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Ingeborg Grammerstorf
Ingeborg Grammerstorf
© Archiv Evangelische Stiftung Alsterdorf

Ingeborg Grammerstorf * 1929

Heußweg 22 (Eimsbüttel, Eimsbüttel)


HIER WOHNTE
INGEBORG
GRAMMERSTORF
JG. 1929
EINGEWIESEN 1939
ALSTERDORFER ANSTALTEN
"VERLEGT" 16.8.1943
AM STEINHOF WIEN
ERMORDET 19.10.1944

Ingeborg Grammerstorf, geb. am 30.7.1929 in Antwerpen, von 26.1.1936 bis 1.6.1938 in den Von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel bei Bielefeld, am 27.8.1939 aufgenommen in den damaligen Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf), am 16.8.1943 abtransportiert nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien", dort gestorben am 19.10.1944

Heußweg 22, Eimsbüttel

Ingeborg Grammerstorf wurde am 30. Juli 1929 in Antwerpen geboren. Ihre Eltern waren der Schiffsmakler Walter Hans Grammerstorf, geboren am 27. Mai 1902 in Belgien, und Hertha, geborene Schmidt, geboren am 31. März 1905 in Hamm (Westfalen). Ingeborg Grammerstorf hatte zwei Geschwister: Ihr Bruder Horst wurde am 5. Juni 1931 geboren, er starb am 19. März 1933. Die Schwester Gudrun kam am 3. August 1934 zur Welt. Ihren weiteren Lebensweg kennen wir nicht. Es ist auch nicht bekannt, wann sich die Familie in Hamburg niederließ.

Ingeborg Grammerstorf war vom 26. Januar 1936 bis 1. Juni 1938 als "Pflegling" in den Von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel bei Bielefeld untergebracht. Leiter der Anstalten war der Kinder- und Jugendpsychiater Werner Villinger, ein Befürworter der nationalsozialistischen Rassenhygiene. Er amtierte auch als Erbgesundheitsrichter und führte Zwangssterilisationen durch.

Villinger fasste Ingeborg Grammerstorfs bisherigen Lebensweg im Juni 1938 wie folgt zusammen: "Inge kam nach zwei Tagen dauernder Geburt (vorzeitiger Blasensprung) durch Zangen-Entbindung zur Welt. Ihr damals auffallend großer Kopf war durch die Zange stark deformiert, das rechte Auge verklebt und blutig. Mit zweieinhalb bis drei Jahren begann das Kind zu laufen und zu sprechen. Eine im Jahre 1932 […] ausgeführte Encephalographie zeigt einen inneren Wasserkopf. Inge litt oft an Bronchitis und Anfällen von Asthma. In ihrer geistigen Entwicklung blieb sie sehr stark zurück. Es besteht Schwachsinn hohen Grades. […] Die Kranke war bisher nicht schulbildungsfähig. Im Übrigen handelt es sich um ein stilles, harmloses, etwas ängstliches Kind. Wir beobachteten wiederholt Asthmaanfälle mit bronchitischen Erscheinungen. Dabei einige Tage anhaltendes Fieber. Im Oktober und November 38 traten mehrere epilepsieforme Anfälle auf, darunter eine Gruppe von acht Anfällen mit lang anhaltenden Zuckungen der linken Gliedmaßen. Seither blieb die Kranke anfallsfrei."

Villinger führte Ingeborg Grammerstorfs Leiden auf die Geburtsverletzungen zurück.

Ingeborg Grammerstorf wohnte mit ihren Eltern im Heußweg 22 in Hamburg-Eimsbüttel, als sie am 17. August 1939 unmittelbar nach einer Reise aus Antwerpen kommend auf Veranlassung der Sozialverwaltung in den damaligen Alsterdorfer Anstalten aufgenommen wurde. Die Begründung lautete: "Die Aufnahme der Patientin in die Alsterdorfer Anstalten ist wegen Idiotie erforderlich. Nähere Angaben: muß gefüttert werden, unordentlich."
("Idiotie" ist ein veralteter Begriff für eine schwere Form der Intelligenzminderung.)

Die Verständigung mit dem zehnjährigen Mädchen gestaltete sich schwierig, weil es meist flämisch sprach. Im Februar 1941 wurde bei Ingeborg Grammerstorf "Ikterus catarrhalis" [vereinfacht: Gelbsucht] diagnostiziert, die das ganze Jahr hindurch anhielt und erst Anfang 1942 nachließ. Sie wurde weiter als ein im Wesen ruhiges Mädchen beschrieben, das sich nur mit Spielsachen beschäftigte, zwar allein essen konnte, dem aber in der Körperpflege weitgehend geholfen werden musste.

Anfang 1943 lag Ingeborg Grammerstorf mehrere Wochen auf der Krankenstation mit Lungenentzündung und Asthma.

Erst unter dem 16. August 1943 findet sich wieder ein Eintrag in der Krankenakte: "Wegen schwerer Beschädigung der Anstalten durch Fliegerangriff verlegt nach Wien. Gez. Dr. Kreyenberg"

Während der schweren Luftangriffe auf Hamburg Ende Juli/Anfang August 1943 ("Operation Gomorrha") erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden. Der Anstaltsleiter, SA-Mitglied Pastor Friedrich Lensch, nutzte die Gelegenheit, sich mit Zustimmung der Gesundheitsbehörde eines Teils der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, durch Abtransporte in andere Heil- und Pflegeanstalten zu entledigen. Mit einem dieser Transporte wurden am 16. August 1943 228 Frauen und Mädchen aus Alsterdorf sowie 72 Mädchen und Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") in Wien "verlegt". Unter ihnen befand sich Ingeborg Grammerstorf.

Bei ihrer Ankunft in Wien wog die vierzehnjährige Ingeborg 37 kg. Sie soll ruhig, jedoch völlig desorientiert gewesen sein. Im weiteren Jahresverlauf verhielt sie sich nach den Eintragungen in ihrer Krankenakte teilnahmslos und beschäftigte sich nicht.

Hertha Grammerstorf, Ingeborgs Mutter, die, vermutlich infolge der Bombenschäden, in Scharbeutz lebte, erhielt im März 1944 aus Wien die Mitteilung, dass sich ihre Tochter seit dem 17. August 1943 in der Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt befinde. "Im Zustand der Patientin ist keine wesentliche Änderung eingetreten und ist Besserung auch nicht zu erwarten. Sie ist über ihren Aufenthaltsort nicht orientiert und lebt in ihrem Denken noch in der Alsterdorfer Anstalt. Das Kind ist in letzter Zeit noch gewachsen, Asthmaanfälle konnten in letzter Zeit nicht mehr beobachtet werden. Anlass zu irgendwelchen Besorgnissen besteht nicht. Der ärztl. Direktor gez. Doz. Dr. Bertha"

Am 2. Mai 1944 füllten die Wiener Anstalten den "Meldebogen I" aus, mit dem die psychiatrischen Anstalten während der ersten Euthanasiephase von 1939 bis August 1941 wichtige Daten der Anstaltsinsassinnen und -insassen an die Euthanasiezentrale in Berlin, Tiergartenstraße 4, hatten melden müssen. Die Angaben auf diesen individuellen Meldebögen lieferten die Entscheidungsgrundlage dafür, ob Menschen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen in einer der sechs Gasmordanstalten des Deutschen Reiches getötet werden sollten. Über Ingeborg Grammerstorf wurde die Diagnose "Schwachsinn bei Hirnschädigung" eingetragen, zudem, dass sie arbeitsunfähig sei. Die Krankenakte gibt keinen Aufschluss darüber, welches Ziel mit diesem Meldebogen lange nach der zentralen Steuerung der Krankenmorde verfolgt wurde, ob er nach Berlin geschickt wurde, bzw. ob er auf Ingeborg Grammerstorfs weiteres Schicksal Einfluss hatte.

Am 1. September 1944 wurde über Ingeborg ausführlicher berichtet. Obwohl gewachsen, war ihr Gewicht auf 27 kg zurückgegangen. Sie spreche, hieß es, ohne ihrer flämischen Vergangenheit Rechnung zu tragen, schwer verständlich und nicht immer grammatikalisch richtig. Sie sei etwas ängstlich, kenne den Namen ihrer Eltern wie ihren Wohnort nicht. Auch die Zahl der Finger an einer Hand könne sich nicht angeben. An diesem Tag findet sich kein Eintrag über eine Beeinträchtigung ihres gesundheitlichen Zustandes. Demgegenüber schrieb die Anstalt am 7. September an den Vater: "Der Zustand ihrer Tochter G. I. hat sich in den letzten Monaten im Verlauf einer beiderseits tuberculösen Lungenerkrankung in körperlicher Beziehung stark verschlechtert, in geistiger Beziehung ist keine Änderung eingetreten. Die von Ihnen Ihrer Tochter zugeschickten Pakete sind hier eingetroffen und wurden dieser übergeben. Gez. Dr. Wunderer".

Walter Grammerstorf antwortete mit Schreiben vom 24. September, das am 13. Oktober in der Anstalt in Wien einging: "Ich gelangte dankend in den Besitz ihres Schreibens vom 7. ds. Mts., mit welchem Sie mich von der erschütternden Tatsache über den Gesundheitszustand meiner Tochter Ingeborg in Kenntnis setzen. Sie werden verstehen, dass mich die Nachricht von der Verschlechterung in Ingeborgs Zustand sehr mitnimmt, und wir Eltern haben nur noch den innigen Wunsch, unser Kind vor Leiden und Schmerzen behütet zu wissen. Ich bin überzeugt, dass sich mein Kind bei Ihnen in pflichtbewussten Händen befindet, und danke Ihnen für die Sorge, die Sie demselben angedeihen lassen. Bitte geben Sie mir weiterhin von Zeit zu Zeit Nachricht. Heil Hitler gez. Walter Grammerstorf

Ingeborg Grammerstorf starb am 19. Oktober 1944. Als Todesursache wurde vermerkt: Tbc Pneumonie.

Die Anstalt in Wien war während der ersten Phase der NS-"Euthanasie" vom Oktober 1939 bis August 1941 Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Schloss Hartheim bei Linz gewesen. Nach dem offiziellen Ende der Morde in den Tötungsanstalten wurde in bisherigen Zwischenanstalten, also auch in der Wiener Anstalt selbst, massenhaft weiter gemordet: durch Überdosierung von Medikamenten und Nichtbehandlung von Krankheit, vor allem aber durch Nahrungsentzug.

Bis Ende 1945 kamen von den 300 Mädchen und Frauen aus Hamburg 257 ums Leben, davon 196 aus Alsterdorf.

Stand: Mai 2024
© Ingo Wille

Quellen: Evangelische Stiftung Alsterdorf Archiv, Sonderakte V 259 (Ingeborg Grammerstorf). Peter von Rönn, Der Transport nach Wien, in: Peter von Rönn u.a., Wege in den Tod, Hamburgs Anstalt Langenhorn und die Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus, Hamburg 1993, S. 425 ff. Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 35, 283 ff., 331 ff.

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