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Charles Ernest Halle´ * 1879
Eichenstraße 46 (Eimsbüttel, Eimsbüttel)
HIER WOHNTE
CHARLES ERNEST
HALLE´
JG. 1879
"SCHUTZHAFT" 1938
KZ FUHLSBÜTTEL
DEPORTIERT 1942
RIGA
ERMORDET 22.10.1942
Weitere Stolpersteine in Eichenstraße 46:
Charlotte von Halle
Charles Ernest Hallè, geb. 20.1.1879 in Paris, ermordet in Riga, auf den 31.12.1944 für tot erklärt
Eichenstraße 46 (Eimsbüttel)
Charles Ernest Hallè wurde am 20.1.1879 in Paris geboren. Er stammte aus einer jüdischen Frankfurter Familie, wuchs aber zunächst in der französischen Hauptstadt auf. Er schloss später ein Studium zum Bauingenieur mit dem Titel Diplom Ingenieur ab. Er heiratete am 3. Juni 1909 in Hamburg-Alt-Rahlstedt die Tochter einer angesehenen Hamburger Lehrerfamilie, die nichtjüdische Lehrerin Georgine Adolphine Thomsen. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor.
Charles Ernest Hallè war sehr musikalisch; er spielte Geige und Bratsche, die Kinder erlernten das Geige- und Klavierspielen, und sie musizierten viel gemeinsam. Der Vater war in Frankreich christlich getauft worden, und seine Kindern erinnern keine Zeichen der Verbundenheit mit dem Judentum. Nach Erinnerungen seines Sohnes Klaus hatte er Spaß daran, Juden als "Juden" zu karikieren. Er fühlte sich trotz seiner französischen Erziehung als Deutscher.
Die Familie wohnte in den Jahren 1925 bis 1931 in der Eichenstrasse 46.
1932 wurde die Ehe geschieden. Für dieses Jahr findet sich einmalig ein Eintrag im Hamburger Telefonbuch für Karl Halle, Dipl. Ing. in der Bundesstrasse 86. Die deutsche Schreibweise seines Namens zeigten auch schon die Einträge in den Jahren davor. Charles Hallè arbeitete in Hamburg in leitender Stellung für verschiedenen Baufirmen: zuletzt bis 1932 für die Firma Julius Berger Tiefbau AG und ab 1932 für Fa. Robert Kieserling Hoch- Tief- und Stahlbetonbau, bei der er bis Oktober 1938 als freier Mitarbeiter tätig war. Nach 1938 durfte er in seinem Beruf nicht mehr arbeiten.
In Zuge des Novemberpogroms 1938 wurde Charles Hallè ins Konzentrationslager Fuhlsbüttel eingeliefert und schwer misshandelt. Er wurde entlassen mit der Auflage, über die erfahrene Behandlung zu schweigen. Vermutlich wurde auch ihm nahegelegt, einen Ausreiseantrag zu stellen. Sohn Klaus wollte mit seinem Vater zusammen auswandern, auf legale Weise.
Tatsächlich erklärte der Vater am 19. Juni 1939 gegenüber dem 23. Kriminalkommissariat in Hamburg offiziell seine Absicht zur Auswanderung nach Frankreich. Es finden sich Akten zur Auswanderung ab dem 3. Juli 1939 einschließlich detaillierter Listen der mitzunehmenden Gegenstände, darunter eine Geige und eine Bratsche, deren Wert extra geschätzt werden musste. In den Unterlagen findet sich auch ein Schreiben des französischen Konsulats in Hamburg vom 20. Juli 1939 mit der Bestätigung der Erlaubnis zur Einreise nach Frankreich. Mit Datum vom 24. August 1939 lag die Genehmigung zur Mitnahme der gelisteten Gegenstände vor. Zur Ausreise kam es letztlich nicht, sehr wahrscheinlich wegen des Kriegsbeginns.
Da Charles seit 1938 nicht mehr in seinem Beruf arbeiten durfte, wurde die wirtschaftliche Situation zunehmend schwierig. Zum Zeitpunkt des Auswanderungsantrags bewohnte er nur noch ein Zimmer in der Petkumstraße 3 (bei Fischer). Um seine Lebens- und Wohnsituation zu verbessern, drängte ihn seine Tochter Lotte, eine gute Freundin in Berlin zu heiraten. Da diese Freundin, Edith Clavier (geb. 15.8.1891), ebenfalls Jüdin war stand einer Heirat auch unter den NS Rassengesetzen nichts im Weg. Die Hochzeit fand am 24. August 1939 in Hamburg statt. Das Paar wohnte anschließend in Berlin in der Wohnung von Edith.
Solange der Vater Frontbriefe des Sohnes (s.u.) vorzeigen konnte, blieb er von der Deportation verschont. Mit dem Ausbleiben der Briefe folgte am 19. Oktober 1942 die Deportation von Charles und Edith Hallè mit dem 21. Osttransport nach Riga. Als letzter Wohnort wird die Adresse "Am Rupenhorn 12/14 in Berlin Charlottenburg" angegeben. Über diesen speziellen Transport findet sich im Buch der Erinnerungen der Hinweis, dass bis auf 81 Männer alle 959 Personen sofort bei Ankunft in Riga erschossen wurden. Entsprechend wurde dort als Todestag von Edith Hallè auch der Tag der Ankunft, also der 22. Oktober 1942 angegeben. Ob Charles zu den 81 zunächst verschonten gehört, ist unklar, allerdings unwahrscheinlich; es wurden gezielt Handwerker für Bauarbeiten selektiert, doch er war zu diesem Zeitpunkt bereits 63 Jahre alt, körperlich geschwächt durch schwere Arbeiten als Hilfsarbeiter im Flugplatzbau - und er hat sich vermutlich nicht von seiner Frau trennen wollen. Er wurde im Jahr 1949 offiziell für tot erklärt mit dem fiktiven Todesdatum 31.12.1944.
Zum Schicksal von Charles Hallés Kindern:
Der älteste Sohn von Charles Hallé, Günther, starb am 27.5.1929 im Alter von 19 Jahren; er ertrank beim Faltbootfahren (Sein Bruder äußert den Verdacht auf Suizid wegen "Judensachen"). Am 1.7.1913 wurde Klaus Jürgen geboren, am 15.7.1915 die Zwillingsschwestern Lotte und Lore.
Der zweitgeborene Sohn Klaus war musikalisch überdurchschnittlich begabt. Er verfügte über das absolute Gehör und studierte später Musik mit dem Berufsziel Konzertpianist. Klaus erfuhr erst spät durch den Vater von dessen jüdischer Abstammung, er hatte dies allerdings zuvor von seinem älteren Bruder gehört. Klaus besuchte zwischen 1926 und 1932 das Wilhelm Gymnasium in Hamburg, welches er mit dem Abitur abschloss. Er ging in die gleiche Klasse wie Heinz Temming, der Vater des Berichtschreibers. Heinz und Klaus verband eine lebenslange Freundschaft, die alle Schwierigkeiten überdauerte. Der Berichtsschreiber lernte daher Klaus Hallè als Freund der Familie kennen (von 1955 bis 1979). Klaus begann in 1932 das Studium der Musik in Berlin, musste dies jedoch aufgrund seiner Abstammung (nach den NS-Kategorien galt er als "Mischling ersten Grades") dort bereits 1933 wieder beenden. Er setzte sein Studium in Köln fort und beendete es in 1936 mit der Gesamtnote "Sehr gut". In der Folgezeit durfte er allerdings in dem erlernten Fach nicht arbeiten oder öffentlich in Konzerten auftreten. In den Jahren 1937 und 1938 nahm er an Militärdienstübungen teil. Er wollte ein weiteres Studium der Musikwissenschaft aufnehmen, was ihm aufgrund seiner Abstammung ebenfalls verweigert wurde. Bis 1939 unterstützte sein Vater ihn finanziell. 1940 wurde Klaus zur Wehrmacht eingezogen und in Frankreich, Serbien und Russland eingesetzt. Ein tragisches Foto zeigt den Sohn zusammen mit Verwandten in Paris; Klaus in der Uniform der deutschen Wehrmacht: Der Vater konnte nicht in sein Geburtsland Frankreich auswandern, der Sohn wurde dort zum Besatzungssoldaten. 1942 wurde Klaus – wiederum aufgrund seiner Abstammung – als "wehrunwürdig" aus der Wehrmacht entlassen.
Zwischen 1942 und 1945 arbeitete Klaus als Dreher in einem Rüstungsbetrieb. Wenn unbeobachtet, drehte er - als Zeichen des stillen Widerstands - aus Messing Schachfiguren. Als ihm der Chef in anderer Sache drohte, ihn bei der Gestapo anzuzeigen, tauchte er für drei Monate bis Kriegsende unter. In dieser Zeit fuhr er mit dem Fahrrad in Norddeutschland umher und wurde von Freunden versorgt. Nach dem Krieg baute er in Eigenleistung eine Notbehausung und begann wieder mit dem Klavierspiel. Er wurde 1946 als Verfolgter anerkannt; die Prozesse über die Art und Höhe seiner Entschädigung dauerten jedoch bis ins Jahr 1972. In den ersten zehn Nachkriegsjahren konnte er oft nur schlecht bezahlte Nebenjobs finden, u.a. als Musikkritiker für die Welt sowie als privater Klavierlehrer. Zeitweise war er arbeitslos. Zwischen 1956 und 1960 arbeitete er als Musiklehrer im Internat in Luisenlund; seit 1960 dann als Nebenfachlehrer für Klavier an der Musikhochschule Hamburg. Von den zermürbenden Entschädigungsprozessen enttäuscht wanderte er nach seiner Pensionierung nach Südfrankreich aus.
Die Töchter Lotte und Lore besuchten die Realschule und begannen eine Ausbildung als Kinderkrankenschwester und Dekorateurin. Beide Töchter durften aber nicht ihre angestrebten Ausbildungen beenden oder in diesen Berufen arbeiten. Lore Hallè arbeitete während des Krieges in Schlesien in einer Munitionsfabrik, lernte noch während des Krieges ihren zukünftigen Mann kennen, den sie allerdings erst nach Kriegsende heiraten durfte ("Mischlinge ersten Grades", und als solche galt auch sie, benötigten eine Ehegenehmigung für die Heirat mit einem "Deutschblütigen", die fast nie erteilt wurde). Beide wanderten nach Venezuela aus.
Lotte Hallè arbeitete nach dem erzwungenen Abbruch ihrer Ausbildung zunächst als Kindermädchen, später im Kontor der Hamburger Kranken- und Sterbekasse von 1876. Sie heiratete in 1942 einen dänischen Staatsbürger aus Angst vor einer weiteren Verschärfung der Situation der "Halbjuden" in Deutschland und wanderte nach Dänemark aus. Sie hatte die jüdische Abstammung verschwiegen und angesichts der Kriegszerstörungen war dies nicht entdeckt worden.
Doch die Ehe verlief unglücklich, der Mann trank und war gewalttätig. Zudem erpresste er sie um Geld mit dem Wissen um ihre Falschaussage. Bei einem Besuch in Dänemark in 1944 erlitt ihre Mutter angesichts der dramatischen Verhältnisse einen Schlaganfall und starb. Noch vor Kriegsende tauchte Lotte mit ihrem kleinen Sohn aus dieser Ehe in Dänemark unter. Die Ehe wurde 1946 geschieden. In den Nachkriegsjahren versuchte sie für das erlittene Leid und die daraus resultierenden seelischen Schäden eine angemessene Entschädigung als Verfolgungsopfer zu erreichen.
Die deutschen Behörden erwiesen sich allerdings – gestützt auf Gutachten deutscher Ärzte - als äußerst unwillig. In ihrer Verzweiflung schrieb sie im Juli 1962 direkt an den Bundeskanzler Adenauer und später einen langen Bericht an die dänische Tageszeitung Politiken, der im Oktober 1962 vollständig abgedruckt wurde. Der Bericht löste eine umfassende Reaktion der deutschen Botschaft in Kopenhagen aus, die um die Ruf der jungen Bundesrepublik in Dänemark fürchtete. In dem Schreiben der Botschaft wurde Verständnis für das Anliegen geäußert, nicht zuletzt weil die Gutachten der dänischen Ärzte die Sicht der Tochter wesentlich klarer stützten als diejenigen der deutschen Kollegen. Beide Briefe hatten jedoch letztlich nicht zu einer Neuverhandlung der geringen Entschädigungshöhe geführt.
Stand: April 2022
© Axel Temming
Quellen: StaH 351-11_4306 Lotte Hallé; 351-11_4308 Lore Schön (geb. Hallé); 213-13_446; 314-15 FVg 5940; div. Hamburger Adressbücher; Schularchiv Wilhelmgymnasium, Schülerakte Klaus Hallé; persönliche Mitteilungen von Klaus Hallé.