Search for Names, Places and Biographies
Already layed Stumbling Stones
Suche
Hertha Groth * 1894
Hein-Hoyer-Straße 57 (Hamburg-Mitte, St. Pauli)
HIER WOHNTE
HERTHA GROTH
JG. 1894
EINGEWIESEN 1916
ALSTERDORFER ANSTALTEN
‚VERLEGT‘ 16.8.1943
‚HEILANSTALT‘
AM STEINHOF / WIEN
ERMORDET 10.12.43
Hertha Martha Anna Groth, geb. am 14.9.1894 in Hamburg, aufgenommen in den Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) am 22.8.1916, abtransportiert am 16.8.1943 nach Wien in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof"), dort gestorben am 10.12.1943
Hein-Hoyer-Straße 57, ehemals Wilhelminenstraße (St. Pauli)
Hertha Martha Anna (Rufname Hertha) Groth wurde am 14. September 1894 in der Silbersackstraße 26 in St. Pauli geboren. Ihre Mutter, Clara Luise Auguste Groth, geboren am 23. Oktober 1872 in dem heutigen Hamburger Stadtteil Nienstedten (damals ein Teil des Kreises Pinneberg), war als Plätterin (Büglerin) tätig. Der Vater von Hertha Groth ist nicht bekannt.
Ebenfalls in der Silbersackstraße kam am 30. Januar 1896 Hertha Groths Bruder Bruno Albert Paul zur Welt. Er starb schon am 23. Februar 1897. Der Bruder Edmund Rudolf Oskar wurde am 9. Februar 1901 in einer Kellerwohnung in der Thalstraße 1 (heute Talstraße, St. Pauli) geboren. Dort wohnte Hertha Groths Großmutter, die Witwe Auguste Maria Donde, die später in die Wilhelminenstraße 57 (heute Hein-Hoyer-Straße) wechselte.
Wahrscheinlich ermöglichte die Großmutter, indem sie die Betreuung der Kinder übernahm, ihrer Tochter Clara Luise Auguste Groth die Eröffnung eines Blumenhandels. Diese Berufsbezeichnung stand in der Heiratsurkunde, als sie am 27. Oktober 1908 den jüdischen Schauspieler Ephraim Abraham Löwenburg heiratete. Die Ehe wurde im März 1911 geschieden.
Die berufstätige Clara Luise Auguste Groth wohnte zusammen mit ihren beiden Kindern bei deren Großmutter in der Wilhelminenstraße 57, als diese am 5. September 1916 starb. Nun fehlte eine Aufsicht für Edmund Rudolf Oskar und Hertha Groth, die sich infolge körperlicher und geistiger Einschränkungen fortwährend in ärztlicher Behandlung befand. Durch einen Sturz aus dem Fenster hatte sich Hertha Groth einen Schädel- und einen Armbruch zugezogen. Ein Arm und ein Bein waren versteift. Der behandelnde Arzt, Gustav Marr, erreichte ihre Aufnahme in den Alsterdorfer Anstalten (heute Evangelische Stiftung Alsterdorf) mit folgender Begründung: "Die Aufnahme der Hertha Groth in die Alsterdorfer Anstalten ist wegen Schwachsinn erforderlich. Nähere Angaben: Schwachsinn seit der Geburt in Folge der Porencephalie. Gez. Dr. Marr, 11.8.1916."
(Der heute nicht mehr gebräuchliche Ausdruck "Schwachsinn" bezeichnete eine Intelligenzminderung bzw. angeborene Intelligenzschwäche. "Porenzephalie" bezeichnet eine nach bisherigem Kenntnisstand angeborene oder im Rahmen der Geburt erworbene, auf lokale Durchblutungsstörungen zurückzuführende Hirnmissbildung).
Ergänzend zu Gustav Marrs Diagnose wurde in den Alsterdorfer Anstalten eine spastische Parese (unvollständige Lähmung) der rechten Seite und Epilepsie festgestellt. Infolge der einseitigen Lähmung soll Hertha Groth gehumpelt haben. Sie soll unverständlich gesprochen und beim Ankleiden Hilfe benötigt haben, galt als zanksüchtig und war nicht arbeitsfähig. Nach Krampfanfällen mit Zuckungen in Armen und Beinen soll sie geschrien und Schaum vor dem Mund gehabt haben.
Die Berichte über Hertha Groth glichen sich im Laufe der Jahre. Immer wieder habe sie die Nahrungsaufnahme verweigert und andere "Kinder" geschlagen und gekratzt. (Der Begriff "Kinder" wurde damals generell für Bewohnerinnen und Bewohner unabhängig von ihrem Alter verwendet.) Nach Phasen, während derer sie trotzig gewesen sein, das Aufstehen und das Waschen sowie die Nahrungsaufnahme verweigert haben soll, wurde sie mehrmals dem Wachsaal zugewiesen, den sie erst nach mehreren Tagen wieder verlassen durfte.
(In "Wachsälen" wurden unruhige Kranke isoliert und mit Dauerbädern, Schlaf- sowie Fieberkuren behandelt. In den Alsterdorfer Anstalten wurden sie Ende der 1920er Jahre eingeführt. Im Laufe der 1930er Jahre wandelte sich deren Funktion: Nun wurden hier Patientinnen und Patienten vor allem ruhiggestellt, teils mit Medikamenten, teils mittels Fixierungen oder anderer Maßnahmen. Die Betroffenen empfanden dies oft als Strafe.)
Die vorletzte Eintragung in Hertha Groths Alsterdorfer Patientenakte datiert vom 17. Dezember 1942. Sie lautet: "Pat.[ientin] braucht Hilfe bei der Körperpflege. Sie ist sehr behindert durch die einseitige Lähmung. Sie ist sehr bockig und eigensinnig, täuscht Anfälle vor, schlägt, kratzt und kneift, wenn ihr etwas nicht passt. Sie beschäftigt sich gar nicht, führt aber gern das Kommando bei den Mitpat.[ientinnen], denen sie sich überlegen fühlt. Sie kann tagelang über Kleinigkeiten, die sie nicht verstanden hat, bockig und wütend sein. Im Essen ist sie mäßig."
Zuletzt notierte der Anstaltsarzt, SA-Mitglied Gerhard Kreyenberg am 16. August 1943, "Wegen schwerer Beschädigung der Anstalten durch Fliegerangriff verlegt nach Wien".
Während der schweren Luftangriffe auf Hamburg im Ende Juli/Anfang August 1943 ("Operation Gomorrha") erlitten auch die Alsterdorfer Anstalten Bombenschäden. Die Anstaltsleitung nutzte nach Rücksprache mit der Gesundheitsbehörde die Gelegenheit, einen Teil der Bewohnerinnen und Bewohner, die als "arbeitsschwach, pflegeaufwendig oder als besonders schwierig" galten, in andere Heil- und Pflegeanstalten zu verlegen. Am 16. August 1943 ging ein Transport mit 228 Frauen und Mädchen aus Alsterdorf sowie 72 Mädchen und Frauen aus der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn in die "Wagner von Jauregg-Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien" in Wien" (auch bekannt als Anstalt "Am Steinhof") ab. Unter ihnen befand sich Hertha Groth.
Bei der Aufnahme in der Wiener Anstalt wog Hertha Groth 39 kg. Am 1. Dezember war ihr Gewicht auf 34 kg zurückgegangen.
Am 3. Dezember 1943 wurde Hertha Groth in den Wachsaal gebracht. Sie soll teilnahmslos, desorientiert und pflegebedürftig gewesen sein. Sieben Tage später, am 10. Dezember 1943, wurde ihr Tod festgestellt.
Als Todesursache wurde Marasmus und Tuberkulose festgehalten. (Marasmus bedeutet fortschreitender Verfall der körperlichen und geistigen Kräfte u.a. durch Mangelernährung.)
Die Anstalt in Wien war während der ersten Phase der NS-"Euthanasie" vom Oktober 1939 bis August 1941 Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz. Nach dem offiziellen Ende der Morde in den Tötungsanstalten wurde in bisherigen Zwischenanstalten, so auch in der Wiener Anstalt selbst, massenhaft weiter gemordet: durch Überdosierung von Medikamenten und Nichtbehandlung von Krankheit, vor allem aber durch Nahrungsentzug.
Bis Ende 1945 kamen von den 300 Mädchen und Frauen aus Hamburg 257 ums Leben, davon 196 aus Alsterdorf.
© Ingo Wille
Quellen: StaH 332-5 Standesämter 2346 Geburtsregister Nr. 3377/1894 (Hertha Martha Anna Groth), 13557 Geburtsregister Nr. 467/1901 (Edmund Rudolf Oskar Groth), 2399 Geburtsregister Nr. 427/1896 (Bruno Albert Paul Groth), 5982 Heiratsregister Nr. 1188/1908 (Abraham Löwenburg/Clara Luise Auguste Groth), 3342 Heiratsregister Nr. 390/1919 (Gustav Rudolf Friedrich Hess/Clara Luise Auguste Groth), 212 Sterberegister Nr. 319/1897 (Bruno Albert Paul Groth), 749 Sterberegister Nr. 781/1916 (Auguste Maria Donde); Evangelische Stiftung Alsterdorf Archiv, Sonderakte V 336 (Hertha Groth). Michael Wunder, Ingrid Genkel, Harald Jenner, Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr – Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart 2016, S. 331 ff.