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Elisabeth Glüer, Mitte, und ihre Geschwister
Elisabeth Glüer, Mitte, und ihre Geschwister
Fotograf/in: Privatbesitz

Elisabeth Glüer * 1901

Friedenstraße 7 (5-9) (Wandsbek, Eilbek)


ELISABETH GLÜER
JG. 1901
EINGEWIESEN 12.3.1942
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 16.8.1943
HEILANSTALT
AM STEINHOF WIEN
ERMORDET 21.8.1944

Elisabeth Glüer, geb. am 29.10.1901 in Groß-Simnau/Ostpreußen, lebte 1938–1944 in mehreren Heilanstalten, am 16.8.1943 verlegt in die Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien, dort gestorben am 21.8.1944

Friedenstraße 7

Elisabeth Glüer wurde als das jüngste von fünf Kindern des Pfarrers Hermann Archibald Glüer und seiner Ehefrau Elisabeth, geborene Fleischmann, in Groß-Simnau in Ostpreußen ge­boren und verlebte dort ihre frühe Kindheit. Die Eltern zogen 1906 mit ihren Kindern nach Berlin, wo sie bis 1921 im Haus der Berliner Mission in der Georgenkirchstraße 70 lebten. Wegen ihrer schwachen Begabung und Konstitution erhielt Elisabeth Privatunterricht und erreichte bei geringer Schreib- doch eine gute Lesefähigkeit. Anders als die älteren Geschwister erhielt sie keine weitere Ausbildung. Elisabeth blieb stark an ihre Mutter gebunden.

Als die Eltern 1921 nach Sandow in der Mark Brandenburg zogen, hatten die älteren Geschwister das Elternhaus bereits verlassen. Elisabeth blieb als Haustochter bei den Eltern im Pfarrhaushalt, betätigte sich aber auch außerhalb als Helferin im nahen Kinderheim und als "Vorlesetante" für die zahlreichen Nichten und Neffen. Im Jahre 1925 erlitt sie in rascher Folge vier krampfartige epileptische Anfälle, nachdem sie zuvor nur leichte epileptische Schwindelanfälle gekannt hatte. Berliner Ärzte diagnostizierten eine genuine Epilepsie, die mit sparsamen Gaben von Luminal behandelt wurde.

Nach seiner Emeritierung im Jahr 1932 zog der Vater, Hermann Glüer, mit seiner Frau und Elisabeth zurück nach Berlin. Zur Behandlung der Epilepsie verbrachte Elisabeth 1934 mehrere Wochen in den von Bodelschwinghschen-Anstalten in Bethel, was jedoch nicht den gewünschten Erfolg hatte. Sie galt von da an als erwerbsunfähig. Gegen ihren ausgesprochenen Willen wurde sie 1935 mit der Begründung, sie sei erblich belastete Epileptikerin, in Berlin sterilisiert. Gegenüber dem Amtsarzt spottete sie im Gespräch mit ihm über Verhütung erbkranken Nachwuchses, "dann könne man sie ja auch gleich totschlagen". Nach diesem für sie höchst traumatischen Ereignis stellten sich Verfolgungswahn und existentielle Ängste ein, so dass sie fortan als Kranke der Betreuung bedurfte.

1937 starb Elisabeths Mutter. Elisabeths Wunsch, ihrem Vater den Haushalt zu führen, ließ sich aufgrund ihrer Krankheit nicht erfüllen. Der elterliche Haushalt wurde aufgelöst, und der Vater zog nach Ostpreußen. Elisabeth lebte nun einige Monate im großen Haushalt des Pfarrers Gerhard Wilde und seiner Frau Emily, geborene Glüer, ihrer Schwester, in Stolzenhagen bei Stettin. Genährt durch die Tatsache, dass das Pfarrhaus unter ständiger polizeilicher und politischer Beobachtung stand, wuchs ihre Verfolgungsangst. Um sie diesem Druck zu entziehen, wurde sie im Januar 1938 von ihren Verwandten der Obhut der evangelischen Heilanstalt Kükenmühlen bei Stettin anvertraut. Sie fühlte sich in der großen diakonischen Anstalt aber nicht wohl, weil sie glaubte, dort keine wirksame Hilfe zu erfahren, und wünschte die Übersiedlung in die von Diakonissen geführte Einrichtung in Neuendettelsau, wo sie zuvor schon ärztlich behandelt worden war.

Im August 1938 wechselte sie dorthin. Bei aller liebe- und verständnisvollen Betreuung bedeuteten die Trennung von den Angehörigen sowie die Fremdheit der neuen Umgebung für sie zunächst eine Bedrohung. Sie hat das in einem Gedicht, das sie ihrer Schwester, der Hamburger Diakonisse Anni Glüer, bei einem Besuch mitgab, hellsichtig ausgedrückt:
Es ist so ruhig und still um mich her,
Gedanken machen das Herz mir schwer …
Der Abend wird zur Nacht,
und leise die Furcht erwacht.

Von nun an reagierte Elisabeth zeitweilig aggressiv gegen Schwestern oder war apathisch. Die ärztliche Diagnose lautete: "Genuine Epilepsie, Schwachsinn, Schizophrenie". In diese Zeit des Aufenthalts in Neuendettelsau fiel der "Euthanasie"-Erlass der NS-Regierung, von dessen Anwendung in kirchlichen Anstalten die Angehörigen nichts wussten. Sie glaubten die Tochter bzw. Schwester in einer Einrichtung der Diakonie in sicherer Obhut.

Im März 1941 wurden die evangelischen Anstalten Neuendettelsau in ein Wehrmachts-Lazarett umgewandelt. Elisabeth Glüer übersiedelte in die evangelische Heilanstalt Kropp in Holstein und zog damit näher zu ihrer Schwester Anni Glüer, die als Diakonisse des Amalie-Sieveking-Mutterhauses in Hamburg-Volksdorf und seit 1931 in der Stiftung "Gemeindehaus der Friedenskirche" in Hamburg Eilbek tätig war. Diese hatte hier die "Warteschule Eilbeck", den Kindergarten und -hort, nach modernen Grundsätzen neu aufgebaut. Nach 1933 geriet sie in Widerspruch zu den Ansprüchen der neuen Machthaber in der Kindererziehung, konnte sich aber gegen die NSV durchsetzen. Seit der Umsiedlung ihrer kranken Schwester Elisabeth nach Kropp übernahm Anni Glüer statt des Vaters die Verantwortung für alle Fragen von Kost und Logis für die Kranke und besuchte diese regelmäßig. Der Vater kam nur noch einmal von Ostpreußen aus nach Kropp, wurde dort aber zu seinem Kummer von der Tochter heftig abgelehnt. Elisabeth Glüer erlitt während des Aufenthalts in Kropp nur noch einen schweren epileptischen Anfall und galt, als sie im Folgejahr auch diesen Ort verlassen musste, als "mangelhaft orientiert, aber psychisch gebessert".

Weil auch die Anstalt in Kropp in ein Lazarett umgewandelt wurde, holte Anni Glüer die kranke Schwester im März 1942 in ihre nächste Nähe, in die damaligen Alsterdorfer Anstalten. Polizeilich war sie unter der Adresse ihrer Schwester in der Friedenstraße 7 gemeldet, wohnte dort aber nicht. Die Nähe der Schwester Anni tat ihr gut. Dennoch konnte sie auf Grund ihrer Krankheit die sehnlichst gewünschte Reise zum 80. Geburtstag ihres Vaters – zusammen mit der Schwester – nach Ostpreußen im Sommer 1943 nicht antreten. Anni Glüer fuhr allein, die Kranke reagierte verbittert und wurde nun – nach der Krankenakte zu urteilen – dauerhaft unzufrieden und aggressiv. Sie schimpfte viel vor sich hin und versuchte wegzulaufen.

Die Rückkehr der Schwester Anni fiel in die Zeit der großen Luftangriffe Ende Juli/Anfang August auf Hamburg. Bei den ersten Bombentreffern auf das Gemeindehaus gelang es ihr und einer Mitschwester, den Brand zu löschen, doch bei einem späteren Angriff wurde es wie fast der gesamte Stadtteil Eilbek zerstört. Dennoch richtete sie im Keller des Gemeindehauses wieder eine Kinderkrippe sowie eine Hilfsstelle für Ausgebombte ein und leistete, was in ihren Kräften stand. Als sie am 17. August nach Alsterdorf ging, um nach ihrer kranken Schwester zu sehen, erfuhr sie, dass Elisabeth am Tag zuvor in die Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien, eine staatliche Einrichtung, verlegt worden war. Weder sie noch andere Angehörige waren benachrichtigt worden.

Die Hamburger Anstaltsleitung hatte nach der weitgehenden Zerstörung der Stadt die Zustimmung der Hamburger Gesundheitsverwaltung und der T4-Zentrale in Berlin für die Verlegung von mehreren hundert Patienten und Patientinnen in so genannte luftsichere Gebiete erwirkt. Der größte dieser Transporte umfasste 228 Frauen und Mädchen und ging zum früheren "Steinhof" in Wien. Nach ihrer Aufnahme dort hatte Elisabeth Glüer kaum noch Kontakt zu den Angehörigen. Ihre Schwester Anni war in Hamburg kriegsdienstverpflichtet. Die Bitte des Vaters um Genehmigung eines Besuchs in Wien wurde abgelehnt. Laut Patientenakte erlitt Elisabeth hier einen rasanten Verlust an Körpergewicht, offenbar als Folge der Hungerrationen. Sie starb am 21. August 1944 angeblich an Lungentuberkulose und wurde in Wien begraben.

Der Vater reiste zum Begräbnis nach Wien, kam aber zu spät und kehrte nach Gesprächen mit dem Totengräber auf dem Friedhof als gebrochener Mann nach Ostpreußen zurück. Von dort musste er vor dem Einmarsch der Roten Armee im Frühjahr 1945 fliehen. Mitte März erschien er ohne jede Voranmeldung und ohne Gepäck bei seiner Tochter Anni an deren Einsatzort in Hamburg-St.Georg. Nach schwierigen Wochen, in denen ihr Einsatz in der immer noch bombenbedrohten Stadt alle ihre Kräfte erforderte, konnte sie den Vater, der weder mit den Luftschutznotwendigkeiten noch mit den Mangelzuständen der Ernährung der Großstadt vertraut war, im Diakonissen-Mutterhaus in Volksdorf unterbringen. Hier erfuhr er zumindest äußerliche Ruhe und starb am 12. November 1945.

Stand Februar 2014
© Hildegard Thevs mit Richard Wilde

Quellen: Ev. Stiftung Alsterdorf, Archiv, V 345; Mitteilungen Richard Wildes, Mai 2012; Glüer, Anni, Mein Leben, unveröffentlichtes Manuskript, 1986; Severin, Günther, Kurze Beschreibung der Stiftung "Gemeindehaus Eilbek", Privatdruck.

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