert genoss. Der Vater Moritz Rudolphi (geb. 1835 in Schwerin, gestorben 1906) hatte 1860 das Hamburger Bürgerrecht erworben und unterhielt seit spätestens 1870 an der Adolphsbrücke 1 in der Hamburger Altstadt eine Buchhandlung mit Antiquariat und Leihbibliothek. Bereits vor 1896 zog er sich aus dem Geschäft zurück, das von einem neuen Inhaber noch bis 1899 als "Rudolphi’sche Buchhandlung" weitergeführt wurde. Die Mutter Fanny, geb. Meisel (1852–1904), stammte aus Stettin. Die Familie wohnte von 1890 bis 1906 in der Heimhuderstraße 3 im Stadtteil Rotherbaum, wo nach der Erschließung in den 1880er Jahren bürgerliche Stadthäuser entstanden waren.

Die nötigen finanziellen Mittel waren vorhanden, um Walter Rudolphi von 1887 bis 1890 auf die private Vorschule von Adolph Thomsen in der Großen Drehbahn 44 (Neustadt) zu schicken und ihm anschließend den Besuch des renommierten Wilhelm-Gymnasiums in Hamburg-Rotherbaum zu ermöglichen. Im März 1899 schloss Walter Rudolphi die Schule mit dem Abitur ab. Noch im selben Jahr begann er ein Jurastudium, das er an den Universitäten in Heidelberg, München, Berlin und Kiel absolvierte. Neben juristischen Vorlesungen erwarb er sich auch fachübergreifende Kenntnisse in Volkswirtschaftslehre, Psychologie, Philosophie und deutscher Literatur. Auch zu speziellen Rechtsgebieten wie Wechselrecht, Konkursrecht, Schifffahrtsrecht, Verwaltungsrecht, Kirchenrecht und Völkerrecht besuchte er Vorlesungen. In München studierte er zusammen mit Leo Lippmann (1881–1943), Abiturient des Johanneums und später Hamburger Staatsrat, sowie den gleichaltrigen Schülern des Wilhelm-Gymnasiums Franz Goldmann, der später Richter und Senatspräsident wurde und den späteren Anwälten Max (?) Hoeck und James Kauffmann (1880–1967). 1902 promovierte Walter Rudolphi über das Thema "Das Differenzgeschäft" mit der Benotung "cum laude" zum Doktor juris an der Universität Rostock. Zum Militärdienst wurde er wegen eines Asthmaleidens nicht eingezogen; bereits während der Schulzeit war er deswegen vom Sportunterricht befreit.

Um das angestrebte Richteramt in seiner Heimatstadt Hamburg ausüben zu können, musste er einige Stationen und Beförderungen in der Hamburger Justizverwaltung durchlaufen: 1902 Referendar, 1907 Assessor, 1910 Amtsrichter im Bereich Zivilgerichtsbarkeit und Grund­buch­amt in Hamburg.
1906, nach dem Tod seines Vaters, hatte sich Walter Rudolphi entschieden, nicht zuletzt wegen seiner asthmatischen Erkrankung, seinen Wohnsitz von Hamburg-Rotherbaum in die damals noch eigenständige, südöstlich von Hamburg gelegene Stadt Bergedorf zu verlegen.

Die Eisenbahnverbindung nach Hamburg machte Bergedorf in zunehmendem Maße auch als Wohnort für Hamburger interessant. Walter Rudolphi zog in die Lamprechtstraße 5 und ließ sich dorthin einen Fernsprechanschluss legen. 1910 zog er innerhalb Bergedorfs in die Blücherstraße 10 (heute Von-Anckeln-Straße) um, wo er allerdings nur ein Jahr blieb, um dann in der Hochallee 6 (heute Pfingstberg 6) sein endgültiges Domizil zu finden. Seit 1907 unterhielt der Jurist James Kauffmann in Bergedorf eine gemeinsame Kanzlei mit dem Notar Wilhelm Grethe in der Ernst-Mantius-Straße 1 und später in der Vierlandenstraße 6; ersteren kannte Walter Rudolphi aus der Gymnasialzeit und vom Jura-Studium, gemeinsam mit letzterem erwarb er später eine Immobilie.

Bedingt durch seinen Wohnortwechsel bemühte sich Walter Rudolphi um eine Stelle in Bergedorf und war dort von 1917 bis 1925 als Richter am Amtsgericht tätig. Im August 1916 war er militärärztlich untersucht worden. Das vorhersehbare Ergebnis "dauernd kriegsunbrauchbar, jedoch als arbeitsverwendungsfähig im Beruf befunden" ließ in Kriegszeiten zwei Möglichkeiten zu: entweder als Arbeitssoldat im unausgebildeten Landsturm I zu dienen oder seinem juristischen Beruf weiter nachzugehen. Für die zweite Verwendungsmöglichkeit musste der Arbeitgeber allerdings beantragen, dass Rudolphi "unabkömmlich" sei. Die Justizverwaltung bemühte sich, Walter Rudolphi im Justizdienst zu halten, zumal die Amtsrichter des Amtsgerichts Bergedorf, Seebohm und Mantius, bereits zum Heeresdienst eingezogen worden waren und daher Personalknappheit herrschte. Im Oktober 1917 wurde Walter Rudolphi durch Beschluss des Bergedorfer Magistrats auch zum "ersten Vertreter des Vorsitzenden der Mieteschlichtungskommission" in Bergedorf gewählt. Wie alle Richter des Kaiserreichs wurde auch Rudolphi von der Justiz der Weimarer Republik in seinem Amt bestätigt.

Die Periode 1918/19 brachte für die Gesellschaft und Justiz große Umwälzungen mit sich: militärische Niederlage, Demobilisierung, ungünstige Friedensbedingungen, politische Polarisierung und Arbeitslosigkeit schufen eine Atmosphäre von Unsicherheit und gesellschaftlicher Krise. Ungeachtet dessen machte Walter Rudolphi Karriere: 1925 erfolgte seine Beförderung zum Oberamtsrichter in Bergedorf. Ein Jahr später war er bereits Oberlandesgerichtsrat beim Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts, zu dessen Aufgaben auch Fälle von Landes- und Hochverrat gehörten. Daneben war er seit 1923 Mitglied im Schlichtungsausschuss der Arbeitsbehörde Hamburg. 1927 war er zudem stellvertretender Vorsitzender des Landesarbeitsgerichts und zusätzlich Leiter der Mieteschlichtungsstelle und des Pachteinigungsamts für die Stadt Bergedorf.

Drei Tage vor Heiligabend 1912 hatte der 32-jährige Amtsrichter Walter Rudolphi die aus Bayern stammende Katholikin Erna Cramer geheiratet. Seit 1913 war eine Mitgliedschaft von Walter Rudolphi in der Hamburger Deutsch-Israelitischen Gemeinde dokumentiert. Das einzige Kind, die Tochter Felicitas, kam am 12. März 1918 in Bergedorf zur Welt. Wie ihre Mutter wurde sie römisch-katholisch getauft. Sie besuchte von Ostern 1928 bis zur Obersekunda Ostern 1935 die Luisenschule in Bergedorf, eine wissenschaftliche Oberschule für Mädchen, dann die Reinhardswald-Schule in Kassel-Land und ab Ostern 1936 die Staatliche Schule für Frauenberufe in Hamburg. Erna Rudolphi war im Mai 1930 überraschend im Alter von 45 Jahren gestorben. Sie wurde auf dem Bergedorfer Friedhof begraben.

Die juristische Karriere des 52-jährigen Walter Rudolphi endete durch die "Machtergreifung" der Nationalsozialisten abrupt. Durch das "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 wurden Beamtenrecht und richterliche Unabhängigkeit aufgehoben. "Nichtarische" Beamte wurden entlassen. Am 5. August 1933 wurde Walter Rudolphi vom NSDAP-Justizsenator Rothenberger hiervon in Kenntnis gesetzt – das Schrei­ben enthielt weder Anrede noch Grußformel. Walter Rudolphi, der seinen Erholungsurlaub im August 1933 in Marienbad (Tschechoslowakei) verbrachte, bat bis zu seiner Zwangspensionierung am 1. Dezember 1933 um Urlaub, der ihm gewährt wurde. Mit ihm wurden die Richter Otto Arndt (Senatspräsident des Hanseatischen Oberlandesgerichts), Hans Beit, Franz Daus (Landgericht), Arthur Goldschmidt (Oberlandesgerichtsrat), Richard May (Oberlandesgerichtsrat) und Dr. Leopold Schönfeld (Landgerichtsdirektor), wegen ihrer jüdischen Abstammung in den Ruhestand versetzt. Eine Betätigung im Staatsdienst, egal in welchem Bereich, war den Entlassenen durch die NS-Gesetze untersagt.

Im Januar 1937 zog Walter Rudolphi von Bergedorf (Hochallee 6) nach Hamburg in die Oderfelderstraße 21. Im zweiten Stock des Hauses wohnte der ehemalige Stockfabrikant Robert Hirsch (1863–1942) mit seiner Ehefrau Baszion Hirsch, geb. Fliess (1875–1942), beide zo­gen im Juni 1942 in die Agathenstraße 3, wo sie am 14. Juli 1942 gemeinsam Selbstmord begingen. Aus dem ersten Stock des Hauses Oderfelder Straße 21 wurde Mary Fraenkel, geb. Rendsburg (1873–1944), am 29. Oktober 1941 in die Hartungstraße 8 II. Stock umquartiert und von dort am 19. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. Ebenfalls im ersten Stock wohnte die langjährige Mieterin und Zimmervermieterin Sophie Schwarz, geb. Verschleisser (1877–1944), die am 30. November 1941 ausquartiert und am 19. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde.

Bis zu seiner Deportation bewohnte Walter Rudolphi mit seiner Tochter und einer Haushälterin eine geräumige Wohnung im Hochparterre des Hauses Oderfelderstraße 21. Die Wohnung hatte einen ovalen Musikraum mit zwei Flügeln, an denen Rudolphi und seine Tochter spielten. Nach dem staatlich organisierten Pogrom vom November 1938 war das öffentliche Leben der Juden völlig zum Erliegen gekommen. Die meisten Organisationen und Zeitungen wurden verboten. Kulturelle Darbietungen konnten nur noch in Privathäusern stattfinden. So lud Walter Rudolphi verschiedentlich Pianisten ein, die vor Freunden des Hauses spielten. Nach Aussagen von Gästen soll er selbst äußerst musikalisch und ein ausgezeichneter Klavierspieler gewesen sein. Beim Musizieren lernte er, jetzt verwitwet, seine spätere zweite Ehefrau Gerda Adler kennen. Auf der Straße pflegte Walter Rudolphi seine Tochter mit Handkuss zu begrüßen, ein Zeichen inniger Verbundenheit und einer Erziehung "alter Schule" gleichermaßen.

In Harvestehude fand die hübsche Felicitas Rudolphi, genannt "Fetas", Anschluss an dort wohnende Söhne und Töchter wohlhabender Kaufleute, Bankiers und Juristen "arischer Herkunft". Um Tennis-, Hockey- und Segelvereine herum hatte sich eine lockere Clique gebildet, deren Mitglieder ihren Lebensstil an England orientierten, Swing-Musik vom Grammophon hörten (was einige von ihnen in Haft brachte) und nicht der staatlich verordneten Norm entsprachen. Sie stießen sich auch nicht an Felicitas Rudolphis "halbjüdischer" Herkunft.

Zur Zeit der reichsweiten Pogrome am 9./10. November 1938 hielt sich Walter Rudolphi mit seiner Freundin Gerda Adler in Baden-Baden auf. Wahrscheinlich wohnten sie dort bei Freunden oder Bekannten, denn Jüdinnen und Juden war zu dieser Zeit bereits der öffentliche Besuch von See- und Kurbädern untersagt. Walter Rudolphi gehörte zu den rund 70 Personen, die von SS und Polizei in Baden-Baden verhaftet und anschließend in einem demütigenden Marsch zur Synagoge eskortiert wurden, wo bereits die SS wütete. Nachdem die kranken und über 60-jährigen Juden nach Hause entlassen wurden, blieben noch rund 50 Männer, die in ein Konzentrationslager verschleppt werden sollten. Gerda Adler gelang es, ihren Gefährten mit Hilfe der Katholischen Kirche, der ja seine Tochter wie auch seine verstorbene Ehefrau angehörten, freizubekommen. Über diese ersten Hafterfahrungen schwieg Walter Rudolphi später. Nach außen war ihm wenig anzumerken, deutliche Spuren von Misshandlungen fehlten, lediglich an seinem Mantel fehlte ein Knopf. Für seine psychischen Verstörungen fand der 58-Jährige nur drei Worte: "Es war entsetzlich."

Dennoch war er bereit, in Hamburg Ämter zu übernehmen, die ihn zwangsläufig in Kontakt mit den NS-Organisationen brachten. Nach der vom NS-Staat geforderten Neubildung im Jahre 1939 amtierte Walter Rudolphi zusammen mit Max Plaut (1901–1974) und Leo Lippmann (1881–1943) sowie John Hausmann (1941 emigriert) und Arthur Spier (1926–1940), dem Direktor der Talmud Tora Schule, als Vorstandsmitglied des Jüdischen Religionsverbandes, wie sich die Jüdische Gemeinde nun nennen musste. Eigenständig war sie auch nicht mehr, sondern ab Juli 1939 Zweigstelle der "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland". Walter Rudolphi war Hauptverantwortlicher für die Bereiche Fürsorge und Gesundheitswesen, wozu die offene Fürsorge (Leiterin Martha Samson), Kleiderkammer (ehrenamtlicher Leiter Benno Hirschfeld), Werkstätten, Jugendfürsorge (Leiterin Fanny David), Volksküche (Leiterin Lotte Gurwitsch) und geschlossene Anstalten (Leiter/in Massé) gehörten.

Hierbei war er auf ehrenamtliche Helfer/innen für einzelne Teilbereiche und Einrichtungen angewiesen. So gelang es ihm u. a., Franz Rappolt (1870–1943), den ehemaligen Mitinhaber der renommierten Textilfirma Rappolt & Söhne, als Zuständigen für das ehemalige Israelitische Mädchen-Waisenhaus Paulinenstift (Laufgraben 37) zu gewinnen, der auch für die notwendigen, aber unpopulären Einsparungen bei den Altersheimen sorgen musste. Benno Hirschfeld (1879–1945), dessen bekanntes Bekleidungshaus Gebrüder Hirschfeld am Neuen Wall 1938/39 "arisiert" worden war, richtete die Kleiderkammer für Bedürftige ein. Rappolt und Hirschfeld kannten sich noch aus ihrer Zeit als Inhaber bekannter Hamburger Firmen der Bekleidungsbranche. Auch Iwan van der Walde, bis zur "Arisierung" Mitinhaber eines Familienunternehmens, soll in der Leitung des jüdischen Waisenhauses engagiert gewesen sein.

Zur Erledigung seiner Aufgaben durfte Walter Rudolphi weiterhin einen kleinen Personenwagen nutzen. Mit diesem brachten er und Gerda Adler fast jede Nacht Augentropfen und Essen in das Gefängnis "Hütten" zu Felix Schönfeld (1869–1942), dem Vater von Gerda Adler. Erst nach der "Arisierung" der Firma Benedict Schönfeld, die mexikanische, südamerikanische und ostasiatische Landesprodukte importierte und Waren aller Art in diese Regionen exportierte, wurde der ehemalige Firmeninhaber aus dem Gefängnis entlassen.

Die schwierige Stellung der jüdischen Verantwortlichen gegenüber dem NS-Staat verdeutlichte eine Notiz der Devisenstelle vom 22. Dezember 1939: "Der Jüdische Religionsverband und seine Einrichtungen werden von der Gestapo überwacht und sind dieser verantwortlich. Zu Leitern können nur solche Personen bestellt werden, die bei der Gestapo als vertrauenswürdig gelten." Pflichtbewusst versah Walter Rudolphi die ihm übertragenen Aufgaben: "Ich beabsichtige nicht auszuwandern, sondern die Aufgaben zu erfüllen, die mir zugewiesen sind." Insbesondere in der Zeit zwischen dem Novemberpogrom 1938 und dem Beginn der Deportationen im Oktober 1941 wurde er als Leitungspersönlichkeit von den Gemeinde­mit­gliedern und dem NS-Staat gebraucht.

Er übernahm Vorstandsposten in vier jüdischen Wohnstiftungen sowie im Israelitischen Krankenhaus, vom Amtsgericht Hamburg im Juli 1940 die Mitvormundschaft in Vermögensfragen für Lotte Haas, 1941 sollte er auf Wunsch von Franz Rappolt die Vormundschaft für dessen entmündigten Sohn Fritz übernehmen, falls dem Vater die Auswanderung gelänge, und im September 1941 wurde er zusammen mit Rudolf Herms, dem ehemaligen Inhaber des Bankhauses Jonas & Söhne (Neuer Wall 26/28), als Testamentsvollstrecker für Paul Salomon und Lucie Salomon, geb. Königswerther, eingesetzt, die gemeinsam Selbstmord begangen hatten (Biographie unter www.stolpersteine-hamburg.de).

Ende April 1939 musste Walter Rudolphi einer "Vorladung" der Devisenstelle Folge leisten und Steuerinspektor Willers dezidiert Auskunft über seine Vermögensverhältnisse geben. Noch im Dezember 1939 wurde trotz umfangreicher Vermögenswerte auf den Erlass einer "Sicherungsanordnung" verzichtet. Um sein Vermögen zumindest teilweise vor dem Zugriff der Nationalsozialisten zu retten, überschrieb er am 2. Januar 1940 notariell seinen fünfzigprozentigen Anteil an einem Barmbeker Mietshaus (Stuvkamp 14) an seine Tochter Felicitas – das Haus wurde 1943 von Bomben zerstört. Die übrigen 50 Prozent gehörten dem Notar Wilhelm Grethe, der zusammen mit James Kauffmann (ehemals Cohn) eine Rechtsanwaltskanzlei in der Vierlandenstraße 6 (Bergedorf) unterhielt.

Felicitas Rudolphi musste dreimal zu Vernehmungen bei der Gestapo erscheinen; seit 1939 war sie als Fahrerin im Katastrophen- und Evakuierungseinsatz für Juden verpflichtet. Sie musste Kranke und Suizidopfer ins Israelitische Krankenhaus in der Johnsallee transportieren und ab 1941 auch "Ausrüstungsgegenstände" zu den Deportationszügen fahren. Hierbei zog sie sich nach ärztlichem Gutachten einen Herzmuskelschaden zu.

Am 2. Juli 1942 wurde Walter Rudolphi verhaftet und ins Polizeigefängnis Fuhlsbüttel gebracht. Max Plaut erinnerte sich 11 Jahre später an den konstruierten Vorwand der Verhaftung: Als Vorsitzender der Krankenhausverwaltung wurde Rudolphi Sabotage vorgeworfen, da das Israelitische Krankenhaus von einem Gemüsehändler eine Kiste Blumenkohl gekauft hatte.

Die Aufgabe des Jüdischen Religionsverbandes, der 1942 in die Reichsvereinigung eingegliedert wurde, war aus Sicht der NS-Machthaber nun weitgehend erledigt. Der Ablauf der Deportationen nach Osteuropa funktionierte reibungslos. In dieser Situation waren auch Repräsentanten der Gemeinde von Deportationen bedroht. "Judenreferent" Claus Göttsche von der Gestapo Hamburg entschied über ihr weiteres Schicksal. Am 10. Juli 1942 wurde Walter Rudolphi vorübergehend aus der Haft entlassen. Noch am 14. Juli 1942, einen Tag vor der angeordneten Deportation, heiratete der 62-jährige Walter Rudolphi die 23 Jahre jüngere Gerda Adler, geb. Schönfeld (geb. 1903), standesamtlich. Ein höherer Gestapo-Mann hatte die langjährige Klavierpartnerin von Walter Rudolphi mit der Aussage zur Eheschließung genötigt, dass nur bei einer Heirat die Deportation von Walter Rudolphi nach Auschwitz verhindert werden könne.

Gerda Adler stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie. Ihr Vater, Felix M. Schönfeld (Im- u. Exportfirma Benedict Schönfeld & Co. GmbH, 1872 gegründet), besaß die finanziellen Mittel, sie bei Ilse Fromm-Michels in Hamburg und Ursula Huber in Oker/Harz zur Pia­nistin ausbilden zu lassen. Nach dem Tod ihres Mannes Max Adler (1884–1929) lebte sie mit ihrer Tochter Renate (geb. 1925) in einer großen Wohnung am Loehrsweg 1 (Eppendorf). Die Wohnung musste sie Ende März 1942 gezwungenermaßen für einen SS-Mann räumen. In der Heimhuderstraße 70 (Rotherbaum) wurde ihr gemeinsam mit ihrer Tochter ein Zimmer im Jüdischen Gemeindehaus zugeteilt. Die Küche teilten sie sich mit einer anderen jüdischen Familie. Besuche von nichtjüdischen Personen in diesem Haus waren verboten, da es sich um ein Haus im Besitz der Jüdischen Gemeinde handelte, das nun als "Judenhaus" in die Deportationsplanungen einbezogen wurde. Die Versteigerung ihrer Möbel und wertvollen Haushaltsgegenstände (u. a. ein Bechstein Konzertflügel) aus der Wohnung Loehrsweg wurde staatlicherseits über das Auktionshaus Adolph L. Elsas abgewickelt und erbrachte 3500 RM.

Am 15. Juli 1942 wurde das frisch vermählte Ehepaar Rudolphi ins Getto Theresienstadt deportiert. Auch die Schwiegereltern Felix Schönfeld (1869–1942) und Anni Schönfeld, geb. Falk (1875–1943), sowie Felix’ Schwester Franziska Corten, geb. Schönfeld (1864–1943), und ihre Tochter Rosa Corten (1886–1943) standen auf dieser Deportationsliste. Der für die Deportation eingesetzte Personenzug fuhr ohne Zwischenhalt. Im Getto Theresienstadt erhielt das Ehepaar Rudolphi eine Schlafstelle in einem kleinen Vorraum. Alle Zimmer waren heillos überbelegt. Beiden wurde Arbeit in der Magdeburger Kaserne zugeteilt.

Die Hamburger Wohnung und das Zimmer der Eheleute Rudolphi wurden versiegelt und der noch vorhandene Hausrat versteigert. Das Hanseatische Oberlandesgericht erkundigte sich zweieinhalb Monate nach der Deportation bei der Geheimen Staatspolizei Hamburg "ob und wann der Oberlandesgerichtsrat a. D. Walter Israel Rudolphi (…) evakuiert worden ist". Nachdem die Gestapo den Deportationstermin mitgeteilt hatte, stoppte die Oberjustizkasse die Rentenzahlungen und notierte: "Sein Vermögen ist zu Gunsten des Deutschen Reiches eingezogen worden." Felicitas Rudolphi musste die Wohnung verlassen und heiratete am 13. August 1942 den Techniker Hasso Ettler, den sie von den Segeltörns der Harvestehuder Clique her kannte. Auch er stammte aus einer "privilegierten Mischehe". Dreizehn Monate später wurde die von einer Verwandten später so bezeichnete "Freundschafts-Ehe" wieder geschieden. Felicitas Rudolphi zog in die Colonnaden 5, zum Vetter ihrer Stiefmutter, Martin Hein­rich Corten, dem Leiter des Israelitischen Krankenhauses und ab 1943 "Vertrauensmann" der Rest-Reichsvereinigung der Juden in Deutschland.

Bis zu ihrer Befreiung verbrachte Gerda Rudolphi fast drei Jahre im Getto Theresienstadt, den Konzentrationslagern Auschwitz und Bergen-Belsen sowie in einer Munitionsfabrik in Salzwedel, einem Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme. Walter Rudolphi war am 23. Oktober 1944 zusammen mit seiner Ehefrau ins Vernichtungslager Auschwitz II deportiert worden. Für den Transport wurden Viehwaggons eingesetzt. Zu Essen gab es während der langen Fahrt nichts. In Auschwitz-Birkenau verliefen die Gleise durch das Torhaus und zwischen den Baracken hindurch bis zu den Gaskammern und Krematoriumsöfen. Die Türen der Viehwagen wurden aufgerissen und die Häftlinge in Eile zur "Selektion" herausgetrieben. Der Lagerarzt und SS-Hauptsturmführer Josef Mengele nahm als einer von zwei Ärzten die Einteilung in arbeitsfähige Häftlinge und in sofort zu Tötende vor.

Gerda Rudolphi kam in die Gruppe der jüngeren, arbeitsfähigen Gefangenen. Walter Rudolphi wurde bei dieser oder einer weiteren, kurz darauf stattfindenden "Selektion" der Gruppe der Todeskandidaten zugeteilt. Am 30. Oktober 1944 wurde er mit Gas ermordet. Die Ehefrau sah von Weitem, wie Walter Rudolphi, schwach und benommen, von Ernst Haas (vermutlich der Hamburger Ex- und Importkaufmann Ernst Haas, geb. 8.6.1883 in Hamburg, deportiert am 19.7.1942 nach Theresienstadt, weiterdeportiert im Oktober 1944 nach Auschwitz) und Herbert Kauffmann untergehakt wurde. Gemeinsam gingen die drei in die Umkleidekabinen und die als Duschraum getarnte Gaskammer.

Gerda Rudolphi kehrte am 13. Juni 1945 gesundheitlich schwer gezeichnet nach Hamburg zurück. Bei der Befreiung wog sie nur noch 40 kg. Dem Amt für Wiedergutmachung entgegnete ihr späterer Ehemann Heinz Rodewaldt in einem Brief auf dessen ständige Anzweiflungen und Relativierungen: "Was wissen Sie von den Nächten der jagenden Angst, wenn meine Frau aufschreit und glaubt von Gestapo und SS verfolgt und wieder vergewaltigt zu werden! – Was wissen Sie, welche Energien Sie täglich und immer wieder braucht, um der Umwelt so zu erscheinen wie sie es tut!"

Durch Misshandlungen waren ihr Verletzungen an Kopf und Kiefer zugefügt worden, ein Backenzahn wurde ausgeschlagen, es gab Verletzungen in der Nierengegend und einen Muskelriss am Gesäß. Auch wurden Versuche mit Blendungen der Augen vorgenommen. Im Winter 1944/45 hatte sie beim Apell nur leicht bekleidet in eisiger Kälte im Freien stehen müssen, dabei zog sie sich Erfrierungen an der linken Hand zu. Sie wurde vergewaltigt und Opfer von Versuchen, bei denen ihr der Darm mit heißem Wasser vollgepumpt wurde. "Mehrere Leidensgefährtinnen sind unter fürchterlichen Qualen hierbei zugrunde gegangen", schrieb der Ehemann.

Ein ärztliches Gutachten des Allgemeinen Krankenhauses Langenhorn aus dem Jahre 1951 versuchte die psychischen Auswirkungen aufzuzeigen: "Es ist wohl rückblickend dem starken Lebenswillen, unterstützt von starker persönlicher Diszipliniertheit, zuzuschreiben, dass sie nicht nur diese Zeit überstanden hat, sondern heute wieder körperlich und als Mensch ein sozial gut geordnetes Leben führt. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass nicht nur die zahlreich festgestellten Rest­zustände (s. Befundschilderung) in ihrer Summe eine körperliche Behinderung darstellen, sondern dass diese 3 Jahre mit ihrer nervlich/seelischen Belastung (ständige Angst vor körperlicher Züchtigung, Hunger, Vergasung des Ehemannes vor ihren Augen, Vergewaltigung) zu einer Veränderung der Gesamtpersönlichkeit geführt haben, die irreversibel ist und sich unter unsere üblichen klinisch/diagnostischen Begriffe nicht kategorisieren lässt."

Walter Rudolphis Tochter Felicitas lebte noch bis 1956 in Hamburg, zeitweilig war sie auf Unterstützung angewiesen, ab 1948 arbeitete sie als Sprechstundenhilfe bei dem Arzt Martin Heinrich Corten. Sie verstarb 1962 in München im Alter von 43 Jahren.

An Felix M. Schönfeld und Anni Schönfeld, geb. Falk, (Eltern von Gerda) erinnern in der Gustav-Leo-Straße 4 (Eppendorf) Stolpersteine.

Seit 1995 erinnert in Allermöhe/Billwerder der Walter-Rudolphi-Weg an den Richter und Re­präsentanten der Jüdischen Gemeinde.

© Björn Eggert

Quellen: 1; 4; 5; StaH, 241-1 I (Justizverw. I), 1645 (1933); StaH 241-2 (Justizverw., Personalakten), A 1188 (1902–1969); StaH 314-15 (OFP), R 1939/2530; StaH 331-1 II (Polizeibehörde II), Abl. 15 v. 18.9.1984, Band 2 ("Schutzhaft"); StaH, 332-5 (Standesämter), 1967 u. 1/2359 (Geburt Rudolphi, 1880); StaH 332-8 (Alte Einwohnermeldekartei 1892–1925); StaH 351-11 (AfW), 4681 (Walter Rudolphi); StaH 351-11 (AfW), 120318 (Felicitas Rudolphi); StaH 351-11 (AfW), 141203 (Gerda Rodewaldt verw. Rudolphi); StaH, 356-1 (Demobilmachungskommissar, 1923), Signatur 19, Band 30 (Rudolphi); StaH (Lesesaal), Bürger-Register 1845–1875, L-R (Moritz Israel Rudolphi); FZH/WdE 177; FZH/WdE 190; Stiftung Warburg Archiv (SWA), Akte "Warburg Sekretariat Hamburg, 1941" (Robert Solmitz an Fritz Warburg, 16.4.1941); Universitätsarchiv Rostock, handgeschriebener Lebenslauf von 1901; Erzbistum Hamburg, Diözesanarchiv, E-Mail vom 26.6.2009 (Erna Rudolphi, geb. Cramer); Kultur- & Geschichtskontor der Initiative zur Erhaltung historischer Bauten e.V./Bergedorf, 2010 (Straßenumbenennungen); Briefe von Franz Rappolt an seinen Sohn Ernst Rappolt in den USA, 1940–1941, Privatbesitz; AB 1870, 1882, 1885, 1887, 1890, 1896 (Moritz Rudolphi); TB 1906, 1907, 1910–1912, 1914, 1920, 1930, 1933–1941; Hamburgisches Staatshandbuch 1903, 1905, 1910, 1914, 1921, 1925; Gräberkartei Jüdischer Friedhof Ohlsdorf; Leo Lippmann, Mein Leben und meine amtliche Tätigkeit (hrsg. von Werner Jochmann), Hamburg 1964, S. 55 (Studium Uni München); Heiko Morisse, Jüdische Rechtsanwälte in Hamburg. Ausgrenzung und Verfolgung im NS-Staat, Hamburg 2003, S. 139 (Kauffmann); Curt Rothenberger (NS-Justizsenator), Das Hanseatische Oberlandesgericht, Hamburg 1939, S. 318; Ursel Hochmuth/Gertrud Meyer, Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand 1933–1945, Frankfurt/Main 1969, S. 205, 230; Wilhelm Mosel, Wegweiser zu ehemaligen jüdischen Staetten in Hamburg, Heft 1, Hamburg 1983, S. 74/75 (m. Abb.), Heft 2, Hamburg 1985, S. 15, 53, Heft 3, Hamburg 1989, S. 42, 126; E. G. Löwenthal, Bewährung im Untergang – Ein Gedenkbuch, Stuttgart 1965, S. 191; Horst Göppinger, Juristen jüdischer Abstammung im ‚Dritten Reich’ – Entrechtung und Verfolgung, München 1990, S. 257; Wilhelm-Gymnasium Hamburg 1881–1956, Hamburg 1956, S. 114; Ina Lorenz (Hrsg.), Zerstörte Geschichte – Vierhundert Jahre jüdisches Leben in Hamburg, Hamburg 2005, S. 199; Angelika Schindler, Der verbrannte Traum. Jüdische Bürger und Gäste in Baden-Baden, Bühl-Moog 1992, S. 130–134 (Novemberpogrom); Hamburgs Handel und Verkehr, Illustriertes Export-Handbuch der Börsenhalle 1912/14, Hamburg, S. 130 (Benedict Schönfeld & Co.); Gespräch mit Herrn K. H. (Hamburg), Juni 2009; Gespräch mit Herrn H. H. (Hamburg) sowie Fotoabzug, Juni 2009.
Zur Nummerierung häufig genutzter Quellen siehe Link "Recherche und Quellen".

druckansicht  / Seitenanfang